16. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlinge in der Türkei: ‚Vielleicht stürmen wir die Grenze'“ · Kategorien: Griechenland, Türkei · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Von Büyükada berichtet Hasnain Kazim

Die Heimat ist verloren, die Zukunft verwehrt: Tausende Syrer wollen aus der Türkei weiter nach Westen. Ermutigt durch die Bilder aus Deutschland und Schweden verabreden sie sich auf Facebook zum Marsch zur griechischen Grenze.

Was für ein Glück, dass Carrefour gerade Zelte im Angebot hat. Für 45 türkische Lira das Stück, gerade mal 13 Euro. Die Fluchtbehausung aus dem Supermarkt. Abbas kauft gleich vier davon. Das soll reichen für sich, seinen Bruder Nabil, noch einen Bruder, für die im achten Monat schwangere Schwester und deren Mann. Und natürlich für die beiden hübschen Irakerinnen Alia und Mona. Mit Alia ist Abbas seit ein paar Monaten zusammen. Ein Syrer und eine Irakerin in der Türkei. Ein Flüchtlingspaar. Sie haben sich hier auf Büyükada kennengelernt, auf der „großen Insel“ im Marmarameer, eine Schiffsstunde von Istanbul entfernt.

Die jungen Leute, alle Anfang zwanzig, wollen an diesem Dienstag aufbrechen, nach Europa, vielleicht nach Deutschland, vielleicht nach Schweden, sie wissen es noch nicht. Abbas ist vor ein paar Tagen zufällig auf eine Facebook-Gruppe gestoßen, in der sich Syrer zur gemeinsamen Flucht verabreden. Offiziell wollen sie an der türkisch-griechischen Grenze demonstrieren. Und inoffiziell?

„Vielleicht stürmen wir die Grenze“, sagt Abbas. „Aber es ist noch völlig unklar, was passieren wird.“

33.459 Mitglieder hat die Facebook-Gruppe am Dienstagnachmittag. Viele Leute sind das, aber wenig, wenn man bedenkt, dass fast zwei Millionen Syrer in der Türkei leben. Manche davon hoffen auf eine Rückkehr in ihre Heimat, wenn der Krieg dort irgendwann vorbei ist. Andere wollen in der Türkei bleiben. Viele zieht es aber weiter Richtung Westen.

„Das Problem in der Türkei ist, dass wir hier keine Rechte haben“, sagt Abbas. „Weil wir offiziell nicht arbeiten dürfen, werden wir als billige illegale Arbeitskräfte ausgenutzt.“ Abbas lebt seit gut einem Jahr in der Türkei. „Ich hab Agraringenieurwissenschaften in Aleppo studiert“, sagt er. „Bis mich auf dem Weg zur Uni bewaffnete Männer gestoppt haben.“

„Hau ab und lass dich nie wieder hier blicken“

Es waren Mitglieder der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS). „Einer hielt mir eine Waffe an den Kopf und forderte mich auf, mein letztes Gebet zu sprechen. Er hielt mich für einen von Assads Soldaten.“ Abbas, 24 Jahre alt, 1,80 Meter groß und kräftig, antwortete: „Ich bin doch Syrer wie du, Bruder. Warum willst du mich töten? Ich bin nur ein Student.“ Der IS-Mann überlegte es sich anders und sagte: „Hau ab und lass dich nie wieder hier blicken.“

Abbas packte seine Sachen und floh in die Türkei, zuerst nach Antakya, direkt an der Grenze. Ein Freund erzählte ihm, auf Büyükada sei es schön. Dort, auf der größten der Prinzeninseln, gebe es reiche Touristen und gut bezahlte Jobs. So kam Abbas hierher. Als Kellner in einem Dönerrestaurant verdiente er 1500 Lira im Monat. 430 Euro, für zwölf Stunden Arbeit am Tag, sieben Tage die Woche. „Ich hab Glück, mein Chef hat mir mein Geld immer ausgezahlt. Andere kriegen ihr Geld nicht. Sie können es aber auch nicht einklagen, wir arbeiten ja illegal.“ Er mietete eine Wohnung, die 750 Lira kosten sollte. Aber als der Besitzer herausfand, dass er ein syrischer Flüchtling ist, verdoppelte er den Preis. Abbas mietete sie trotzdem. „Jetzt wohnen wir zu neunt in einer Zweizimmerwohnung. So können wir sie uns leisten.“

Sein Bruder Nabil, 20, kam vor vier Monaten nach. Er wollte noch die Schule in Syrien abschließen, aber dann geriet er in einen Bombenhagel und flüchtete kurzentschlossen zu seinem Bruder nach Büyükada. Ohne Schulabschluss.

Am Wochenende sind weitere Angehörige aus Syrien gekommen. Die Lage ist furchtbar, der Krieg wütet, kein Ende in Sicht. Die auf Facebook geplante Massenflucht macht ihnen Hoffnung, dabei sein zu können auf dem Treck nach Europa. Ob sie je zurückkommen wollen nach Syrien? „Ich glaube nicht, dass das Land zu befrieden ist“, sagt einer. „Und wenn man diesen Aufwand betreibt, um in die Festung Europa zu kommen, will man nicht wieder weg, wenn man es geschafft hat.“

„Wahrscheinlich werden wir ja in Wäldern übernachten“

Am Montag fahren Abbas und Nabil zum Basar in Istanbul. Sie suchen nach Rucksäcken und Schlafsäcken für ihren Marsch nach Europa. „Wahrscheinlich werden wir in Wäldern übernachten“, sagt Abbas. „Und ich brauche einen externen Akku für unsere Mobiltelefone.“ Sie feilschen und versuchen, sparsam zu sein. Die Händler wissen, was sie verlangen können. „Ist trotzdem billiger, als 1200 Dollar pro Kopf für die lebensgefährliche Überfahrt an einen Schlepper zu zahlen“, sagt Abbas.

Würde er die Flucht übers Meer überhaupt wagen?

„Wenn ich das Geld hätte, ja.“

Mal machen sie Witze über den bevorstehenden „Campingurlaub“, dann wieder wirken sie bedrückt. „Am meisten Sorge macht mir meine schwangere Schwester“, sagt Abbas. Was, wenn das Kind während der Flucht kommt?

Mehr als 250.000 Menschen haben es in diesem Jahr nach türkischen Angaben schon nach Griechenland geschafft, manche gehen sogar von einer halben Million und mehr aus. Am Dienstagmorgen macht die Nachricht von 22 Ertrunkenen die Runde, wieder Syrer, wieder auf dem Weg von der Türkei nach Griechenland. Damit sind seit Ende vergangener Woche mehr als 70 Menschen ertrunken, darunter Kinder, der bekannteste Fall ist der des dreijährigen Jungen Alan Kurdi.

Kein Syrer wird heute befördert

Abbas, Nabil und ihre Gruppe wollen heute unbedingt los, keinen Tag länger warten. Weil Abbas‘ Chef, der Restaurantbesitzer, mitbekommen hat, dass er weiter nach Westen will, hat er ihn kurzerhand entlassen. Aus der Sicht des jungen Mannes hat es also keinen Sinn mehr, länger zu warten. Mit dem Bus wollen sie von Istanbul nach Edirne. „Von dort geht es sechs Kilometer zu Fuß zur griechischen Grenze“, heißt es auf der Facebookseite.

Aber auch die türkischen Sicherheitsbehörden wissen von den Plänen der Facebook-Gruppe. Am Mittag stoppen sie nahe Edirne Hunderte Flüchtlinge. Manche gehen von mehreren Tausend aus, die zu Fuß, in Autos und Bussen unterwegs Richtung Griechenland sind. Man habe Barrikaden errichtet, um sie aufzuhalten, teilt die Gendarmerie mit. Alle Fahrzeuge mit Syrern werden zur Umkehr gezwungen. Manche versuchen, zu Fuß einen anderen Weg über die Hügel zu finden. Andere hoffen, stattdessen nach Bulgarien ausweichen zu können. Die Grenze dorthin ist auch nicht weit.

Abbas, Nabil sowie ihre Angehörigen und Freunde stecken in Istanbul fest. Das Busunternehmen verweigert ihnen die Fahrt nach Edirne. Wer wie ein Flüchtling aussieht, mit viel Gepäck, wird nach seiner Herkunft befragt. Und wer nicht beweisen kann, dass er kein Syrer ist, kommt nicht mit.

Sie wollen nun auf eine neue Chance warten, ein besseres Leben zu beginnen.

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