18. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „In den Menschen entsteht so eine Wut“ · Kategorien: Hintergrund · Tags: , ,

Quelle: Zeit Online

Der juristische und kulturelle Umgang mit Flüchtlingen muss neu gedacht werden. Ein Gespräch mit der Politologin Seyla Benhabib über die derzeitigen Grenzen Europas

Interview: Susanne Mayer

ZEIT ONLINE: Frau Benhabib, die Flüchtlingskrise zeigt uns, wie verletzlich Europa ist. Deutschland verspricht, 800.000 Menschen aufzunehmen, andere Länder heißen nur Christen willkommen und wollen keine Muslime, wieder andere mobilisieren das Militär, Wasserwerfer und Rauchbomben gegen die Flüchtlinge oder kappen den Zugverkehr ins Nachbarland. Was bleibt von unserem Traum eines geeinten Europa? Eine Fratze?

Benhabib: Es ist durchaus ironisch, dass ein Sommer, der mit der ökonomischen Griechenland-Krise beginnt, mit der Flüchtlingskatastrophe endet. Es bringt Europa an einen Zerreißpunkt. Wenn die deutsche Regierung sagt, dass sie bereit ist, Flüchtlinge aufzunehmen – inwieweit wäre das auch eine europäische Antwort auf die Situation? Und jetzt sagt Jean-Claude Juncker, Europa müsse 160.000 Flüchtlinge verteilen? Wer macht mit? Wie bei der griechischen Krise zeigt sich, dass in der rechtlichen Konstruktion der Europäischen Union sehr viele Widersprüche bestehen. Die Widersprüche liegen darin, dass die inneren Grenzen offen sind, die Außengrenzen aber nicht gemeinsam geregelt werden, weil Europa kein föderaler Staat ist.

ZEIT ONLINE: Was wäre denn dieses Europa?

Benhabib: Ich weiß nicht, wie genau man es bezeichnen soll – eine postkonventionelle föderative Vereinigung? Niemand weiß es. In der Hinsicht sind die Grenzen von Europa keine normalen Grenzen. Sollten sie wie Grenzen eines Nationalstaates sein? Militarisiert? Das hat Ungarn gemacht, Ungarn hat wie ein normaler Nationalstaat reagiert, die konservative Regierung hat einen Zaun errichtet. Italien und Frankreich grenzen an das Mittelmeer, sie könnten das gar nicht.

ZEIT ONLINE: Die Côte d’Azur mit Stacheldraht wäre tatsächlich sehr gewöhnungsbedürftig. Allerdings haben auch die Vereinigten Staaten von Amerika im Süden einen Zaun. Tatsache ist, an den Zäunen eskalieren vielleicht die Probleme, aber Zäune halten die Menschen letztlich nicht auf.

Benhabib: Im Zaunbau manifestiert sich staatliche Schwäche. Es gibt eine Redewendung: „Bau einen Zaun, der drei Meter hoch ist, der Migrant wird eine Leiter finden, die fünf Meter hoch ist.“

ZEIT ONLINE: Sie waren stets eine Anwältin der Papierlosen, von Menschen, die aus ihrer Heimat fliehen und jetzt zu Hunderttausenden nach Europa kommen. „Wir müssen die Welt mit anderen teilen“, haben Sie gesagt. Was genau heißt – teilen?

Seyla Benhabib: Es gibt darauf eine moralische Antwort und eine rechtliche. Von einem moralischen Standpunkt aus gibt es keine vertretbare Unterscheidung zwischen den Rechten eines Menschen, der auf einem Gebiet geboren ist, und den Rechten eines anderen, der auf der anderen Seite des Flusses geboren wurde. Hinsichtlich ihrer Lebenschancen wäre eine Differenzierung moralisch willkürlich – so lehrt uns die Moraltheorie seit den Anfängen der Antike. Neu ist, dass diese moralischen Prinzipien nach dem Zweiten Weltkrieg im Internationalen Recht verankert wurden. Wir haben die Flüchtlingskonvention von 1951, und daraus ergibt sich eine internationale Pflicht, zunächst für Länder, die diese Konvention unterzeichnet haben, Asylsuchende aufzunehmen, wenn anzunehmen ist, dass er oder sie im eigenen Land verfolgt wird. In der Flüchtlingskonvention heißt es: „a well grounded fear of persecution“ – eine begründete Furcht vor Verfolgung. Diese Formel wurde unter den Bedingungen des Kalten Krieges für politische Flüchtlinge erdacht. Jetzt sind wir mit Situationen konfrontiert, wo „a well grounded fear of persecution“ auf Bürgerkriege oder Umweltkatastrophen ausgedehnt werden müsste. Die Frage steht im Raum, ob die bestehende Flüchtlingskonvention ausreicht, um mit diesem Problem umzugehen.

ZEIT ONLINE: Das Wort persecution war vielleicht schon vor 50 Jahren falsch. Man hatte wohl vergessen, dass etwa 100 Jahre zuvor in Irland eine Million Menschen verhungert war, als Folge der Kartoffelpest, und eine Million vor dem Tod floh – Wirtschaftsflüchtlinge würde man sie heute nennen.

Benhabib: Ja, wir brauchen dieses geschichtliche Verständnis. Wir müssen unseren Blick anthropologisch ausrichten und begreifen: Homo sapiens bewegt sich. Er hat sich immer bewegt. Die Unterscheidung zwischen Asylsuchenden auf der einen Seite und ökonomischen Migranten auf der anderen Seite ist sinnlos. Aber wenn wir an dieser Unterscheidung rütteln, wissen die Menschen und die staatlichen Behörden nicht mehr, wie es weitergeht. Die Konvention muss neu gedacht werden. Konkret müsste in diesem Moment erst mal das Asylprüfverfahren kürzer, rationeller und homogener gestaltet werden. Die Prüfung eines Antrages darf nicht zwei bis fünf Jahre dauern.

ZEIT ONLINE: Tatsache ist, dass viele Migranten auf unsere Rechtslage pfeifen: Sie überspringen an Grenzen die rasiermesserscharfen Zäune; sie weigern sich, sich in Ländern registrieren zu lassen, in denen sie nicht bleiben wollen; sie möchten selbst bestimmen, wohin sie gehen und wo sie leben. Wie wirkt das auf Sie, die Kritikerin der Rechtslage? Erfüllt es Sie mit Genugtuung? Mit Sorge?

Benhabib: Es ist unvermeidbar in einer Welt, die so klein geworden ist. Man kann in Syrien sitzen und im Fernseher Bilder aus Italien oder Frankreich verfolgen – die Menschen dulden nicht mehr, dass auf der einen Seite Krieg ist und auf der anderen Seite das gute Leben besteht. Da entsteht in den Menschen so eine Wut. Eine Wut darüber, dass es so ist, und ein Bedürfnis, diese Lage zu ändern. Dazu kommt unsere geschichtliche Erfahrung. Mich berührt es sehr, wenn Flüchtlinge in Tschechien und Ungarn sich weigern, in Lager zu gehen. Sie weigern sich nicht nur, weil es sie hindert, schnell nach Deutschland zu kommen, sondern weil sie aus der historischen Erfahrung das Lager als gefährlich kennen.

ZEIT ONLINE: Bilder von Hunden, die Menschen jagen. Bilder von Menschen, die in Züge gepfercht werden. Bilder von Menschen, die hinter Stacheldraht stehen – es fällt schwer, angesichts dieser, auch historisch aufgeladenen, Bilder die Fassung zu bewahren.

Benhabib: Ich habe es in der Türkei mit eigenen Augen gesehen. Die Türkei hat 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. Ungefähr 1,5 Millionen von ihnen befinden sich in Lagern im Süden der Türkei. Und eine Million weigert sich, in Lager zu gehen. Die Situation in Istanbul, Izmir oder Ankara ist aber viel schlimmer als die Situation in solchen Lagern, wo die Menschen wenigstens kleine Wohnungen haben und zu essen bekommen, sogar ein wenig Handel treiben können. Warum weigern sich die Menschen also? Weil sie Lager mit äußerster Verletzlichkeit verbinden. Auf diese Angst müssen wir eingehen.

ZEIT ONLINE: Sie, Frau Benhabib, beharren immer wieder darauf, dass nicht die illegal einreisenden Migranten sich schuldig machen, sondern Staaten, die Migranten kriminalisieren.

Benhabib: Man erkennt in dieser Situation die ganze Widersprüchlichkeit an der Konstruktion der Grenzen. Es gibt keine Einstimmigkeit darüber, nach welchen Kriterien diesen Menschen, die aus ihrer Heimat flohen und so ihre alte Staatsbürgerschaft verloren haben, nun eine neue Staatsbürgerschaft gewährt werden sollte. Das ist bislang nicht einmal Thema. Das internationale Recht kennt kein Recht auf Staatsbürgerschaft. Ich habe Vorschläge gemacht, wie man es moralisch und politisch formulieren könnte. Jetzt muss diese Frage endlich juristisch behandelt werden. Es gibt bislang nur Direktiven.

ZEIT ONLINE: Sie betonen stets, dass Staatsbürgerschaft ein Grundrecht ist. Aber auf welcher Ebene wollen Sie es verankern? In Europa? In noch einer Charta der Vereinten Nationen? Das würde Jahrzehnte dauern, der Entwurf, die Ratifizierung, die Verankerung in nationalen Gesetzen. Haben wir so viel Zeit?

Benhabib: Man muss nicht legalistisch verfahren. Man kann erst mal die bestehenden Instrumente nutzen und schnell kleine Lösungen finden. Wenn die deutsche Regierung 800.000 Flüchtlinge aufnehmen will, warum kann sie diese Leute nicht mit Flugzeugen nach Deutschland holen …

ZEIT ONLINE: Das würde jedenfalls verhindern, dass sie alles Geld an kriminelle Schlepperbanden verlieren. Aber ist Europa nicht zu gespalten, um diese Frage grundsätzlich zu klären?

Benhabib: Europa ist ein Laboratorium in dem Sinne, dass es sich in Richtung einer postnationalen Souveränität bewegt, gleichsam aber auf alte nationale Muster zurückgreift. Schauen Sie auf Dänemark. Dänemark hatte eine sehr liberale Flüchtlingspolitik. Aber nach der Kontroverse um die Karikaturen und dem Vorfall in der Dänischen Buchhandlung handelt Dänemark jetzt wie Ungarn.

ZEIT ONLINE: Sie kritisieren nationales Denken – aber sind es nicht auch die Flüchtlinge, die an der Vorstellung des Nationalstaates festhalten, wenn sie etwa unbedingt nach Deutschland wollen oder nach England?

Benhabib: Das ist eine der Paradoxien. Aber für die Flüchtlinge geht es vor allem um die Frage, wo sie am menschlichsten behandelt werden. Und sie wollen dorthin, wo sie schon Netzwerke haben. Wenn man jetzt über die Verteilung der Flüchtlinge in Europa redet, landen die Menschen ja nicht plötzlich auf einem Bauernhof in der Slowakei oder Polen, wo sie niemanden haben und nicht gedeihen können. Vor dieser falschen Vorstellung möchte ich warnen.

ZEIT ONLINE: Was wäre die Alternative?

Benhabib: Ich würde es vorziehen, dass die Slowakei in eine Solidaritätskasse zahlt, statt dass sie verpflichtet wird, 1.000 Flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan aufzunehmen, denen man dann sagt, sie könnten dort nicht beten, sie könnten nicht halal essen, sie dürften keine Moschee aufbauen. Das wäre ein oktroyierter Multikulturalismus.

ZEIT ONLINE: Angela Merkel hat betont, Parallelgesellschaften werde es nicht geben. Aber haben die USA nicht damit gute Erfahrungen gemacht? Mit Little Italy und Chinatown?

Benhabib: Amerika ist in dieser Hinsicht ein anderes Land. Ich kann nach Little Italy gehen und es ist schön. Aber die Bronx? Sie können heute in New York von der 241. Straße bis runter ins Village spazieren und hören nur spanischsprechende Menschen.

ZEIT ONLINE: Werden wir uns daran gewöhnen, im Bus zu sitzen, und um uns herum wird nur Arabisch gesprochen? Ist das das neue Deutschland?

Benhabib: Es passiert doch schon. Wenn ich in Frankfurt U-Bahn fahre, verstehe ich nicht einmal, welche Sprache neben mir gesprochen wird. Als jemand, der immer wieder nach Deutschland kommt, sehe ich jetzt auch Studierende mit Schleier, sie promovieren sogar… Aber anders als in den USA, wo es viele Jobs gibt, in die hinein man sich leicht bewegen kann, gibt es in Deutschland einen sehr engen Zusammenhang zwischen schulischer Leistung und dem Arbeitsmarkt. Wenn man Parallelgesellschaften vermeiden will, verlangt das viel soziales Denken und Sozialarbeit. Zum Beispiel die türkische Community – es ist keine gescheiterte Integration, aber eine, die wirklich sehr sehr sehr lange gedauert hat. Und es kann nicht sein, dass die Leute ihre eigene Kultur verleugnen.

ZEIT ONLINE: Das Kopftuch etwa, das viele Migrantinnen auf den Bildern tragen– ist in Deutschland oder in Frankreich ein heftig umstrittenes Stück Stoff. Müssen die Migrantinnen, die wir auf den Bildern von den Flüchtlingsmärschen sehen, ihr Kopftuch ablegen? Kopftuch oder Leben?

Benhabib: Verglichen mit Frankreich ist die deutsche Gesellschaft in diesem Punkt toleranter geworden. Ich will eins betonen: Vom Kopftuch her lässt sich nicht darauf schließen, wie die Lage der Frau in ihrer Familie ist. Viele Frauen tragen ein Kopftuch, weil sie sich auf der Straße frei bewegen wollen in einer konservativen Gesellschaft. Sie möchten einen Beruf ausüben, ohne belästigt zu werden. Und teilweise sind sie wirklich fromm, das ist ihre Religiosität und Identität. Man muss sehen, dass es unter den jetzigen Migranten sehr viele arbeitende Frauen gibt. Paradoxerweise gerade unter den Frauen aus dem Irak. In Saddam Husseins Irak gab es ein hohes Maß an Frauenausbildung. Viele Frauen werden hier die normalen Dilemmata von Integration erleben.

ZEIT ONLINE: Können Sie verstehen, dass deutsche Frauen mit Sorge sehen, dass jetzt viele männliche Migranten aus Kulturen kommen, in denen über Frauen anderes gedacht wird als in Deutschland nach einem Jahrhundert der Frauenbewegung?

Benhabib: Kann sein. Aber wie Gyatteri Spivak gesagt hat: Beim Feminismus geht es nicht darum, dass Männer aus der Ersten Welt Frauen vor den Männern der Dritten Welt beschützen. Verstehen Sie? Wir müssen auch zusehen, dass wir Migranten nicht noch einmal stigmatisieren.

ZEIT ONLINE: Sie wünschen sich eine Vertiefung der demokratischen Prozesse durch eine sogenannte Iteration, einen Prozess der Diskussion, in dem alle bereit sind, ihre Position auch zu verschieben. Jetzt kommen viele Menschen nach Europa, die schon aus Gründen der Sprache von einem solchen Prozess ausgeschlossen sind. Was bedeutet das für ein demokratisches Gemeinwesen?

Benhabib: Man muss den Menschen auf allen Ebenen ein Sprachrecht geben. Die Migranten dürfen nicht vier, fünf Jahre in einem Flüchtlingsheim sitzen, ohne Beteiligung. Wer Menschen von der Arbeitsgesellschaft fernhält, überlässt sie einem sozialen Tod. Man muss darauf insistieren, dass alle, die im Asylprozess sind, arbeiten dürfen. Und wir brauchen dringend auf transnationaler Ebene eine Klärung der Bedingungen, unter denen diese Menschen Staatsbürger werden können. Der Mensch lebt natürlich im Lokalen, und wird die lokale Ebene vernachlässigt, entstehen Probleme wie Rassismus, Ethnozentrismus, Ausschluss. Die Menschen brauchen Sprachunterricht und Arbeit.

ZEIT ONLINE: Eine persönliche Frage. Sie sind in der Türkei aufgewachsen in einer Familie sephardischer Juden. Sie haben Ihr Gefühl von Heimat beschrieben als ein Gefühl, „in der Türkei zu leben, ohne im ethnischen oder nationalen Sinne türkisch zu sein“. War es ein gutes Gefühl? Ein banges?

Benhabib: Es hatte süße Seiten und nicht so angenehme. Ich möchte sagen: Heimat sollte nicht überhöht werden. Heimat ist eine Sehnsucht. Heimat ist, wo man anfängt, nicht wo man landet. In Deutschland ist Heimat ein sehr aufgeladener Begriff. Psychoanalytisch gesprochen ist es eine Sehnsucht nach einer Welt ohne Verlust, wo man immer angenommen wird, nach einer Welt ohne Tragik, nach einer Welt ohne Ambivalenzen. Das ist eine normale Sehnsucht. Aber diese Welt gibt es nicht.

Kommentare geschlossen.