15. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Thema Nr.1“ · Kategorien: Deutschland, Medien

Quelle: FAZ

Kommen die Flüchtlinge eigentlich erst zu uns, seit wir mit Griechenland durch sind? Oder haben wir da lange etwas übersehen?

von Ralph Bollmann und Inge Kloepfer

Schön, dass es der deutschen Öffentlichkeit nie langweilig wird. Ein Großthema, bei dem man mitfiebern kann, gibt es immer. Den Sommer über verfolgten die Deutschen wochenlang das griechische Schuldendrama. Der schillernde Athener Finanzminister, sein grimmiger Berliner Kollege, dazu geschlossene Banken und Deadlines für Griechenlands Rettung: Spannender ging es kaum, bis Ende Juli der Grundsatzbeschluss über ein neues Hilfspaket gefasst war.

Erst dann hatte das schon länger schwelende Flüchtlingsthema überhaupt eine Chance. Rechtsradikale Randale im sächsischen Heidenau, erstickte Syrer im Lkw, ein toter Junge am Strand – und schließlich eine ungewohnt entschlussfreudige Kanzlerin („Wir schaffen das“), die an einem einzigen Krisenwochenende Zigtausende per Flüchtlingszug ins Land ließ. Auf dem Münchener Hauptbahnhof spielten sich Szenen ab wie beim Fall der Mauer. Flüchtlinge hielten Fotos von Angela Merkel in die Kameras, es erinnerte an die „Helmut, Helmut“-Rufe von einst.

Gleichzeitigkeit von Debatten wird immer seltener

Seit Sonntagabend gibt es nun wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich. Das Migrationsthema wird dadurch aber natürlich nicht verschwinden. Es bleibt ein ernstes, großes Thema, ein historisches womöglich. Aber warum erst jetzt? So geht es schon seit Jahren: Gelangt ein Großthema an sein Ende, baut sich schon das nächste auf – ganz übersichtlich eines nach dem anderen. Die Flauten dazwischen werden immer seltener, die Gleichzeitigkeit mehrerer Debatten auf einmal allerdings auch. Kaum sind die Griechen gerettet, kommen pünktlich Zehntausende von Flüchtlingen in Deutschland an. Oder etwa nicht?

Natürlich waren die Flüchtlinge vorher schon da, die Zahl der Einwanderer steigt seit Monaten. Aber lange hat sich kaum jemand dafür interessiert. Das liegt an der gewandelten Struktur der Öffentlichkeit. Beschleunigung, Smartphones, wachsende Entpolitisierung: Vieles kommt zusammen, sagt der Mainzer Kommunikationswissenschaftler Hans Mathias Kepplinger. Die Aufmerksamkeit des Durchschnittsdeutschen reiche heute nur noch für ein oder maximal zwei Themen. Vor einigen Jahren seien es noch drei oder vier gewesen.

„Das ist ein Kampf um ganz wenige Plätze“, sagt Kepplinger über die Konkurrenz der Großthemen. „Es geht nicht um die Bedeutung des Themas an sich, es geht um die Wettbewerbslage.“ Gerade auch in den oberen Gesellschaftsschichten nehme das politische Interesse ab.

Die Flüchtlinge waren im April schon mal Thema

Themensetzung und Bewertung würden nicht mehr voneinander getrennt, weshalb auch die Tonlage immer einheitlicher werde: In der Schuldenkrise waren die Deutschen die vermeintlichen Opfer, die für die angeblich faulen Griechen zahlen sollten. Jetzt sind die Flüchtlinge die Opfer, und die Einheimischen sehen sich als großzügige Helfer. „Das Flüchtlingsthema ist sogar noch emotionsgeladener als Griechenland“, glaubt Kepplinger.

Dabei haben die Deutschen die Flüchtlinge zwischenzeitlich nur vergessen oder verdrängt. Im April waren sie schon mal Thema. Die Kanzlerin hatte den Ukraine-Konflikt durch die Minsker Friedensgespräche gerade notdürftig beruhigt, ebenso das Griechen-Drama durch ihre Einladung an Tsipras. Dann starben binnen einer Woche 1200 Flüchtlinge vor der libyschen Küste. Sofort war das Thema wieder da. Die Staats- und Regierungschefs beschlossen am 23. April, den Kampf gegen Schlepperbanden auch mit militärischen Mitteln aufzunehmen. Doch kurz darauf drängten sich wieder andere Themen nach vorn.

Im Juni war das Problem eigentlich nicht mehr zu übersehen. Am Monatsanfang gab die europäische Grenzschutzagentur Frontex bekannt, die Zahl der in Griechenland ankommenden Flüchtlinge habe sich seit Jahresbeginn um 500 Prozent erhöht. Mitte des Monats begann Ungarn mit dem Errichten eines Zauns an der Grenze zu Serbien. Am Monatsende schließlich befassten sich die Staats- und Regierungschefs in Brüssel mit dem Thema. Einen ganzen Abend, rund vier Stunden lang, redeten sie sich die Köpfe heiß.

Merkel: „Größte Herausforderung“

Der italienische Premier Matteo Renzi knöpfte sich die Kollegen aus Osteuropa vor, die eine Aufnahme von Flüchtlingen verweigerten. „Wenn das eure Vorstellung von Europa ist, dann könnt ihr sie behalten“, schleuderte er ihnen entgegen. In der nächtlichen Pressekonferenz sprach Merkel von der „größten Herausforderung, die ich jedenfalls in meiner Amtszeit bezüglich der Europäischen Union gesehen habe“. Die Botschaft war klar: Im Vergleich zur Flüchtlingskrise verblasste selbst das griechische Schuldendrama.

Der Satz wurde kaum wahrgenommen, und wenn, dann als Ablenkungsmanöver. Den Gipfel beherrschte in der Wahrnehmung das Thema Griechenland. Selbst die dortigen Flüchtlinge interessierten nur als Drohkulisse im Schuldenstreit. Tags darauf verkündete der Athener Premier seinen spektakulären Referendumsplan. Von Asylbewerbern war jetzt erst recht keine Rede mehr.

Zu diesem Zeitpunkt schienen die Flüchtlinge für die Deutschen noch weit weg zu sein – in Italien, Griechenland, Ungarn. In Deutschland kamen bis Mai jeden Monat zwischen 30 000 und 40 000 Flüchtlinge an, von ihnen stellen rund 80 Prozent einen Asylantrag. Das waren noch nicht die Zahlen des Sommers, aber bereits deutlich mehr als die durchschnittlich 20 000 monatlichen Neuankömmlinge des Vorjahres. Am 18. Juni beschloss ein erster „Flüchtlingsgipfel“ im Kanzleramt, die Hilfen für die Kommunen auf eine Milliarde Euro im Jahr zu verdoppeln.

Die Öffentlichkeit starrte weiter nach Griechenland

Wer mit Abgeordneten sprach, hörte schon länger die Sorge, die wachsende Zahl von Asylbewerbern könne zu Unmut in der Bevölkerung führen. Kommunalpolitiker klagten über die steigende finanzielle Belastung der Städte und Gemeinden. Es gab Brandanschläge auf Unterkünfte für Flüchtlinge. In Tröglitz in Sachsen-Anhalt trat schon im März der Bürgermeister zurück, weil NPD-Anhänger vor seinem Haus gegen ein Heim für Asylbewerber protestierten.

Aber bereits im Juni erreichten die Zahlen eine neue Dimension. Fast 54 000 Flüchtlinge kamen nun, das waren beinahe 50 Prozent mehr als im Mai. Aber als wirklich großes Thema drang das nicht durch. Auch der zuständige Innenminister Thomas de Maizière hielt noch lange an seiner Schätzung von Anfang Mai fest, es würden 2015 voraussichtlich 450 000 Asylanträge gestellt.

Die Öffentlichkeit starrte weiterhin nach Griechenland – oder nach Brüssel, wo sich die Zukunft des Landes entschied. In der Nacht zum 13. Juli einigten sich die Staats- und Regierungschefs nach dramatischen Verhandlungen auf ein drittes Hilfspaket, im Zentrum des Interesses stand der deutsche Finanzminister und dessen Drängen auf ein Ausscheiden Athens aus der Währungsunion.

Ganz großes Kino: Giannis Varoufakis

Es war seit Wochen ganz großes Kino, der Grieche Giannis Varoufakis mit Lederjacke auf dem Motorrad, der Deutsche Wolfgang Schäuble mit grimmiger Miene im Rollstuhl. Da konnten unbekannte Tote im Mittelmeer oder anonyme Flüchtlingszahlen nicht mithalten. Bis zur ersten Bundestagsabstimmung am 17. Juli hielt die Griechen-Spannung an, danach sackte sie in sich zusammen. Am Montag, dem 20. Juli, brachte es das Thema ein vorerst letztes Mal zum Aufmacher der F.A.Z.

Danach herrschte vorerst Nachrichtenflaute. Das Flüchtlingsthema entwickelte sich nur zaghaft. Es gab Debatten um höhere Finanzhilfen für die Kommunen, eine Prognose über das Wachstum der Weltbevölkerung schürte Ängste vor künftigen Flüchtlingsströmen, das Statistische Bundesamt veröffentlichte die bereits sehr hohen Asylbewerberzahlen des Vorjahres. Als wichtiger galt vielen im politischen Berlin, dass der Generalbundesanwalt gegen zwei Blogger wegen des Verdachts auf Landesverrat ermittelte. Er hatte das Pech, ins Nachrichtenloch zwischen Griechen und Flüchtlingen zu fallen, und musste zurücktreten.

Dabei waren die Flüchtlingszahlen im Juli beeindruckend genug, fast 83 000 Menschen erreichten in diesem Monat das Land. Die Behörden kamen nicht mal mit den Formalitäten hinterher, nur 37 000 Asylanträge wurden registriert. Im August stieg die Zahl der Neuankömmlinge auf mehr als 100 000.

Die Realität wird überzeichnet

Am 16. August war die Kanzlerin aus dem Urlaub in Südtirol zurück, im Sommerinterview des ZDF wiederholte sie sinngemäß den Satz vom EU-Gipfel zwei Monate zuvor. Sie sagte über Flüchtlinge und Bürgerkriege: „Diese Fragen werden uns sehr, sehr viel mehr beschäftigen als die Frage Griechenlands und die der Stabilität des Euro.“ Ein paar Tage später korrigierte der Innenminister, reichlich spät, seine Prognose: Rund 800 000 Flüchtlinge sollen in diesem Jahr kommen. Da weckte es kaum noch Leidenschaften, dass der Bundestag fast zur gleichen Zeit das dritte Hilfspaket für Athen endgültig durchwinkte.

Damit ist Platz für die Flüchtlingskrise, glaubt der Soziologe Serhat Karakayali, Mitarbeiter am Bundesinstitut für Migrationsforschung. Mit dem Abschluss der Verhandlungen haben sich die Nachrichten aus Griechenland erschöpft. Dann kam es zu einem Schneeballeffekt. Individuen orientierten sich am Verhalten anderer, sagt Karakayali, vor allem unter hohem Zeitdruck und moralischem Stress. Ein Mechanismus der Selbstverstärkung kommt in Gang. Die Realität wird in der Berichterstattung überzeichnet – und reagiert auf dieses Bild dann ihrerseits.

Nicht Texte, sondern Bilder machen den Unterschied, glaubt der Wissenschaftler: Das Foto des toten Jungen am Strand, das sich über die sozialen Medien sofort weltweit verbreitet, löste eine neue Welle der Hilfsbereitschaft aus. Wichtig ist, dass ein Thema die Gefühle anspricht. Die Bilder mobilisierten allerdings nicht jene, die der Aufnahme der Flüchtlinge ohnehin skeptisch gegenüberstehen. „Der Nachahmungseffekt beruht auf sozialer Ähnlichkeit“, sagt Karakayali. „Die mediale Welt schafft eine Stimmung des moralisch Erwünschten.“

Eine nie gekannte Zahl von Engagierten

So kommt es, dass sich eine nie gekannte Zahl von Bürgern ehrenamtlich engagieren will. In Meinungsumfragen geben bis zu 23 Prozent der Bürger an, sie wollten etwas tun. „Großereignisse funktionieren wie Ausnahmesituationen, in denen die normalen Gesetze des Sozialen außer Kraft sind“, glaubt der Wissenschaftler. „Aber die Momente des Außergewöhnlichen werden vergehen.“ Und dann kommt womöglich schon das nächste Thema.

Die Flüchtlingsdebatte nahm aber erst nach Merkels Sommerinterview richtig Fahrt auf. Denn eine Woche später kam Heidenau. Ein ganzes Wochenende lang, am 22. und 23. August, tobten sich Rechtsradikale in der Kleinstadt am Rande Dresdens vor einem ehemaligen Baumarkt aus, in dem gerade die ersten Asylbewerber eingetroffen waren.

Erst jetzt, auf dem Umweg über Gewalttaten gegen Flüchtlinge, errang das Thema endgültig die Alleinherrschaft über den öffentlichen Diskurs. Schon am Montag kam der Vizekanzler nach Heidenau und beschimpfte die Randalierer als „Pack“, am Mittwoch folgte die Kanzlerin, die schon seit Tagen lauthals zu einem solchen Besuch aufgefordert wurde.

„Wir schaffen das“

Jetzt ging es Schlag auf Schlag. Der Finanzminister ließ sich mit dem ungewohnt großzügigen Satz zitieren, am Geld solle die Betreuung der Flüchtlinge nicht scheitern. Der Bundespräsident redete über „Dunkeldeutschland“. Nur wenige Tage nach Heidenau entdeckte die österreichische Polizei im Laderaum eines Lkw 71 tote Flüchtlinge. Schließlich ging das Bild eines toten Flüchtlingsjungen um die Welt, der an einem türkischen Strand angeschwemmt wurde. Die Debatte war nun nicht mehr abstrakt, sie verband sich mit einem persönlichen Schicksal.

Aber die Flüchtlingskrise hatte auch ihre politische Heldin. Schon in ihrer Pressekonferenz zum Ende der parlamentarischen Sommerpause schwang sich die deutsche Kanzlerin zur Bekennerin auf. „Wir schaffen das“, sagte sie. Am vergangenen Wochenende traf sie in dramatischen Krisenrunden im Kanzleramt die Entscheidung: Die in Ungarn gestrandeten Flüchtlinge, zu einem großen Teil Syrer, durften nach Deutschland kommen. Auf dem Münchener Hauptbahnhof spielten sich die erwähnten Szenen ab.

Diese monothematische Überflutung spiegele die Realität im Land nur eingeschränkt wieder, glaubt der Hallenser Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz, der seit Jahrzehnten die Seelenlage der Deutschen erforscht. Viele Bürger nähmen die Rituale der „Willkommenskultur“ mit einem gewissen Befremden wahr.

Maaz fragt: Sind Beifallsbekundungen wie auf dem Münchener Bahnhof der Lage überhaupt angemessen? Welche Sogwirkung schaffen sie in Ländern, aus denen die Flüchtlinge kommen? In der Mehrheit der Bevölkerung dominiere nicht die Begeisterung über Deutschlands neue Rolle, glaubt Maaz, sondern tiefe Besorgnis.

„Auch unser exzessiver Lebensstil weckt Schuldgefühle“

Die besondere Durchschlagskraft der Bilder und Berichte erklärt der Analytiker mit dem Gefühl der großen Schuld, die Deutschland im vergangenen Jahrhundert auf sich geladen habe. „Jetzt haben die Deutschen die Chance, sich als gute Menschen zu präsentieren“, sagt Maaz. Und: „Auch unser exzessiver Lebensstil weckt Schuldgefühle.“ Die Menschen spürten, dass ihr Wohlstand auf Kosten anderer Länder erwirtschaftet ist. „Auch das muss irgendwie geheilt werden.“

In Griechenland ist die Krise unterdessen längst nicht zu Ende. Der Alltag ist noch immer beschwerlich, Neuwahlen stehen bevor. Es gäbe viel zu berichten aus dem Land, von dem noch vor wenigen Wochen das Schicksal Europas abzuhängen schien. Aber das findet derzeit keinen Niederschlag in der Berichterstattung.

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