30. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge in Jordanien: Flucht ohne Wiederkehr“ · Kategorien: Syrien · Tags: ,

Quelle: FAZ

Hunderttausende Flüchtlinge leben in Jordanien. Ihre Hilfe wird stetig gekürzt. Die meisten haben deshalb nur ein Ziel: Almaniya. Manche bleiben, um das syrische Elend zu dokumentieren – und könnten damit auch den deutschen Behörden weiterhelfen.

von Hans-Christian Rößler, Mafraq/Irbid

Ahmed Awad will nur noch weg. Am Morgen hat er sich den Passierschein geholt. Der kleine Zettel des jordanischen „Komitees zur Organisation der Rückkehr“ ist seine Fahrkarte in eine Richtung: Damit darf der 22 Jahre alte Syrer einen der Busse besteigen, die die Flüchtlinge an die jordanische Grenze bringen, die sich dann hinter ihnen für immer schließt. Stundenlang musste er auf das Ausreisedokument warten. Mehr als zweihundert Flüchtlinge standen mit ihm vor der jordanischen Regierungsstelle an. „Ich weiß, wie gefährlich es ist, nach Syrien zu gehen. Aber es ist besser, als in Jordanien zu sterben“, sagt der Automechaniker mit dem schwarzen Haar.

Neben ihm auf der Schaumstoffmatte im Wohnzimmer hält seine Frau Rawan die zwei Monate alte Tochter Aila im Arm. Zu acht hausen sie gemeinsam mit mehreren Verwandten in zweieinhalb Zimmern. Frau und Kind wird Ahmed Awad in Mafraq zurücklassen, einer trostlosen Stadt am Rande der Wüste im Nordosten Jordaniens. Fast 76.000 Syrer haben sich dort in Sicherheit gebracht. Das sind fast so viele wie im größten Flüchtlingslager in Zaatari, das nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt liegt. Mehr als achtzig Prozent der syrischen Flüchtlinge leben in jordanischen Städten und nicht in den insgesamt drei Containercamps.

Ahmed Awad ist vor zwei Jahren aus Homs nach Jordanien geflohen. Am nächsten Morgen beginnt seine zweite Flucht. „Immer mehr syrische Flüchtlinge verlassen das Land“, sagt der Vertreter des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Jordanien, Andrew Harper. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber die Rede ist von hundert bis dreihundert Syrern, die manchmal jeden Tag aus dem haschemitischen Königreich ausreisen.

Für die meisten von ihnen gibt es in diesen Tagen nur ein Ziel: „Almaniya“; so heißt Deutschland auf Arabisch. „Ich werde als Automechaniker arbeiten und für meine Familie sorgen. In Deutschland gibt es Arbeit“, sagt der junge Syrer. Wie der jungen Familie aus Homs geht es vielen syrischen Flüchtlingen: Ihre letzten Ersparnisse sind aufgebraucht, zuletzt stoppten auch noch die UN ihre Hilfe. „Wir bekommen keine Windeln und keine Babynahrung mehr“, sagt der junge Vater. Legal arbeiten dürfen Flüchtlinge auch nicht.

Rund 1200 Dollar koste die Überfahrt nach Griechenland

Ahmed Awad verdingte sich trotzdem als Tagelöhner. Viermal griff ihn die jordanische Polizei auf. Die Beamten drohten ihm damit, ihn nach Syrien zurückzuschicken oder seine Familie in ein Lager einzuweisen. Jetzt geht er freiwillig in die alte Heimat zurück – aber nicht, um zu bleiben.

Zu Hause schulden ihm noch einige Leute Geld, das er dringend braucht, um die Schmuggler zu bezahlen, die ihn von der Türkei nach Griechenland und weiter nach Deutschland bringen. Rund 1200 Dollar koste alleine die Überfahrt nach Griechenland, sagt er. Niemand kann genau sagen, wie viele der Rückkehrer bleiben und wie viele weiterziehen. Oft verkaufen sie, was sie in Syrien noch besitzen, und brechen ihre letzten Brücken in das Land ab, in dem sie keine Zukunft sehen.

Ahmed Awad fürchtet die Armee des syrischen Präsidenten Baschar al Assad mehr als das Meer. „Wenn ich untergehe, dann ist das Gottes Wille. Aber für meine Familie muss ich alles versuchen“, sagt der Flüchtling. In Syrien ist er als Soldat desertiert und darf auf keinen Fall in die Hände der Armee fallen, aber auch den Kämpfern des „Islamischen Staats“ und anderer Milizen muss er aus dem Weg gehen, dessen Route er vor seiner Abreise nicht kennt.

„In Jordanien leben Flüchtlinge wie Ratten“

Eine oft genutzte Strecke in die Türkei macht einen großen Umweg über die Wüste bis in die Gegend von Palmyra, um bewohntes und umkämpftes Gebiet so gut es geht zu umgehen. In einer Woche will er in der Türkei und danach vor dem Winter in Deutschland sein. „Ich habe gehört, dass es leicht ist, die Familie nachzuholen“, sagt er zuversichtlich. „Familienzusammenführung“ ist für viele Flüchtlinge in Jordanien identisch mit Deutschland. Zahlreiche junge Männer stehen jeden Morgen in der langen Schlange vor der syrischen Botschaft in Amman.

Sie sind oft schon im Morgengrauen aufgebrochen, um rechtzeitig in Amman ihren Reisepass zu beantragen oder abzuholen. Familien legen zusammen, um einen ihrer Söhne als Vorhut loszuschicken, denn der Weg nach Europa ist teuer, und das Geld reicht dann nur für ein Familienmitglied: Umgerechnet vierhundert Dollar kostet der syrische Reisepass, den die syrischen Konsularbeamten mit ihren neuen Druckern gleich in der jordanischen Hauptstadt ausstellen. Das sei eine willkommene Einnahmequelle für das Assadregime und ein bequemer Weg, um unliebsame Landsleute loszuwerden, deren Häuser und Grundstücke es längst an andere weitergegeben hat, sagt ein Diplomat.

In seinem alten Auto hat ein Jordanier ein kleines Büro mit zwei Kopierern eingerichtet. Er vervielfältigt Geburtsurkunden und füllt Berge von Antragsformularen aus, während seine Kunden über ihre Reisepläne diskutieren. „In Deutschland werden Flüchtlinge wie Menschen behandelt. In Jordanien leben sie hier wie Ratten, und in Syrien fangen die Leute an, sich gegenseitig aufzufressen“, sagt Ziad Fendi. Wenn die Pässe fertig sind, will er so schnell wie möglich in die Bundesrepublik – wegen seiner sieben Kinder. Sie sollen keine Zeit mehr verlieren, in die Schule gehen und studieren. „Selbst wenn meine halbe Familie auf dem Meer umkommt, müssen wir es probieren“, sagt der Mann aus der syrischen Stadt Daraa.

Europa wurde zu einer Option

Von Jordanien aus können syrische Staatsangehörige mit dem Reisepass in die Türkei fliegen. Dafür brauchen sie kein Visum. Wegen der gestiegenen Nachfrage setzt die Fluggesellschaft Turkish Airlines mittlerweile auf ihren drei täglichen Flügen nach Istanbul größere Flugzeuge ein.

Für den Flugschein müssen die Flüchtlinge rund vierhundert Euro zahlen. Die große Zahl der fliehenden Syrer trug jedoch dazu bei, dass die Reisekosten sanken. Nach UNHCR-Recherchen schaffen manche die Flucht schon mit zweitausend Dollar. Vor nicht allzu langer Zeit mussten sie zwei- oder dreimal so viel dafür bezahlen.

Zunächst hätten verzweifelte Flüchtlinge überlegt, nach Syrien zurückzukehren, sagt UNHCR-Chef Andrew Harper. Neue Kämpfe in ihrer Heimat und einfachere Reisemöglichkeiten habe dann Europa zu einer Option werden lassen. „Wir können die Leute hier am Leben erhalten, aber sie wollen eine Zukunftsperspektive“, sagt Andrew Harper. Jetzt fragten sie sich, warum sie noch einen Winter in Jordanien bleiben sollen.

Nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft weiterhin groß

Knapp 630.000 Syrer waren Mitte Oktober beim UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR in Jordanien registriert. Doch bei Hausbesuchen stellten UN-Mitarbeiter fest, dass Hunderte Familien verschwunden sind oder auf einmal keine Hilfen mehr in Anspruch nehmen. Die jordanische Regierung spricht trotzdem seit Jahren von 1,4 Millionen Syrern im Land; schon vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs lebten mehrere hunderttausend syrische Gastarbeiter im haschemitischen Königreich.

Je mehr Syrer es gab, desto mehr ausländische Unterstützung erhoffte und erhielt die Regierung des kleinen Landes mit seinen 7,7 Millionen Bürgern. Obwohl der Bevölkerungsanteil der Syrer so hoch ist wie in keinem europäischen Land, sei die nachbarschaftliche Hilfsbereitschaft auch nach vier Jahren weiterhin groß, sagen Flüchtlinge und UN-Mitarbeiter.

Aber auf internationale Hilfe können sich Jordanier und Syrer nicht mehr wie gewohnt verlassen. Das Welternährungsprogramm (WFP) musste im Sommer seine Leistungen für die Flüchtlinge zum ersten Mal drastisch kürzen, weil die Geber nicht mehr so großzügig waren. Vor einem Jahr versorgte das WFP in Jordanien noch alle bei den UN registrierten Syrer mit einem Grundstock an Nahrungsmitteln.

Immer weniger vertrauen der internationalen Gemeinschaft

Im September 2015 später waren es nur noch die Lagerbewohner und 211.000 der Ärmsten der Armen. „Die Leute hatten schon zuvor sehr zu kämpfen. Im Juli warnten wir sie per SMS vor den bevorstehenden Kürzungen. Das brachte das Fass dann zum Überlaufen“, sagt WFP-Nothilfekoordinator in Jordanien, Jonathan Campbell. Zur selben Zeit begann auch die große Fluchtwelle nach Europa.

Wie prekär die Lage vieler Syrer ist, zeigen die Beträge, um die es geht. Eine nach UN-Kriterien „gefährdete“ Familie mit vier Kindern erhielt bis August umgerechnet nur gut siebzig Euro im Monat. Ein Drittel schickte im neuen Schuljahr ihre Kinder nicht mehr in die Schule, weil sie sich die Gebühren nicht mehr leisten konnten. Stattdessen gingen sie arbeiten oder betteln, wie eine WFP-Untersuchung jetzt ergab.

Fast die Hälfte der ärmsten Syrer sieht ohne verlässliche Nahrungsmittelhilfe demnach keine Zukunft mehr für sich in Jordanien. Sie überlegen, in diesem Fall nach Syrien zurückzukehren oder nach Europa weiterzureisen. Mittlerweile hat das WFP wieder genug Geld, um bis Anfang 2017 auch wieder weiteren 230.000 Syrern finanziell beizustehen. Aber immer weniger vertrauen nach den Erfahrungen der vergangenen Monate der internationalen Gemeinschaft.

„In Syrien kennt jeder jeden“

Zwei der Söhne von Adnan Abu Aun haben es schon nach München geschafft. Doch der frühere Elektrowarenhändler, der vor drei Jahren schwerverletzt aus Daraa geflohen ist, will in seiner feuchten Kellerwohnung in Irbid bleiben. „Meine Arbeit ist zu wichtig“, sagt er und zeigt auf die überquellenden Aktenordner, die sich rund um den Schreibtisch auf dem Boden auftürmen.

Zusammen mit mehreren Freunden hat Aun die „Syrische Institution für Veröffentlichung und Dokumentation“ gegründet. Sie wollen verhindern, dass der Krieg den Syrern alles nimmt, und geben selbst den Toten wieder einen Namen und ein Gesicht. Flüchtlingen, die überstürzt ihr Land verließen, fehlen oft die Sterbeurkunde von Familienmitgliedern, oder sie können nicht beweisen, dass Angehörige im Gefängnis sind und dort gefoltert wurden. Solche Nachweise sind jedoch wichtig, um Hilfe oder ein Visum zu beantragen.

„In Syrien kennt jeder jeden. Wir können mit unseren Kontakten auf beiden Seiten der Grenze recherchieren“, sagt Adnan Abu Aun. Mit Unterschriften bestätigen diese Zeugen, was sie über die mittlerweile 27.000 Fälle wissen, bei denen die Organisation in Jordanien schon geholfen hat. „Eine Nation ohne Dokumentation hat keine Geschichte und keine Identität“, sagt der Menschenrechtler.

„Versuchen, alles zu dokumentieren“

Das Regime von Präsident Baschar al Assad wolle die Zusammensetzung der syrischen Bevölkerung ändern. Dabei schrecke es nicht nur davor zurück, das Eigentum seiner getöteten Opfer, sondern auch ihre Identität an libanesische Hizbullahkämpfer, Iraner oder Pakistaner weiterzugeben. „Das lassen wir nicht zu und versuchen, alles zu dokumentieren“, sagt Adnan Abu Aun.

Er wisse deshalb auch eine Menge über die Syrer, die es nach Deutschland geschafft haben. So ist er überzeugt davon, dass deutlich weniger als die Hälfte aller, die sich als Syrer ausgeben, wirklich aus Syrien kommt. Stattdessen stammten sie zum Beispiel aus dem Libanon, aus Iran oder Afghanistan. „Wir könnten dabei helfen, das nachzuweisen. Wir wissen, wer wer ist“, sagt er.

Das gilt auch für die Täter, die sich nach seinen Erkenntnissen unter die Flüchtlinge gemischt haben: zum Beispiel Mitglieder der Schabiha-Miliz, Schergen Assads. „Deutsche Familien beherbergen freiwillig Mörder und Folterer des Regimes, ohne es zu wissen. Syrische Opfer und Täter leben nebeneinander. Das wird bald Probleme verursachen“, sagt Adnan Abu Aun.

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