01. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Eingeklemmt zwischen Ackerland und Schienen“ · Kategorien: Balkanroute, Griechenland, Mazedonien · Tags: , ,

Quelle: Zeit Online

Trotz Hungerstreiks und zugenähten Lippen: Mazedoniens Grenzer zeigen kein Erbarmen. Sie lassen nur noch Kriegsflüchtlinge weiter. Alle anderen sitzen in Idomeni fest.

Von Thomas Roser, Idomeni

Auf den Schienen im nordgriechischen Ort Idomeni kauernd, kann Khardga Magal sein Pech noch immer kaum fassen. Zwei Jahre arbeitete der Elektriker aus Udayapir in Nepal im irakischen Kirkuk, als er sich Mitte Oktober zum überhasteten Aufbruch aus der umkämpften Stadt entschied: „Die Bombardierungen und Explosionen waren kaum mehr zu ertragen. Ich wollte einfach weg.“

Auf der kostspieligen und gefährlichen Schlauchbootüberfahrt von der Türkei nach Griechenland kamen dem Nepali seine Papiere abhanden. Und als er vor 15 Tagen endlich die griechisch-mazedonische Grenze erreichte, kam er wenige Stunden zu spät: „Sie sagten mir, dass sie nur noch Afghanen, Iraker und Syrer durchlassen.“ Die kurz vor ihm gereisten Freunde hätten ihm mittlerweile Mails aus Deutschland und Norwegen geschickt, sagt Khardga: „Sie schreiben, dass es ihnen gut geht. Und ich hänge hier fest.“

Zumindest regnet es nicht mehr. Unablässig tuckern die Stromgeneratoren der Imbissbuden, vor denen sich die Neuankömmlinge aus den über den Bahndamm rumpelnden Bussen drängeln. Ausdruckslos beobachten ihre Leidensgenossen vor ihren Iglu-Zelten im Schotterbett der Bahngleise die eilig in den mazedonischen Norden ziehenden Flüchtlingsgruppen: Für die unfreiwilligen Camper von Idomeni ist die nur wenige Meter entfernte Grenze schon seit über zwei Wochen fest verschlossen.

Auf Druck der EU versuchen die Transitstaaten auf der sogenannten Balkanroute seit Mitte November, den Flüchtlingsandrang zu reduzieren. Wie Slowenien, Kroatien und Serbien lässt auch Mazedonien seitdem nur noch Kriegsflüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und Syrien offiziell über seine Grenzen passieren. Migranten anderer Nationen hat die Regierung in Skopje mit stillschweigender Zustimmung Brüssels pauschal zu Wirtschaftsflüchtlingen erklärt.

Mit der „eigenwilligen Sortierung“ der Flüchtlinge verstoße Mazedonien „gegen die Prinzipien der EU“, erbost sich der griechische Zivilschutzminister Niskos Toskas. Ob Eritrea, Pakistan oder Somalia: Tatsächlich steht kaum ein Land, dessen Bürger in Idemoni die Weiterreise verweigert wird, auf irgendeiner EU-Liste von als sicher deklarierten Herkunftsstaaten.

Auch Jasmin Redzepi von der Hilfsorganisation Legis in Skopje ist von der Teilsperrung der Grenze keineswegs begeistert. Diese bringe nur die Schlepper zurück ins Geschäft, sagt er und verweist auf 40 Flüchtlinge, die zu Wochenbeginn im mazedonischen Dorf Vaksince nahe der serbischen Grenze festgesetzt wurden: „Grenzschließungen halten keine Flüchtlinge auf, sondern sorgen nur dafür, dass sie andere Wege und Routen suchen.“

Die neuen Hürden hätten keineswegs die Transit-, sondern die Zielstaaten „im Norden“ beschlossen, ist er überzeugt: „Mazedonien ist nur der letzte Stein im Domino der Grenzschließungen. Es ist absurd, ein Nicht-EU-Mitglied für eine EU-Entscheidung verantwortlich zu machen.“

Fragen beantwortet Jalal mit einer Gegenfrage: „Wann werden sie uns endlich durchlassen?“ Vor 24 Jahren habe er im Zweiten Golfkrieg für das Rote Kreuz im Irak noch als Dolmetscher gearbeitet, berichtet der 54-jährige Iraner. Doch nun sind der Mann aus Abadan und sein Neffe selbst ins Räderwerk der Politik geraten: „Sie sagen, in Syrien und im Irak ist Krieg, bei euch nicht. Was denken sie, dass wir Terroristen sind?“ Im Iran gebe „es keine Luft zu atmen“, sagt Jalal: „Wir wollen von denen nichts, nur durchreisen zu den Verwandten in Holland.“ Wie es weitergehen solle? Er zuckt mutlos mit den Schultern: „Wir haben noch 150 Euro – mehr nicht.“

Der Frust wächst

„Macht die Grenze auf!“ fordert ein mehrsprachiges Plakat auf einem Iglu-Zelt. Doch ob Steinwürfe, Hungerstreik oder zugenähte Lippen – bislang zeigen Mazedoniens Grenzer kein Erbarmen. Im Gegenteil: Am Wochenende wurde mit der Absicherung des Grenzübergangs mit einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun begonnen.

Von „wachsender Frustration und Spannungen“ berichtet in ihrem Container-Büro Massoumeh Farman, Mitarbeiterin des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR: „Die Leute verweisen darauf, dass jeder ein Recht habe, Asyl zu beantragen – und fühlen sich aufgrund ihrer Nationalität diskriminiert.“ Zudem sei der Grenzübergang keineswegs für einen längeren Verbleib konzipiert: „Normalerweise kommen und gehen die Leute an einem Tag. Wir sind hier zwischen Ackerland und Schienen eingeklemmt: Selbst unsere Fläche ist begrenzt.“

Die letzten 15, meist eiskalten Nächte haben den Englisch-Studenten Mohammed sichtbar gezeichnet. Ohne seine Freunde wäre er „wahrscheinlich gestorben“, sagt der 22-jährige Marokkaner aus Casablanca. Schlecht, teuer und sehr gefährlich sei der Weg gewesen, der ihn in die scheinbar aussichtslose Sackgasse von Idomeni führte.

Alleine die Bootspassage von der Türkei nach Griechenland habe 1.000 Euro, der Flug von Casablanca nach Istanbul 500 Euro gekostet, rechnet er vor: „Die ganze Familie hat sich für meine Reise verschuldet. Wir hofften, dass ich in Deutschland arbeiten und das Geld zurückzahlen werde.“ Eine Rückkehr in die Heimat ist für ihn keine Option: „Sie sagen, bei den Syrern ist Krieg. Aber in einem Land, wo es wie bei uns kein Leben, keine Jobs und keine Hoffnung gibt, ist jeder Tag ein Krieg: Wenn ich mit leeren Händen zurückkehren sollte, wäre es eine Katastrophe.“

Sein Landsmann Yassine vermutet, dass die Anschläge von Paris der Grund für die „Blockade“ seien: „Aber glauben Sie mir, für den ‚Islamischen Staat‘ verspürt kaum ein Muslim Sympathie. Der hat mit der Realität unseres Glaubens nichts zu tun.“ In Marokkos Filmhochburg Quarzazate war er lange Kulissen-Dekorateur. Doch seit Beginn der Weltwirtschaftskrise und als Folge des Arabischen Frühlings schlagen die internationalen Regisseure einen Bogen um die Wüstenstadt. Für Jobs müsse man inzwischen selbst bezahlen, sagt Yassine. Er wolle zu seinen Schwestern in die Niederlande – und kehre sicher nicht mehr zurück: „Ich opfere mich für die Familie, aber sicher nicht für mein Land auf: Denn das hat mir noch nie etwas gegeben.“

Teilsperrung als Test

Seine drei Kinder weinen und Hassan sitzt ratlos vor seinem Iglu-Zelt. „Kalt ist es und wir sind schon neun Tage hier“, sagt der 30-jährige Familienvater aus dem libanesischen Tripoli. Als Koch werde er keinerlei Probleme haben, in Deutschland oder den Niederlanden Arbeit zu finden, ist er überzeugt: „Ob Taboulé, Hummus oder Fleisch vom Grill: Ich kann alles – und die libanesische Küche ist die beste der Welt.“ Doch vom erträumten neuen Herd in Westeuropa scheint Hassan vorläufig Lichtjahre entfernt. Alle seine Freunde hätten zuvor problemlos die Grenze passiert, sagt er mit einem Kopfschütteln: „Ich verstehe das nicht. Glaubst du, dass sie sie heute wieder aufmachen?“

Von Politikern und Medien in Deutschland und Österreich werden die in den vergangenen Tagen kräftig gesunkenen Flüchtlingszahlen hoffnungsfroh auch als Folge der vermehrten Barrieren auf der Balkanroute interpretiert. Doch die schreibt Jasmin Redzepi eher den Stürmen in der Ägäis und den verstärkten Überwachungsanstrengungen des türkischen Küstenschutzes als der Teilsperrung der Grenze zu.

Dass in 15 Tagen insgesamt nur 3.000 Flüchtlingen die Einreise verweigert worden sei, zeugt seiner Meinung nach davon, dass der Anteil der Wirtschaftsflüchtlinge auf der Balkanroute ohnehin eher klein sei. Die Teilsperre diene weniger der Reduzierung der Flüchtlingszahlen denn als „Test“ für deren mögliche Ausweitung, ist der Mazedonier überzeugt: „Als Nächstes könnte es die Afghanen treffen.“

Es gibt keinen Weg zurück

Mindestens 70 bis 80 Prozent der Flüchtlinge können die Grenze wie bisher passieren, berichtet UNHCR-Mitarbeiterin Farman, die die Zahl der Zwangscamper in Idomeni auf 1.500 bis 2.000 schätzt. Einige seien wieder nach Athen zurückgekehrt, um die Möglichkeit anderer Routen, eines Asylantrags in Griechenland oder einer Repatriierung auszuloten. Ein Problem sei, dass viele der Abgelehnten gar nicht in ihre Heimat zurückkehren könnten, aber in Griechenland nur eine Aufenthaltsgenehmigung für 30 Tage hätten: „Was mit ihnen passieren soll, wissen wir nicht. Nur, dass sie dann illegal im Land sind.“

Die Sonne scheint, aber bald werden in Idomeni wieder kalte Wintertage folgen. Was er dann machen wolle? Der Nepali Khardga zuckt die Schultern. Steine werfe er keine und er werde auch nur dorthin gehen, wohin er legal einreisen und arbeiten könne: „Wir Nepali rennen nicht illegal über Grenzen, das ist nicht unsere Art.“ Die Heimat fehle ihm, doch in Nepal seien seit dem Erdbeben noch immer viele Häuser zerstört: „Wie soll ich nach Nepal gehen, wenn ich nichts habe und es dort nichts gibt?“

Der Iraner Jalal erwägt, das Angebot eines Gratis-Busses zurück nach Athen wahrzunehmen: „Hier blockieren sie uns. Und vielleicht kommen wir von dort aus leichter weiter.“ Einen Weg zurück gebe es für ihn nicht, „niemals“, beteuert trotzig der Marokkaner Mohammed: „Ich hoffe, dass die Grenze aufgeht. Und wenn nicht, bleiben wir eben hier. Selbst wenn wir sterben müssen.“

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