22. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Im Winter werden weniger Flüchtlinge kommen? Im Gegenteil“ · Kategorien: Deutschland, Europa · Tags: , ,

Quelle: Die Welt

Bisher spekuliert die Politik darauf, dass der nahende Winter viele Menschen von einer Flucht nach Europa abhält. Experten warnen jetzt: Trotz der Kälte werden noch mehr Flüchtlinge kommen als bisher.

Von Stefan Aust, Manuel Bewarder, Florian Flade, Ileana Grabitz

Während der Streit zwischen der Kanzlerin und CSU-Chef Horst Seehofer über die Flüchtlingspolitik am Wochenende auf dem CSU-Parteitag in München eskalierte, warnen europäische Nachrichtendienste und internationale Flüchtlingsorganisationen vor einem weiteren Anstieg der ungesteuerten Zuwanderung. Nach Informationen der „Welt am Sonntag“ meldeten Geheimdienstein den vergangenen Wochen nach Berlin, dass auch der bevorstehende Wintereinbruch in Europa nicht zu einem nachhaltigen Rückgang bei der Zahl der Zuwanderer führen wird.

Vor allem im Kanzleramt hatte man im Sommer und Herbst darauf spekuliert, dass sinkende Temperaturen den Flüchtlingstreck Richtung Deutschland verlangsamen würden. Danach sieht es nicht aus – im Gegenteil. Die Sicherheitsbehörden gehen außerdem davon aus, dass auch die kalte Jahreszeit zu keinem nachhaltigen Rückgang bei der Zahl der Zuwanderer führen wird. Das Ziel der großen Mehrheit der Flüchtlinge ist nach wie vor Deutschland.

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Auch die Internationale Organisation für Migration (IOM) rechnet mit einem Zuwachs: „Die Zahlen werden eher weiter ansteigen als zurückgehen“, sagte Frank Laczko, Chef des globalen Datenanalysezentrums der IOM. Syrien werde als Herkunftsland die „Herausforderung Nummer eins“ bleiben. „Die Schlüsselfrage ist, was mit den Millionen Syrern passiert, die schon jetzt außerhalb ihres Heimatlandes und in die Nachbarstaaten ausgewandert sind“, sagte Laczko.

Vier Millionen Syrer haben das Land verlassen

Nach Einschätzung der Nachrichtendienste verschlechtert sich die Situation in Syrien von Tag zu Tag. Verantwortlich dafür sind zum Beispiel die Kämpfe zwischen den Soldaten des Assad-Regimes und bewaffneten Widerstandsgruppen. Hinzu kommt eine immer schlechter werdende Versorgung mit Lebensmitteln sowie ein Niedergang der Wirtschaft. 7,6 Millionen Menschen sind der Analyse zufolge allein in Syrien auf der Flucht. Mehr als vier Millionen haben das Land bereits verlassen und leben derzeit in Nachbarländern.

Aus Sicht des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) spitzt sich auch in den Flüchtlingscamps im Libanon und in Jordanien die Lage weiter zu. Nach Angaben von Sprecherin Melissa Fleming ist man mit den zur Verfügung stehenden Mitteln noch immer nicht in der Lage, die akuten Bedürfnisse aller Flüchtlinge abzudecken. „Wir müssen daher damit rechnen, dass noch mehr Menschen sich entscheiden, nach Europa aufzubrechen“, sagte Fleming. Von den zugesagten 4,5 Milliarden Dollar für dieses Jahr hätten das UNHCR bis dato nur rund zwei Milliarden Dollar an Hilfen von den Ländern erreicht.

Die europäischen Nachrichtendienste halten ein umfassendes Konzept zur Bewältigung der Flüchtlingskrise für notwendig. Einzelne Maßnahmen auf den Routen nach Europa hätten lediglich eine Verlagerung der Flüchtlingswelle zur Folge. Schleuser stellen sich bereits auf stärkere Kontrollen durch die Türkei ein, melden Nachrichtendienste. Mittlerweile würden zum Beispiel vermehrt Afghanen über Libyen nach Italien geschleust.

Das Schengen-Abkommen schwebt in großer Gefahr

Deutliche Kritik wird von den Diensten an der Türkei geäußert. Das Land bekämpfe die illegale Migration und die Schleuserkriminalität unzureichend, heißt es. Als größter Schwachpunkt wird die als durchlässig beschriebene Seegrenze zu Griechenland genannt. Zudem wird die Verlässlichkeit der Türkei bei der Bekämpfung der illegalen Migration infrage gestellt. Die Dienste befürchten zudem wachsende Konflikte zwischen der türkischen Bevölkerung und Flüchtlingen. In der Türkei leben etwa zwei Millionen Flüchtlinge aus Syrien.

Die ebenso kühle wie schnörkellose Lagebeschreibung der Sicherheitsbehörden dürfte vor allem das Kanzleramt vor neue Probleme stellen. Denn in Merkels Ansatz, die Flüchtlingskrise mit einer stärkeren Sicherung der EU-Außengrenzen in den Griff zu bekommen, spielt die Türkei eine zentrale Rolle. Sollte Merkels Strategie scheitern, rechnen Beobachter spätestens im Frühjahr mit einer Renationalisierung der Grenzen innerhalb der EU und einem endgültigen Scheitern des Schengen-Abkommens. Auch die Kanzlerschaft von Angela Merkel wäre dann in großer Gefahr.

CSU-Chef Seehofer nannte auf seiner Rede vor dem CSU-Parteitag eine neue Rekordzahl: Mehr als eine halbe Million Flüchtlinge seien seit September in Bayern angekommen. Allein am vergangenen Wochenende überschritten mehr als 11.000 Flüchtlinge von Österreich kommend die bayerischen Grenzen. Seit Jahresbeginn wurden in Deutschland nach Angaben des bayerischen Innenministers Joachim Herrmann (CSU) mehr als 900.000 Flüchtlinge registriert. „Die Wahrheit ist an der Grenze“, hatte der bayerische Finanzminister Markus Söder (CSU) dieser Zeitung jüngst erklärt. Und an der Grenze gibt es nichts Neues.

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