29. November 2015 · Kommentare deaktiviert für Drei Brüder auf der Flucht: „Jeder Meter ist ein Kampf“ · Kategorien: Balkanroute · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Aufgezeichnet von Maximilian Popp und Charlotte Schmitz

Vor zwei Jahren flüchteten Mohammed, Alaa und Mustafa Moazen aus Syrien nach Istanbul. Von dort ging es in 36 Tagen nach Deutschland. 4200 Kilometer legten sie zurück. Protokoll einer lebensgefährlichen Reise.

Ein Asylbewerberheim in Sachsen: Frauen und Männer drängeln sich in den Gängen des schmucklosen Betonbaus, Kinder schreien. Mohammed Moazen, 27, sitzt auf einer Bank im Hof. Er trägt ein Shirt, Brille. Er spricht Englisch.

Moazen hat in Damaskus Wirtschaft studiert und als Buchhalter für ein Unternehmen gearbeitet. Als er vom Regime des syrischen Diktators Baschar al Assad zum Militärdienst eingezogen werden sollte, entschied er sich davonzulaufen.

Im Juni 2013 floh Moazen über den Libanon in die Türkei, später über Griechenland und den Balkan weiter nach Deutschland – gemeinsam mit seinen Brüdern Alaa, 16, und Mustafa, 18.

Die drei leben nun in dem Flüchtlingsheim in Sachsen. Seit Monaten machen in Sachsen Rassisten Stimmung gegen Flüchtlinge. Moazen zuckt die Schultern. „Glaub mir, ich habe schon Schlimmeres erlebt“, sagt er.

Tag 1 – Resignation

Seit 16 Monaten war ich nicht mehr zu Hause. Ich kann nicht zurück. In meiner Heimatstadt Damaskus fallen Bomben. Meine Eltern sind noch dort. Sie haben mehr Angst vor der Flucht über das Meer als vor dem Krieg.

Ich sitze in Istanbul und hoffe auf Frieden und darauf, dass ich mein altes Leben zurückbekomme. Doch ich glaube nicht mehr an ein schnelles Ende des Krieges.

Ich arbeite 14 Stunden am Tag in einem Restaurant, doch zum Leben reicht das nicht. Meine Freunde sind mithilfe von Schleppern nach Europa geflohen. Ich habe lange gezögert. Meine Brüder Alaa und Mustafa wohnen bei mir. Was sollen wir tun? In Istanbul verelenden? In der Türkei gibt es für uns keine Zukunft.

Tag 2 bis 3 – Plan

Im Stadtteil Aksaray stehen die Menschenschlepper an jeder Ecke. Die meisten sind selbst Flüchtlinge aus Syrien. Jetzt arbeiten sie für die türkische Mafia.

Meine Freunde, die es bis nach Deutschland geschafft haben, haben mir die Nummer von Kobra geschickt, einem Schlepper. Sie sagen, er sei zuverlässig. Ich rufe ihn an.

Kobra sagt, wir sollen nach Izmir an die Küste kommen. Von dort will er uns für 3000 Dollar in einem Schlauchboot auf eine griechische Insel bringen.

Für das Geld könnten wir uns in ein Flugzeug nach Deutschland setzen. Aber Europa lässt uns nicht legal einreisen.

Tag 4 – Aufbruch

Izmir ist voller Flüchtlinge. Wir schlafen mit Hunderten Syrern, Irakern, Afghanen in der Moschee im Bahnhofsviertel Basmane. Die Menschen liegen auf Teppichen, im Eingang, im Garten.

Kobra hat mir eine Büroadresse gegeben. Dort soll ich das Geld abgeben.

Es ist eine unheimliche Situation: Acht Männer warten in dem Raum. Und ich lege unsere 3000 Dollar auf den Tisch. Fast unsere gesamten Ersparnisse.

Ich bekomme einen Zettel mit einem Zahlencode. Den Code soll ich meinem Schlepper verraten, sobald wir Griechenland erreichen. Das soll so eine Art Versicherung für uns sein.

Ich habe Angst. Aber die darf ich meinen Brüdern nicht zeigen.

Tag 5 bis 7 – Aussitzen

Die Schmuggler schicken uns in ein Motel in Bodrum. Wir zahlen 150 Euro pro Nacht. Dafür bekommen wir kein Zimmer, sondern einen Plastikstuhl im Hof.

Ich kann nicht schlafen. Ich fürchte, von anderen Flüchtlingen ausgeraubt zu werden.

Tag 8 – Stillstand

Wir warten schon seit drei Tagen. Jeden Morgen sagen die Schmuggler: Haltet Euch bereit. Heute geht’s los.

Und dann passiert wieder nichts. Mal ist das Wetter zu schlecht. Mal kontrollieren Polizisten die Küste.

Wir verstecken uns tagsüber im Motel. Abends gehen wir in die Stadt. Die Touristen haben Spaß, trinken, tanzen. Um uns kümmert sich niemand.

Tag 9 – Schiffbruch

Wir schleichen uns nachts über Felsen an die Küste. Wir sehen Polizisten, sie sind uns ganz nah, sie ignorieren uns. Es heißt, die türkischen Beamten würden mit der Mafia zusammenarbeiten. Im Wasser liegt ein Schlauchboot. Die Schlepper steuern die Boote so gut wie nie selbst. Sie bestimmen einen Flüchtling als Kapitän. Er ist Palästinenser und nimmt seine Frau, zwei Töchter und sein Baby mit ins Boot.

An Bord ist kein Platz. Wir sind 50 Passagiere, Frauen, Kinder, auf wenigen Quadratmetern. Ich habe meine Habseligkeiten in einen Rucksack gepackt: mein Handy, meinen Geldbeutel, die Medizin für meinen Bruder, dessen Nieren nicht mehr richtig funktionieren. Das Boot schaukelt wild in den Wellen. Ich klammere mich an meinen Brüdern fest.

Wir können in der Ferne die Lichter der Insel Kos sehen, als der Motor streikt. Wir treiben auf offener See. Kinder schreien, Männer und Frauen weinen. Unser Kapitän rät dazu, umzudrehen. Niemand widerspricht ihm. Nur wie?

Ich springe mit sechs Flüchtlingen ins Wasser. Wir versuchen, das Boot zu ziehen. Die anderen Passagiere paddeln mit den Händen. Es geht nur langsam voran. Meine Muskeln verkrampfen, mein Herz pocht. Ich schlucke immer wieder Salzwasser. Ich habe Todesangst.

Nach drei Stunden sind wir zurück in Bodrum.

Tag 10 – Überfahrt

Bislang habe ich mit Kobra, unserem Schlepper, nur telefoniert. Nun treffen wir ihn zum ersten Mal im Motel. Er ist jünger, als ich dachte. Gerade einmal Anfang 20. Ein höflicher, schüchterner Typ.

Er ist selbst aus Syrien geflohen. Er hat in der Türkei als Erntehelfer gearbeitet, auf Baustellen. Von dem Geld, das er als Schmuggler verdient, muss er den Großteil an seine Bosse abgeben.

Ich frage ihn, warum er nicht nach Europa flieht. Er sagt, er habe Angst vor der Fahrt über das Meer.

Tag 13 bis 14 – Europa

In dieser Nacht läuft alles glatt. Das Meer ist ruhig. Wir haben es geschafft. Wir haben die Insel Kos erreicht. Wir haben Europa erreicht.

Frauen sinken auf die Knie, küssen den Boden, beten. Ich falle Alaa und Mustafa in die Arme. Wir weinen vor Freude.

Im Morgengrauen laufen wir vom Strand in die Innenstadt. Vor der Polizeistation warten Tausende Flüchtlinge darauf, registriert zu werden. Doch die Behörden auf Kos sind völlig überlastet.

Die Hotels sind ausgebucht. Ich kaufe ein Zelt im Supermarkt, das wir auf einer Brache am Stadtrand aufschlagen.

Wir brauchen eine Pause.

Tag 15 bis 18 – Im Stadion

Die Polizisten pferchen uns in ein Fußballstadion. Sie sagen, sie wollten unsere Daten aufnehmen. Wir sitzen dicht gedrängt auf dem Sandboden. Die Sonne brennt. Es sind bestimmt 40 Grad. Wir bekommen stundenlang weder zu essen noch zu trinken. Mehrere Flüchtlinge brechen zusammen oder müssen sich übergeben.

Die Polizisten haben den Eingang verriegelt. Niemand kommt mehr in das Stadion hinein, aber auch niemand raus.

Ich dachte, in Europa wären wir in Sicherheit. Kos ist schlimmer als die Türkei. Mir wird schwarz vor Augen. Ich zittere. Nach zwei Tagen im Stadion erhalten wir die Papiere für die Weiterreise aufs griechische Festland. Endlich kommen wir weg von Kos!

Tag 19 – Auf der Fähre

Das Festland rückt langsam näher. Schließlich legt die Fähre am Hafen von Athen an. Wo sollen wir jetzt hin? Wir folgen anderen Flüchtlingen zur Metro. Auf der Straße werben Busunternehmer für die Weiterreise nach Mazedonien am nächsten Tag.

Also übernachten wir – in der Plattenbauwohnung eines Schmugglers auf dem Fußboden.

In Griechenland leben Flüchtlinge auf der Straße. Sie hungern, sie werden von Neonazis verfolgt. So gut wie kein Migrant will in diesem Land bleiben. Auch wir nehmen den Bus in Richtung Norden.

Der Fahrer setzt uns wenige Kilometer vor der griechisch-mazedonischen Grenze ab. Wir folgen Gleisen bis zu einem Bahnhof. Dort drängen sich Hunderte Flüchtlinge. Dorfbewohner verkaufen Obst und Wasserflaschen.

Um 5 Uhr morgens soll ein Zug von Mazedonien nach Belgrad abfahren. Eine halbe Stunde zuvor stürmen mazedonische Polizisten das Gelände. Sie vertreiben uns mit Knüppeln vom Bahnsteig.

Meine Brüder und ich haben keine Chance, auch nur in die Nähe des Zuges zu gelangen. Ich verhandle mit einem Taxifahrer. Er schmuggelt uns für 300 Euro an die serbische Grenze.

Tag 21 – Im Wald

Wir sind inzwischen seit drei Wochen unterwegs. Jeder Meter auf der Flucht ist ein Kampf. Ich weiß nicht, ob ich mich auf den Weg gemacht hätte, wenn ich gewusst hätte, was auf uns zukommt.

An der Grenze zu Serbien patrouillieren Polizisten. Wir irren durch einen Wald.

Irgendwann erreichen wir ein serbisches Dorf. Die Einheimischen bieten an, uns für 250 Euro zur nächsten Busstation zu fahren.

Der Preis ist ein Witz. Doch wir haben keine andere Wahl. Es wird bald Nacht. Wir haben seit Tagen nicht geschlafen, so gut wie nichts gegessen. Wir sind schmutzig und frieren.

Tag 22 – Albtraum

In der Morgendämmerung erreichen wir Belgrad. Am Busbahnhof campieren Hunderte Flüchtlinge. Sie schützen sich mit Zeitungen und Plastiktüten vor dem Regen. Händler verhökern Telefone, Sim-Karten, Zigaretten. Wir steigen in einen Bus nach Subotica, eine Stadt an der serbisch-ungarischen Grenze.

Hoteliers in Serbien dürfen keine Migranten ohne Papiere aufnehmen. Manche tun es trotzdem. Für viel Geld. Wir bezahlen 250 Euro für eine Nacht in einem heruntergekommenen Hotel in Subotica. Der Besitzer schließt uns in eine Kammer ein.

Ich habe Sorge, dass er uns etwas antun will und liege die ganze Nacht wach.

Tag 23 – Gefängnis

Es heißt, der Weg nach Ungarn würde bald komplett abgeriegelt werden. Wir haben Glück und gelangen mithilfe von serbischen Schmugglern über die Grenze. Wir laufen bis zu einer Tankstelle. Dort warten Taxis.

Ein Fahrer verspricht, uns für 300 Euro nach Budapest zu schmuggeln. Doch nach einer halben Stunde setzt er uns auf der Hauptstraße aus. Wir wissen nicht, wohin. Es regnet in Strömen. Wir schleppen uns weiter.

Irgendwann greifen uns Polizisten auf. Sie karren uns zur Polizeistation. Von dort werden wir in einem Bus gemeinsam mit anderen Flüchtlingen in ein Gefängnis nach Sziged gebracht.

Die Haftanstalt ist überfüllt. Wir werden wie Tiere eingesperrt. Die Wärter zerren immer neue Flüchtlinge heran. Ich frage: Was geschieht mit uns?

Niemand antwortet.

Tag 25 – Im Mafiahotel

Nach zwei Tagen werden wir aus dem Gefängnis entlassen. Die Beamten nehmen unsere Fingerabdrücke und schicken uns dann zum Bahnhof. Sie sagen: Fahrt nach Budapest.

Flüchtlinge, das ist mir inzwischen klar geworden, haben auch in Europa keine Rechte. Wir können uns auf niemanden verlassen. Wir sind auf die Hilfe von Kriminellen angewiesen. In Budapest schlafen meine Brüder und ich in einem Hotel, das von der türkischen Mafia betrieben wird. Andere Flüchtlinge haben mir die Adresse gegeben.

In der Lobby warten bereits Schmuggler. Natürlich wollen auch sie Geld von uns: 1800 Euro, um uns nach Deutschland zu schaffen.

Tag 26 bis 27 – Germany

Zum ersten Mal seit langer Zeit haben wir keine Probleme. Im Auto eines rumänischen Schleppers gelangen wir unbemerkt durch Ungarn und Österreich.

Kurz hinter der Grenze hält der Fahrer den Wagen. „Germany!“, ruft er und lässt uns aussteigen.

Es ist früh am Morgen. Wir stehen ratlos am Straßenrand von Piding, einer Kleinstadt in Bayern. Ein ältere Frau spricht uns an: „Welcome!“ Sie lächelt und zeigt uns den Weg zum Bahnhof.

Wir nehmen den Zug nach Berlin. Ich habe gehört, dass dort Flüchtlinge gut aufgenommen werden. Wir kommen die erste Nacht bei deutschen Freunden in Neukölln unter.

Zum ersten Mal seit Wochen werden wir wie Menschen behandelt. Ich muss weinen. Die Angst, die Anspannung, all das fällt von mir ab.

Tag 28 – Lageso

Wir gehen zum Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales in Moabit, um uns als Asylbewerber zu registrieren. Ich kann nicht glauben, was ich dort sehe: Hunderte Menschen stehen in langen Schlangen hinter Gittern. Frauen, Kinder, Alte. Sie warten auf Einlass. Aber kaum ein Flüchtling gelangt tatsächlich in das Gebäude.

Ich dachte, Deutschland wäre ein Rechtsstaat. Ich dachte, hier würde anständig mit Flüchtlingen umgegangen. Doch die Situation in Moabit ist nicht besser als auf Kos oder in Ungarn.

Tag 29 bis 34 – Warteschlange

Um Mitternacht stelle ich mich in die Schlange vor der Behörde. Wir werden von Sicherheitskräften zurückgehalten. Es kommt zu Handgreiflichkeiten. Die Polizei geht dazwischen.

Ich warte den ganzen Tag vergeblich vor dem Eingang. Dann kehre ich in unsere Notunterkunft zurück. Und komme am nächsten Morgen wieder. Und wieder.

Tag 35 – Papiere

Nach einer Woche werden wir endlich registriert. Wir erhalten Papiere und ein Zugticket nach Sachsen. Wir sollen in einem Asylbewerberheim in Sachsen untergebracht werden.

Ich habe gehört, dass die Menschen dort keine Flüchtlinge wollen. Doch was soll ich tun? Wir müssen irgendwo leben.

Tag 36 – Das Ziel

Die Unterkunft ist in Ordnung. Wir haben ein eigenes Zimmer in einem Betonbau, das wir uns mit einem Syrer teilen.

Wir warten jetzt auf unser Interview in der Ausländerbehörde. Die Mitarbeiter im Heim haben uns gesagt, dass es dauern kann, bis wir dort einen Termin bekommen. Bis Dezember oder noch länger.

Ich bin froh, dass wir zumindest ein Dach über dem Kopf haben. Viele Flüchtlinge schlafen noch immer in Zelten.

In der Stadt demonstrieren Bürger gegen Flüchtlinge. Ich verstehe das nicht. Was haben wir diesen Menschen getan?

Ich versuche, möglichst unauffällig zu leben. Die meiste Zeit verbringe ich im Heim. Ich lese, lerne Deutsch. Ich will eine Arbeit finden und auch meine Eltern in Sicherheit bringen und nach Deutschland holen.

Ich sehe meine Zukunft hier. Und möchte Teil dieser Gesellschaft werden.

Tag 20 – Zwei Grenzen

Kommentare geschlossen.