20. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Zehntausende Syrer fliehen aus Aleppo“ · Kategorien: Syrien, Türkei · Tags:

Quelle: DW

Die russischen Luftangriffe und die Bodenoffensive von Machthaber Baschar al-Assad haben im Norden Syriens eine Massenflucht ausgelöst. Die Lage vieler Menschen ist nach Angaben von Aktivisten katastrophal.

Etwa 35.000 Menschen haben ihre Heimatorte südlich von Aleppo verlassen, wie das UN-Büro zur Koordinierung humanitärer Hilfe (OCHA) mitteilte. In der vergangenen Woche hatten syrische Regierungstruppen, unterstützt von russischen Luftangriffen, dort eine Offensive gestartet. Bislang kontrollierten Rebellen den Osten und Süden Aleppos, Anhänger von Assad den Westen.

aleppo

Nach Angaben von Regimegegnern ist die Lage vieler Flüchtlinge dramatisch. „Die Menschen schlafen mit ihren Kindern seit zwei Tagen unter freiem Himmel“, sagte der Aktivist Firas al-Halabi. Ihnen fehle das Nötigste. Ein Leiter einer oppositionellen Hilfsorganisation bezifferte die Zahl der Flüchtlinge sogar auf bis zu 100.000. Die UN mahnen, dass die Menschen dringend Lebensmittel und Notunterkünfte benötigten. Man sei sehr besorgt, weil die Temperaturen sänken und es vor allem nachts immer kälter werde.

Oppositionsmedien berichteten, dass das Regime per Hubschrauber Flugblätter über Aleppo abwarf, auf denen vor weiteren Luftangriffen gewarnt wurde. Die Menschen würden darin aufgerufen, die Stadt zu verlassen.

Mehr als 120 Zivilisten durch Luftangriffe getötet

Eine Entspannung der Situation ist nicht zu erwarten: Russland fliegt weiter Angriffe, zuletzt in der Provinz Latakia im Nordwesten des Landes. Das Verteidigungsministerium in Moskau meldete 55 Attacken binnen 24 Stunden auf Standorte von Islamisten. Dabei tötete Russland mindestens 45 Menschen, wie die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mitteilte. Darunter sei auch der Kommandeur einer Gruppe, die zu dem von den USA unterstützten Oppositionsbündnis „Freie Syrische Armee“ gehöre.

Nach Angaben der Beobachtungsstelle kamen damit bislang rund 370 Menschen bei russischen Luftangriffen ums Leben, darunter 127 Zivilisten und 52 Kämpfer der Terrormiliz „Islamischer Staat“. Die Organisation bezieht ihre Informationen von Informanten vor Ort. Die Angaben sind nicht unabhängig überprüfbar.

USA und Russland einigen sich auf Memorandum

Russland hat seit Ende September mehr als 500 Luftangriffe in Syrien geflogen. Nach eigener Darstellung will es so „Terroristen“ zurückdrängen. Eine von den USA angeführte Koalition bekämpft in Syrien ebenfalls mit Luftangriffen die Terrormiliz „Islamischer Staat“. Beide Länder unterzeichneten nun eine Vereinbarung, um Zwischenfälle in der Luft zu vermeiden. Unter anderem sei vorgesehen, dass die Kampfjets einen „sicheren Abstand“ zueinander wahrten, teilte das amerikanische Verteidigungsministerium mit. Details wurden nicht bekannt. Das Papier werde auf Bitten Moskaus nicht veröffentlicht, so das Pentagon.

Trotz dieser Einigung gibt es weiter Differenzen bezüglich der Luftangriffe in Syrien. Die USA werfen Russland vor, nicht nur Islamisten, sondern auch gemäßigte Rebellen zu bekämpfen, um den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad an der Macht zu halten. Nach Ansicht von Washington ist eine politische Lösung des Syrien-Konflikts aber nur ohne Assad möglich.

Türkei ändert Haltung zu Assad

Ähnlich sieht es die Türkei. Ankara hat dennoch einen leichten Kurswechsel vollzogen und besteht nun nicht mehr auf einen sofortigen Sturz des Staatschefs. Die türkische Regierung sei bereit, Assads Verbleib in seinem Amt für eine Übergangszeit von sechs Monaten hinzunehmen, sagten Regierungsvertreter der Nachrichtenagentur Reuters. „Wir akzeptieren das, weil das endgültige Aus für ihn garantiert wird.“

Auch der britische Außenminister Hammond betonte, Assad müsse „irgendwann“ seinen Posten räumen. „Wir sind bereit, mit jedem zu reden, wie der Übergang in Syrien aussehen könnte, aber wir sind sehr klar in der Ansage, dass dieser an irgendeinem Punkt ein Abtreten von Assad vorsehen muss.“

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siehe auch: Telepolis

Aleppo: Großoffensive der syrischen Armee und Zigtausende auf der Flucht

von Thomas Pany

Unterstützt von russischen Luftangriffen, der Hisbollah und iranischen Milizen sind die syrischen Regierungstruppen dabei, die wichtige Stadt im Nordwesten Syriens einzukreisen

Wenn es die Verbündeten der syrischen Regierung schaffen, die große Nachschublinie der gegnerischen Milizen im Nordwesten Aleppos aus der Türkei abzuschneiden, dann wäre dies der Anfang vom Ende des „Aufstandes“, prophezeit das US-Magazin Moon of Alabama.

Es ist eine derjenigen amerikanischen Publikationen, die dem US-Militär und ihrer Führung sehr kritisch gegenüberstehen, mit einer unverhohlenen Sympathie für den russischen Militäreinsatz in Syrien.

Auch die Seite SYRIA:direct, die der FSA und angeschlossenen oder damit verbundenen „Rebellengruppen“ nahesteht, spricht davon, dass die russische Unterstützung die „Patt-Situation“ zwischen der syrischen Regierung und den gegnerischen Milizen aufgebrochen hat.

Kurz gesagt: Die Aleppo-Offensive könnte eine entscheidende Wende im syrischen Kriegsgeschehen herbeiführen. Milizenführer sprechen gegenüber SYRIA:direct davon, dass die von russischen Luftangriffen unterstützte Regierungsarmee dabei sei, die Stadt Aleppo einzukreisen, um „damit der Welt eine Botschaft zu senden: dass die syrische Armee mit russischer Hilfe Boden gewinnt“.

Die Offensive war gut vorbereitet. Nachdem mithilfe der Luftunterstützung der Gegner an vitalen Orten für den Schutz der syrischen Regierung (und der russischen Positionen) bei Latakia, Homs, Hama und in der Provinz Idlib geschwächt worden war, begann eine große Bodenoffensive südlich von Aleppo, ein Überraschungsangriff, begleitet mit Offensiven zur Sicherung der syrischen Militärbasis im Südosten Aleppos – al-Safira – und dem nahegelegenen Militär-Flughafen Kweiris, der von IS-Milizen bedrängt wird.

Über 600 Angriffe auf 380 IS-Stellungen, Militär- oder Versorgungszentren sei die russische Luftwaffe seit Beginn der Operation geflogen, meldete das russische Militär am vergangenen Freitag. In den letzten 24 Stunden waren es 33 Flüge, die 49 IS-Ziele angriffen, hieß es heute bei der Nachrichtenagentur Tass. Aufgeführt werden Ziele in den oben genannten vitalen Zonen sowie der Raum Aleppo und Damaskus (dass von russischer Seite unter IS sämtliche Dschihadisten als islamistische Terroristen subsummiert werden, ist mittlerweile bekannt). Auch die syrische Luftwaffe ist mit Angriffe auf Ziele im Osten Aleppos beteiligt.

Am Boden wurden in den Süden Aleppos vorrückende syrische Armeeverbände angeblich von iranischen Kämpfern aus dem Irak und 3.000 Hisbollah-Kämpfern sowie von „russischen Freiwilligen“ unterstützt. Man schätzt, dass insgesamt etwa 10.000 Bodentruppen aufseiten der syrischen Regierung die Aleppo-Offensive durchführen. (Grafiken dazu: hier, hier und hier).

OCHA: 35.000 im Südwesten Aleppos auf der Flucht

Laut OCHA hat die Offensive im Südwesten Aleppos zur Flucht von 35.000 Bewohnern von Vororten geführt; der Vertreter einer Hilfsorganisation in Aleppo wird mit der Zahl von 55.000 Flüchtlingen seit Freitag zitiert.

Seitens des Uno-Amtes für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) heißt es, dass die meisten Zuflucht in ländlichen Gebieten im Westen Aleppos gefunden haben. Laut der genannten Hilfsorganisation, die mit den „Aufständischen“ in enger Verbindung zu stehen scheint, werden Flüchtlinge notdürftig in Zelten untergebracht. Schuld an der Flucht hätten die russischen bzw. syrischen Luftangriffe, die nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden würden.

Entsprechend wird diese Verwantwortungszuweisung auch in verschiedenen westlichen Medien wiedergegeben, womit wieder die Zahnräder des begleitenden „Informationskriegs“ greifen. Es ist einerseits schwer vorstellbar, dass es bei dieser Fülle an Luftangriffen nicht zu zivilen Toten und zur Panik unter der Bevölkerung kommt, anderseits können die westlichen Verbündeten der maßgeblich und hauptsächlich von Dschihadisten geführten gegnerischen Milizen hier kein moralisches Gelände gewinnen oder reklamieren.

Wie auch jüngste Meldungen zeigen, werden die islamistischen Gegner der syrischen Regierung und deren russischen Schutzmacht weiterhin mit Waffen beliefert und somit der Proxy-Krieg kräftig angeheizt. Das nennt man Doppelzüngigkeit.

Die Frage, welchen Effekt die Lieferungen etwa von Panzerabwehrwaffen auf die militärischen Operationen Syriens, Russlands und Irans haben, ist umstritten. Von der Seite der syrischen Regierung und ihrer Verbündeten gibt es offiziell keine entsprechenden Meldungen, die dies bestätigen. Auf der anderen Seite wird dagegen davon gesprochen, dass die Panzerabwehrlenkwaffen (TOWs) den Vormarsch der Bodentruppen erheblich verzögern.

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