07. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Ungarns Flüchtlingschaos: Willkommenskultur à la Guantanamo“ · Kategorien: Balkanroute, Ungarn · Tags:

Quelle: Spiegel Online

Flüchtlinge in Ungarn leben abgeschottet in Lagern, sie schlafen auf dem kalten Boden im Freien. Der Staat scheint unfähig, für viele auch nur eine Notversorgung zu organisieren. Steckt dahinter Absicht?

Von Keno Verseck

Ein drei Meter hoher Zaun, oben Nato-Stacheldraht, dahinter bewaffnete Wächter und Bereitschaftspolizisten in Kampfmontur. Das ist der erste Ring. Hier parken Autos und Busse, stehen Baracken und Sanitätszelte. 30 Meter hinter dem ersten folgt der zweite Ring, ein Zaun immerhin ohne Stacheldraht – er umgibt das Zeltlager, in dem die Flüchtlinge untergebracht sind.

Draußen vor dem Lager kommen immer neue Menschen an, sie müssen sich, dicht gedrängt, auf den Sandboden setzen, werden bewacht von einem Kordon aus Bereitschaftspolizisten mit Mundschutz und Gummihandschuhen. Ein Schäferhund bellt die auf dem Boden hockenden Menschen an.

Das neue Erstaufnahmelager Röszke an der ungarisch-serbischen Grenze – Willkommenskultur, die an Guantanamo erinnert. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen haben keinen Zutritt, Journalisten natürlich erst recht nicht.

Zwei Kilometer weiter entfernt, direkt an der Grenze, bietet sich ein völlig anderes Bild. Von militärisch-martialischer Performance keine Spur: Hunderte Menschen drängen sich auf einem völlig vermüllten Acker neben Bahngleisen. Es ist der Ort, an dem die Flüchtlinge nach ihrem Grenzübertritt zuerst ankommen.

Polizisten hindern sie daran weiterzulaufen. Stundenlang warten die Menschen auf Busse, während freiwillige Helfer Essen, Getränke und Decken verteilen. Irgendwann ist das Erstaufnahmelager Röszke voll, deshalb müssen viele Flüchtlinge die kalte, windige Nacht zum Montag unter freiem Himmel verbringen. Die Behörden scheinen völlig überfordert mit der Situation, unfähig, eine minimale Notaufnahme zu organisieren. Immerhin, der Rettungsdienst kommt noch und versorgt erkältete, fiebernde Kinder.

Ungarn im Flüchtlingschaos, Behörden zwischen Planlosigkeit und Polizeiwahn. Márk Kékesi, Sozialpsychologe an der Universität Szeged und einer der Mitbegründer der örtlichen Flüchtlingshilfe „MigSzol“, zu Deutsch Migrantensolidarität, ist nicht nur entsetzt über den chaotischen Umgang der Behörden mit der Flüchtlingssituation. Er hat, nach Monaten täglicher freiwilliger Arbeit vor Ort, inzwischen auch den Eindruck, dass dahinter System steckt. „Ich bin kein Anhänger von Verschwörungstheorien“, sagt Kékesi, „aber die Behörden schaffen ein immer größeres Durcheinander. Womöglich braucht die Regierung das, damit ihre Ordnungsrhetorik in den Augen der Bürger glaubwürdig klingt.“

Mitarbeiter der ungarischen Menschenrechtsorganisation Helsinki-Komitee, die unter anderem die Situation der Flüchtlinge im Land überwacht, erheben ähnliche Vorwürfe. „Die Regierung hat keinerlei politischen Willen, die Lage der Flüchtlinge zu verbessern“, sagt Márta Pardavi, die Co-Vorsitzende der Organisation. Der ungarische Staat lehne seit Langem alle Hilfsangebote internationaler Organisationen wie des Uno-Flüchtlingshilfswerkes ab, so Pardavi. „Die Flüchtlinge, die natürlich unzufrieden sind, sollen der Öffentlichkeit im Land als aggressiv präsentiert werden“, so Pardavi. „Und nach außen hin soll das Bild entstehen, dass die Zustände in Ungarn unhaltbar sind, damit andere Länder wie Österreich und Deutschland das Problem lösen und man keine Flüchtlinge aufnehmen muss.“

Tatsächlich lässt Ungarn immer wieder Flüchtlinge ungehindert ausreisen. Letzte Woche noch hieß es, der Bustransport von mehreren Tausend Menschen, die am Budapester Ostbahnhof tagelang kampiert hatten, sei eine einmalige humanitäre Aktion gewesen. Am Samstag nahm die ungarische Eisenbahngesellschaft MÁV den internationalen Zugverkehr nach Westen wieder auf, nachdem der Betrieb zuvor mehrere Tage lang ausgesetzt gewesen war. Zugleich konnten Flüchtlinge an Bahnhöfen und aus Aufnahmelagern ungehindert internationale Bahnfahrkarten kaufen. Eigentlich ein Verstoß gegen das Dublin-Abkommen – doch Regierungschef Viktor Orbán betont immer wieder, vor allem Deutschland sei mit seinen widersprüchlichen Aussagen zur Duldung von Flüchtlingen verantwortlich für die Krise.

Balkanroute 2

„Keine größere islamische Gemeinschaft im Land“

Ungarn jedenfalls habe das Recht zu bestimmen, dass es keine plötzliche Veränderung seiner ethnischen Zusammensetzung wolle, sagte Orbán am Montag bei einer Konferenz ungarischer Diplomaten in Budapest. Außerdem wolle Ungarn nicht in einer muslimischen Zivilisation leben, es sei ein christliches Land, deshalb wolle man „keine größere islamische Gemeinschaft im Land haben“.

Die Menschen aus den islamischen Krisengebieten würden nicht aus Sorge um ihre Sicherheit nach Westeuropa fliehen, schließlich würden sie bereits in der Türkei, Griechenland, Mazedonien und Serbien nicht mehr bedroht, sagte Orbán. Die Flüchtlinge kämen, weil sie sich das Leben in Deutschland ausgesucht hätten. Aus „moralischen Gründen“ rufe er die Migranten auf, nicht mehr über Ungarn nach Europa zu reisen, denn er könne keine Verantwortung dafür übernehmen, was mit ihnen unterwegs geschehe.

Und was sagen die Ungarn? Zwar zeigen Meinungsumfragen vom Sommer, dass eine Mehrheit hinter Politik und Rhetorik ihres Regierungschefs steht. Doch zugleich erlebt das Land derzeit auch eine zunehmende Welle der Hilfsbereitschaft gegenüber Flüchtlingen. „Es gibt zwar noch keine neuen Untersuchungen dazu“, sagt der Politologe Péter Krekó vom Budapest Institut Political Capital, „aber ich habe den Eindruck, dass immer mehr Menschen im Land, darunter auch Wähler der Regierungspartei, die xenophobe Rhetorik und Politik der Regierung übertrieben finden.“

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