15. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Apathisch und wütend im Niemandsland“ · Kategorien: Balkanroute, Serbien, Ungarn

Quelle: Zeit Online

Nach dem Inkrafttreten von Ungarns Notstandsgesetzen sitzen Tausende Flüchtlinge zwischen Serbien und der Grenze fest. Zurück will keiner, die Verzweiflung wächst.

Von Thomas Roser

Vergeblich rütteln die verhinderten Grenzgänger am Gattertor. Nach 16-tägiger Odyssee ist auch der schmächtige Maher, ein Student aus Damaskus, fast am Ziel. Bis auf zwei Meter ist er an die EU herangekommen. Doch nun trennt ihn Stacheldraht von dem blauen Schild mit dem Sternenbanner der EU am Grenzübergang Horgoš 2.

Und dann sind da auch noch die ungarischen Grenzwächter in ihren blauen Kampfanzügen. Stoisch lassen sie die wütenden oder bittenden Zurufe der im Niemandsland zu Serbien ausgesperrten Flüchtlinge über sich ergehen. Seine Freunde hätten in der Nacht die Grenzpassage über die Wälder gewagt, erzählt Maher. „Die sind jetzt in Wien. Wir haben es auf dem legalen Weg versucht und können nun weder vor noch zurück. Wir hängen fest.“

„Chaos in Horgoš“, vermeldet schon am Morgen nach Inkrafttreten der ungarischen Notstandsgesetze die serbische Agentur Tanjug. Tatsächlich versperren nicht nur Zelte, Übertragungswagen und die Kleintransporter der Hilfsorganisationen die Zufahrtsstraße zum abgesperrten Grenzübergang. Rat- und orientierungslos ziehen lange Kolonnen von Menschen über die nahe Autobahn.

Vor einer Containertür im silbern glänzenden Stacheldrahtzaun suchen Hunderte Einlass in eine abgezäunte „Transitzone“. Doch nur wenige werden in unregelmäßigen Abständen an dem sogenannten legalen Zutrittspunkt zur Abnahme von Fingerabdrücken hereingelassen.

Mal geht das Grenztor kurz auf, dann wird unvermittelt die gesamte Autobahn mithilfe beweglicher Tore komplett abgesperrt. Noch sei schwer vorherzusehen, wie die Flüchtlinge auf die praktisch vollständige Abriegelung des Grenzübergangs reagieren werden, sagt in der Morgensonne der Arzt Johannes Kortmann von der deutschen Hilfsorganisation Humedica: „Die Situation ändert sich ständig.“

„Unsere neue Heimat“

Apathie und Wut macht sich auf den verdorrten Maisfeldern und versengten Wiesen rund um die beiden für die Flüchtlinge unüberwindbar gewordenen Grenzübergänge breit. Schon seit 13 Tagen ist der stoppelbärtige Basel mit drei von seinen Freunden aus Damaskus in Richtung seiner in Dortmund lebenden Familie unterwegs. Wie es weitergehen soll, wisse er nicht, sagt der Rechtsanwalt verbittert. „Wir haben kein Geld mehr, jeder hat uns unterwegs abkassiert – und fast all unser Gepäck wurde von Dieben gestohlen. Und nun scheint das unsere neue Heimat zu werden.“

1.300 Menschen hatten die Nacht vor den abgeriegelten Grenzgängen verbracht. Doch mit den Neuankömmlingen hat sich ihre Zahl im Lauf des Dienstags bald auf mehrere Tausend erhöht. Die Regierung Belgrad werde keine von Ungarn ins Niemandsland abgeschobenen Flüchtlinge zurücknehmen, hatte am Vorabend Serbiens Sozialminister Aleksandar Vulin gewarnt.

Doch die meisten der in Horgoš Ausgesperrten scheinen an einem längeren Aufenthalt in ihrem unfreiwilligen Gastland ohnehin kein Interesse zu haben. „Wir wollen nicht zurück. Nachher stecken uns die Serben in ein Camp“, sagt Maher: „Heute warten wir noch ab. Wenn die Grenze zubleibt, versuchen eben auch wir den illegalen Weg über die Grenze.“

Suche nach alternativen Routen

Über 60 Verhaftungen von Flüchtlingen, die den Grenzzaun zerschnitten haben, vermeldet bis Dienstagmittag stolz die ungarische Polizei. An der Grenze zwischen Griechenland und Mazedonien verteilen Helfer derweil bereits Flugblätter mit der Empfehlung, Ungarn zu meiden – und das Flüchtlingsglück auf der noch kaum genutzten Westroute über Kroatien und Slowenien nach Österreich zu suchen. Von einer östlichen Ausweichroute geht derweil offenbar Ungarns Regierung aus – und kündigt den baldigen Bau weiterer Zäune an der Grenze zu Rumänien an.

Auf der serbischen Seite des Stacheldrahtzauns macht sich unter den Flüchtlingen Verzweiflung breit. Auf der ungarischen wird aufgeräumt. Neben den Zäunen des leergefegten Aufnahmelagers in Röszke sammeln Müllmänner zurückgelassene Zelte, Taschen und Abfallberge ein. Nicht nur Plastiktoiletten und Strom-Aggregate werden auf Laster gewuchtet. Auch die Hilfsorganisationen brechen ihre Zelte ab. Die meisten ihrer Kleintransporte fahren in den serbischen Süden, andere nach Norden. „Habt ihr schon eine Mitfahrgelegenheit nach Wien?“, fragt eine blonde Helferin ihre sich verabschiedenden Mitstreiter.

Für die Ausgezäunten in Horgoš ist das nur vier Fahrtstunden entfernte Österreich dagegen ein sehr fernes Ziel. Auch der einstige Bahndamm ist für die Flüchtlinge zur abgezäunten Sackgasse geworden. „Wo sollen wir hin?“, fragt am Ortsausgang von Horgoš ratlos der braun gebrannte Kifa. Zwei Wochen hat der wuchtige Syrer mit seinem Vater unermüdlich Berge, ein Meer und Grenzen überquert. Doch nach dem vergeblichen Marsch über den abgesperrten Schienenstrang weiß der Französisch-Lehrer aus Damaskus nicht mehr weiter: „Gibt es von Serbien noch einen anderen Weg nach Wien? Wie weit weg ist Slowenien?“

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