05. September 2015 · Kommentare deaktiviert für Kommentar: Fünf vor Zwölf · Kategorien: FFM-Texte, Kommentar, Ungarn

Eine neue Eskalationsstufe ist erreicht. Während Orbán gestern in Brüssel den Dicken Mann markierte, wurden in Budapest 500 Migrantinnen in einen Zug gelockt, der sie nicht an die Grenze brachte, sondern in Bicske, 40 km hinter Budapest, von der ungarischen Polizei zum Halten gebracht wurde. Die Migrantinnen sollten in Busse umsteigen und in ein Lager transportiert werden. Aber sie weigern sich – jetzt, 30 Stunden später, steht der Zug noch immer vor Ort. Noch zögert die Polizei mit der gewaltsamen Räumung.

Unterdessen sind tausende Migrantinnen, die den Zaum überquert haben, in einem Lager in Röszke, gleich hinter der serbisch-ungarischen Grenze, interniert worden. Das Lager ist von einer Polizeikette umstellt – dennoch konnte eine Gruppe von 300 Personen fliehen. Sie werden von der Polizei gejagt. Weitere 2300 Personen haben gedroht, noch heute gemeinsam auszubrechen. Der Grenzübergang Röszke wurde gesperrt.

Auch aus dem Lager in Bicske sind einige dutzend Migrantinnen aufgebrochen. Zur gleichen Zeit haben sich heute Mittag mehr als zweitausend von Keleti-Bahnhof aus auf den Weg gemacht. In einer langen, traurigen Kolonne wollen sie die 175 km entfernte Grenze nach Österreich zu Fuß auf der Autobahn erreichen. Die Fluchthelferszene konzentriert sich derweil auf den Handel mit syrischen Pässen.

Auch in Griechenland wendet sich das Blatt. Die Krise der Syriza-Regierung drückt sich auch darin aus, dass einzelne Polizisten gegen die Migrantinnen auf den Ägäis-Inseln Blendgranaten und Tränengas einsetzen. Ist das schon der Anfang vom Ende des kurzen Sommers der Migrationen?

Derweil warten freiwillige Helfer mit Nahrungsmitteln und Getränken am Hauptbahnhof in München vergeblich auf Hilfsbedürftige.

Es ist ja offensichtlich, dass Orbán mit den Migrantinnen spielt, um seine autoritären Ambitionen demonstrativ zu untermauern: Härte, Aussonderung, Lagerhaft als Nachweis seiner Entschlossenheit. Auch will er Druck auf Merkel ausüben. Er würde die Migrantinnen durchaus gern nach Deutschland ausreisen lassen und sich als Sieger feiern lassen. Aber machen wir uns nichts vor. Die selben Politiker, die das Engagement der Freiwilligen in Deutschland loben und den Polterer Orbán kritisieren, erinnern Ungarn im nächsten Halbsatz daran, dass das Land verpflichtet sei, die Migrantinnen aufzuhalten, zu registrieren und zu internieren. Die politische Klasse betreibt eine bewusste Politik der Ambivalenz, die im Mittelmeer zehntausende Tote zu verantworten hat und nun in Ungarn dazu beiträgt, dass wieder Konzentrationslager auf europäischem Boden entstehen. Das ganze Gerede vom solidarischen Handeln der EU-Partner ist doch nur kalter Nebel – eine Inszenierung, die vom Leid der Migrantinnen und von der Pflicht zur Humanität ablenken soll. Es wäre ohnehin von vornherein und in jeder Hinsicht besser, nicht die Migrantinnen zu verteilen, sondern die Hilfsgelder.

Der einzige Weg der Deeskalation wäre, dass die deutsche und die österreichische Regierung sich sofort zur Übernahme aller Migrantinnen aus Ungarn bereit erklären. Sie hätten nichts zu befürchten. Die große Mehrheit der Bevölkerungen in diesen Ländern stünde hinter ihnen.

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