04. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Lasst doch die Flüchtlinge das Land selbst aussuchen“ · Kategorien: Europa, Lesetipps · Tags: , ,

Quelle: FAZ

Freiheit, Sicherheit und Recht: Das ist Europa denen, die hierhin wollen, schuldig. Alles andere wäre eine Bankrotterklärung. Ein Gastbeitrag.

von Ludger Pries

An der Art und Weise, wie wir Europäer diese Herausforderung durch Flüchtlinge bewältigen, wird sich entscheiden, welches Europa wir den nächsten Generationen hinterlassen. Es gibt viele gute Gründe, die um Aufnahme Ersuchenden in größerem Umfang und geeint tatsächlich als das „Europa der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu behandeln. Diese Selbstbeschreibung der Europäischen Union muss sich an ihrem Umgang mit Flüchtlingen messen lassen.

Zunächst sind die EU-Länder völker- und menschenrechtlich, aber auch moralisch aufgrund des eigenen Selbstverständnisses dazu verpflichtet, all den Menschen vorübergehenden Schutz und eine Grundsicherung zu gewähren, die wegen ihrer Religion, Rasse, Nationalität, politischen oder Geschlechter-Orientierung flüchten mussten. Allein der Hinweis, dass andere Staaten diesen Geboten des Rechtes und der Menschlichkeit noch weniger Beachtung schenken, kann kein Grund für Wegsehen oder Untätigkeit sein. Die Hauptbürden der Aufnahme von Flüchtlingen tragen viel ärmere Länder in Afrika und im Nahen Osten.

Keine Alternative zur Öffnung für Einwanderung

Deutschland hat vor dem Hintergrund seiner jüngeren Geschichte eine besondere Verantwortung in Flüchtlingsfragen. Das moderne globale Flüchtlings- und Asylrecht ist aus einschneidenden Erfahrungen entstanden. Unser Land profitiert wie kaum ein anderes von der Globalisierung. Kaum ein anderes Land kann seinen Bewohnern vergleichsweise gute und stabile Lebensbedingungen bieten. Weil Deutschland von der ökonomischen Globalisierung so stark profitiert, kann es sich nicht bei anderen Aspekten derselben Globalisierung – und dazu zählen Flucht und Migration – einfach wegducken oder so tun, als hätte unser relativer Wohlstand nichts mit den Produktions- und Lebensbedingungen in anderen Teilen der Welt zu tun.

Unter rein utilitaristischen Gesichtspunkten gibt es zur Öffnung für Einwanderung keine Alternative. Deutschland braucht für die nächsten dreißig Jahre eine jährliche Nettozuwanderung von etwa 300.000 Erwerbsfähigen. Dies wird nur möglich sein, wenn viele Menschen auch aus Afrika und anderen nichteuropäischen Regionen dauerhaft nach Deutschland einwandern. Ein Fünftel der zu uns kommenden Flüchtlinge ist sehr gut qualifiziert, alle sind arbeitsmotiviert. Die Attraktivität Deutschlands als Einwanderungsland wird sich daran zeigen, wie wir die Flüchtlinge aufnehmen und an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen teilhaben lassen.

Nicht nur auf hoher See einsammeln

Deutschland und auch die EU haben sich in den letzten Jahren in Flüchtlingsfragen durchaus verantwortlich gezeigt. Das von allen Mitgliedstaaten getragene Gemeinsame Europäische Asylsystem definiert Mindeststandards bei Unterbringung, Asylverfahren und Entscheidungskriterien. Studien zeigen, dass hierdurch für die EU-Mitgliedstaaten substantielle Verbesserungen im Asylrecht und der Asylpraxis angestoßen wurden. Dagegen blieb der Dublin-Mechanismus, der die Verantwortung für Asylverfahren dem jeweiligen EU-Ersteintrittsland zuschreibt, umstritten und ineffizient. Er muss flexibilisiert und um entsprechende Kriterien für eine europäische Verantwortungs- und Lastenverteilung ergänzt werden. Ein Konsens unter den EU-Mitgliedstaaten hierzu ist mindestens so wichtig wie ein gemeinsames Vorgehen zur Rettung verschuldeter Mitgliedsländer.

Ein Zurück zu nationalstaatlicher Regelung ist schlecht für Flüchtlinge, für die EU und die meisten ihrer Mitgliedsländer. Die EU wird als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts scheitern, wenn sie aus diesem politischen Projekt wesentliche Normen (Menschen-, Völker- und Asylrecht) und Menschengruppen (Flüchtlinge und Asylsuchende) einfach ausschließt. Nach den beschämenden Zahlen Tausender im Mittelmeer Ertrunkener helfen nun verschiedene Mitgliedsländer, die Flüchtlinge auf hoher See einzusammeln – um sie dann aber einfach einigen Ländern wie Italien oder Griechenland zu überlassen.

Das Dublin-Prinzip hat bisher eher zu organisierter Verantwortungsverschiebung durch Kompetenzgerangel geführt. Freie Mobilität innerhalb der EU ist nur zu haben, wenn es auch eine wirklich gemeinsam verantwortete Aufnahme und Verteilung von Asylsuchenden gibt. Denkbar wäre, dass Asylsuchende nach der Registrierung im Erstaufnahmeland selbst entscheiden, in welchem EU-Staat sie Asyl beantragen wollen. Unter- oder Überschreitungen von Landesquoten, die nach der Wirtschaftskraft und Bevölkerungsdichte festgelegt werden, könnten mit Auf- oder Abschlägen für die entsprechenden Länder verbunden werden.

Darüber hinaus sollten die Möglichkeiten des legalen Zugangs zu Asylgesuchen verbessert werden. Möglich wäre die Einführung eines humanitären Visums für Flüchtlinge, das in allen Auslandsvertretungen der EU und ihrer Mitgliedstaaten beantragt werden kann. Wichtig ist auch die kurzfristige Ausnutzung der bereits gegebenen Möglichkeiten vorübergehender Aufnahme von Flüchtlingen (wie etwa während der Jugoslawien-Kriege in den neunziger Jahren) sowie der dauerhaften Ansiedlung (resettlement). Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat im Zusammenhang des Syrien-Irak-IS-Krieges neben diesen Maßnahmen auch die erleichterte Aufnahme von Flüchtlingen aus medizinischen Gründen und zur Familienzusammenführung genannt sowie Programme zur erleichterten Arbeitsaufnahme für bestimmte Flüchtlingsgruppen und für Hochschulstipendien.

In Deutschland ist die Bereitschaft der Zivilgesellschaft, Flüchtlingen zu helfen, sehr groß. Im Vergleich zur Situation am Beginn der neunziger Jahre haben sich inzwischen in fast allen Städten und Regionen erstaunlich vielfältige Initiativen des ehrenamtlichen Engagements gebildet. Es mehren sich allerdings auch Anschläge auf die Unterkünfte Asylsuchender. Die nächste Generation Europäer wird irgendwann fragen, was wir in dieser Zeit getan haben angesichts der dramatischen Flüchtlingssituation, deren Ausmaß, Gründe und Folgewirkungen jeder kennen kann.

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