30. November 2015 · Kommentare deaktiviert für Nato: Südstrategie Nordafrika · Kategorien: Mittelmeer · Tags:

Quelle: junge welt

Russland immer im Blick

Von Jörg Kronauer

Kurz vor dem Treffen der NA TO-Außenminister an diesem Dienstag und Mittwoch in Brüssel erreichte die Debatte um eine Kurskorrektur bei der NATO die Stars and Stripes. »Seit fast zwei Jahren konzentriert das US-geführte NATO-Bündnis seine Aktivitäten auf seine östliche Flanke«, stellte die offiziöse Zeitung der US-Streitkräfte fest. So gebe es mittlerweile etwa »eine verstärkte NATO-Präsenz in Polen und den baltischen Staaten«. Gleichzeitig zeige sich aber, dass »die südliche Flanke der NATO« – das nördliche Afrika und der Nahe Osten – »verwundbarer« sei denn je. Mit dem Aufstieg des »Islamischen Staats« (IS) und mit diversen »Bedrohungen in Afrika« sei die Lage dort immer schwieriger geworden. Kein Zweifel: Das Kriegsbündnis werde sich in Zukunft stärker den Konflikten im Süden zuwenden müssen. Dort existierten »unregierte Räume«, zitierten die Stripes den Supreme Allied Commander Europe (SACEUR), Luftwaffengeneral Philip M. Breedlove. In Syrien, »gleich südlich eines unserer großartigen Verbündeten, der Türkei«, sei sogar »ein großes Schlachtfeld« entstanden. Es gebe im Süden also für die NATO eine ganze Menge zu tun.

Seit einiger Zeit wird über neue NATO-Aktivitäten in den Ländern Nord­afrikas sowie des Nahen und Mittleren Ostens auch öffentlich diskutiert. Nicht nur, weil die Konflikte dort immer weiter eskalieren und immer mehr Länder in den Abgrund reißen. In der vergangenen Woche äußerte sich ein französischer Regierungsvertreter zu den politischen Hintergründen. Es sei symptomatisch, erläuterte der Mann gegenüber dem Wall Street Journal, dass Frankreichs Regierung sich nach den Terroranschlägen von Paris nicht an das westliche Kriegsbündnis gewandt, sondern die Beistandsklausel der EU aktiviert habe. »Es sagt etwas darüber aus, wo die NATO steht, dass sie kein entscheidendes Werkzeug zur kollektiven Verteidigung gegen den Terrorismus oder auch nur zum Krisenmanagement oder für Luftschläge gegen den IS ist.« Wohl noch wichtiger ist ein weiterer Faktor: Seit die russischen Streitkräfte im Syrien-Krieg mitmischen, hat sich aus Sicht der NATO der Machtkampf gegen Russland ausgeweitet. Er findet nun nicht mehr nur in Osteuropa, sondern ungeachtet aller aktuellen Kooperationsangebote auch im Nahen Osten statt.

Die NATO nimmt das sehr ernst – umso mehr, als Russland seine Stellung in der Region schon seit geraumer Zeit ausbaut. 2013 begann es, im Zuge seiner militärischen Konsolidierung ein ständiges Marinegeschwader für das Mittelmeer aufzustellen. Im Februar 2015 einigten sich dann Moskau und Nikosia auf ein Abkommen, das russischen Kriegsschiffen Zugang zu zypriotischen Häfen eröffnet. Hinzu kommt neben der alten Marinebasis im syrischen Tartus nun der neue Luftwaffenstützpunkt Hamaimim südlich von Latakia. Ihn hat die Russische Föderation jetzt mit hochmodernen Flugabwehrsystemen vom Typ S-400 bestückt. 2014 und 2015 haben im Mittelmeer sogar erstmals russisch-chinesische Manöver stattgefunden. Bereits Anfang 2014 hatte der deutsche Marineexperte Klaus Mommsen geurteilt, das Mittelmeer spiele »in der russischen Außenpolitik eine große Rolle«: »Die Russen wollen dieses Gebiet nicht der US-amerikanischen Navy überlassen«. Ende 2015 ist klar, Mommsen hat mit dieser Einschätzung recht gehabt.

Die NATO reagiert darauf. Ende Oktober ließen sich NATO-Kreise in der Financial Times mit den Worten zitieren, das östliche Mittelmeer sei »wieder ein umstrittener Raum«. Die russische Präsenz könne sich auf die Machtprojektion von US-Kriegsschiffen in Richtung Persischer Golf auswirken. Zudem befinde sich nun ganz Europa zumindest theoretisch in Reichweite russischer Raketen. Eine Entscheidung für einen Krieg wie denjenigen gegen Libyen im Jahr 2011 könne heute nicht mehr ohne weiteres gefällt werden. Man müsse sich »über die weiteren Konsequenzen der russischen Militärpräsenz in Syrien und im östlichen Mittelmeer Gedanken machen«, erklärte Ende Oktober der stellvertretende NATO-Generalsekretär Alexander Vershbow: Russland werde vermutlich »auf lange Zeit ein Faktor« in der Region sein. Auch ein Experte vom Londoner Thinktank »Royal United Services Institute« kam zu dem Schluss: »Das ist wirklich eine grundlegende Verschiebung in der russischen Stellung, die dauerhaft sein wird.«

Anfang November lancierten NATO-Funktionäre nun erste Informationen zu Grundzügen einer neuen »Südstrategie« des Kriegsbündnisses an die Öffentlichkeit. Man plane nach all den Aktivitäten im Osten jetzt ein »Kontinuum der Abschreckung« im Süden, berichtete Generalleutnant Ad ri an Bradshaw, Deputy Supreme Allied Commander Europe, der Financial Times. Zunächst sollten in Kürze fünf Global-Hawk-Drohnen auf Sizi­lien stationiert werden. Auch in Zukunft müsse man »bereit sein, große Kampfverbände« in die Region abzukommandieren, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg; doch reiche das nicht aus. Vor allem gehe es darum, die Militärbeziehungen zu Staaten der Re­gion auszubauen, um die Verbündeten vor Ort zu stärken: Die NATO werde »mit Trainings-, Hilfs- und Beratungsmissionen Partnern helfen, ihre Länder zu stabilisieren« – etwa so wie in Afghanistan. Das Kriegsbündnis habe »Berater« in den Irak, nach Jordanien und nach Tunesien entsandt, erläuterte Stoltenberg. Und man denke darüber nach, weitere nach Libyen zu schicken. Mit anderen Worten beschrieb unlängst Karl-Heinz Kamp, Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS), das Konzept. Es gehe darum, »von den Partnern Unterstützung etwa im Krisenmanagement zu erhalten und im Gegenzug durch Training oder Ausrüstungshilfe die Partnerstaaten zu effizientem Handeln zu befähigen«.

Stoltenberg zufolge wird auf dem NATO-Außenministertreffen jetzt ein erster Bericht für die neue »Südstrategie« vorgelegt. Man wird abwarten müssen, ob sich Bündnisländer querstellen: Neun Mitgliedsstaaten Ost- und Südosteuropas haben nach einem Treffen am 4. November in Bukarest bekräftigt, sie wollten sich weiterhin dafür einsetzen, »die östliche Flanke der NATO zu stärken«. Aber die »anhaltende Solidarität mit unseren Verbündeten in Südeuropa« fand lediglich ganz unverbindlich in der Präambel der Abschlusserklärung Raum. Die südlichen NATO-Mitglieder hingegen fordern schon seit einiger Zeit die Abkehr von der starken Fokussierung auf Osteuropa. Die russischen Operationen in Syrien machen die »Südstrategie« nun auch für die großen NATO-Mächte interessant.

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