13. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Eine Zeitbombe für den Nahen Osten“ · Kategorien: Libanon, Syrien · Tags:

Quelle: NZZ

Der Ansturm syrischer Flüchtlinge in Libanon lässt das Schicksal ihrer palästinensischen Leidensgenossen vergessen

Jürg Bischoff, Beirut

Lange Zeit wurden die Palästinenser, die sich nach der Vertreibung aus ihrer Heimat 1948 in Syrien niedergelassen hatten, von ihren Schicksalsgenossen anderswo beneidet. Im Unterschied zu Libanon konnten sie soziale Dienstleistungen in Anspruch nehmen und hatten das Recht zu arbeiten. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs sind von den über 500 000 Palästinensern in Syrien rund 44 000 nach Libanon geflohen. Die meisten von ihnen kommen aus Yarmuk, dem grossen Lager im Süden von Damaskus, in dem seit fast drei Jahren verschiedene Gruppen um die Vormacht kämpfen und das von der Mehrzahl seiner Bewohner verlassen wurde. Zuflucht in Libanon suchten die syrischen Palästinenser meist bei Verwandten in einem Flüchtlingslager. Weil dort der Wohnraum am erschwinglichsten ist, liessen sich aber auch viele Flüchtlinge syrischer Nationalität nieder. In den Lagern und in den Armenvierteln im Süden Beiruts drängen sich die Leute immer stärker. Im Palästinenserlager von Chatila etwa, in dem vor 2011 rund 10 000 Leute lebten, soll sich die Bevölkerung vervierfacht haben.

Einen Riegel geschoben

Die Wasser- und Stromversorgung ist dem Zusammenbruch nahe, Schulen und Spitäler sind überlastet, und die sozialen Spannungen steigen. Libanon empfindet die Palästinenser seit je als Last und versucht deren Zuwanderung aus Syrien zu unterbinden. Seit Mai 2014 werden praktisch keine Palästinenser mehr ins Land gelassen. Ihr Aufenthalt ist illegal, arbeiten dürfen sie nicht, und viele wagen sich kaum aus ihrem Quartier hinaus, um nicht in die Fänge der Polizei zu geraten. Die Palästinenser werden nicht vom Flüchtlingshilfswerk UNHCR registriert und haben deshalb auch kein Anrecht auf dessen Hilfe.

Zuständig für die Hilfe an die Palästinenser ist die UNRWA, die von der Uno speziell für die Palästinaflüchtlinge geschaffene Hilfsorganisation. Sie betreibt Schulen und Spitäler und verteilt Nothilfe an neu ankommende Flüchtlinge. Deren Bedürfnisse seien enorm, sagt die UNRWA: 90 Prozent der aus Syrien kommenden Palästinenser seien auf Unterstützung für Nahrung und Unterkunft angewiesen. Wie prekär die Lage vieler Familien ist, zeigt sich auch daran, dass bei einem Viertel von ihnen eine Frau der Familienvorstand ist.

Die UNRWA hat es geschafft, 7300 neue Schüler in ihre Schulen aufzunehmen. Wegen der hohen Kosten der privaten Spitäler Libanons kann sie heute aber lebensrettende Operationen für Flüchtlinge nur zum Teil finanzieren. Im Juli dieses Jahres strich die UNRWA wegen Geldmangels den monatlichen Beitrag an die Mietkosten, den die bedürftigen Familien erhielten. Gleichzeitig warnte sie davor, dass sie den Betrieb ihrer Schulen nach den Sommerferien wegen Finanznot nicht weiterführen könne, und dies nicht nur in Libanon, sondern auch in Palästina, Jordanien und Syrien.

Isoliert und ausgegrenzt

Als das Defizit für 2015 über 100 Millionen Dollar erreicht hatte, erklärte Pierre Krähenbühl, der Generalkommissar der UNRWA: «Die Isolation, die Ausgrenzung und die Enteignung palästinensischer Flüchtlinge in Syrien, Gaza, im Westjordanland, in Jordanien und Libanon stellen eine Zeitbombe für den Nahen Osten dar.» Die Donatoren, unter ihnen die Schweiz, hatten ein Einsehen und kratzten rasch 80 Millionen zusammen. Die UNRWA-Schulen haben nach den Ferien ihren Betrieb aufgenommen.

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