01. September 2015 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsmisere: Europas Schuld“ · Kategorien: Deutschland, Europa

Quelle: Spiegel Online

Ein Kommentar von Markus Becker

Europa hält sich von Kriegen lieber fern, beutet arme Länder aus, spart an Entwicklungshilfe – und trägt dadurch eine Mitverantwortung für das Flüchtlingsdrama.

Stellen Sie sich vor, sie lebten in einer Stadt mit 50.000 Einwohnern. Deren Verwaltung hat sich bereit erklärt, vier Flüchtlinge aufzunehmen. Prompt bricht ein erbitterter Streit darüber aus, wie die vier auf die Stadtteile verteilt werden sollen. Selbst nach Monaten des Verhandelns hat man sich nur auf die Unterbringung von dreien geeinigt. Über den vierten wird zunächst bis Jahresende weiterverhandelt.

Klingt absurd? Nichts anderes passiert derzeit in der EU. Deren 28 Mitgliedstaaten haben sich im Juni bereit erklärt, 40.000 Flüchtlinge, die nach mitunter gefährlichen und qualvollen Reisen in Griechenland und Italien angelandet waren, unter sich aufzuteilen. 40.000 – das ist weniger als ein Zehntausendstel der rund 507 Millionen EU-Bürger. Und nicht einmal über sie kann Europa sich einigen: Bisher hat sich nur für etwa 32.000 eine neue Bleibe gefunden.

Das Verteilungs-Geschacher bietet nicht nur ein unwürdiges Schauspiel. Es zeigt auch, wie hoffnungslos überfordert Europa ist. 107.000 Flüchtlinge sind laut der EU-Grenzschutzagentur Frontex allein im Juli angekommen, davon 50.000 in Griechenland. Und die EU-Staaten streiten noch bis Jahresende über die Verteilung von 8000.

Wenn es nur die Zahlen wären. Doch das Flüchtlingsdrama hat eine Seite von Europa enthüllt, die viele schon für überwunden hielten – und die nun feststellen müssen, wie sehr sie sich geirrt haben. Es sind nicht nur Ressentiments, die sich Bahn brechen. Flüchtlingen schlagen Rassismus und blanker Hass in einem Ausmaß entgegen, das fassungslos macht.

Versagen in der Entwicklungshilfe

Europas Politiker müssen ein Signal entgegensetzen, das über die bloße Behandlung der Symptome hinausgeht. Der Kampf gegen kriminelle Schleuser oder die Aufnahme von Flüchtlingen, selbst wenn sie in großzügigem Umfang geschähe, sind aber nicht viel mehr als das. Die Bekämpfung der Ursachen verlangt nach einer konzertierten Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik, die Überzeugungskraft, einen langen Atem und Geld kostet.

Darin aber haben die reichen Staaten bisher versagt. Die EU etwa hatte 2005 verkündet, die Ausgaben für Entwicklungshilfe bis 2015 auf 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung anzuheben. Doch selbst dieses bescheidene Ziel hat sie krachend verfehlt: Der Anteil dümpelt seit Jahren bei rund 0,4 Prozent. Für die afrikanischen Staaten südlich der Sahara, aus denen viele Flüchtlinge stammen, haben die EU-Länder ihre Entwicklungshilfe sogar zurückgefahren. Nach Angaben der OECD sank sie zwischen 2005 und 2013 inflationsbereinigt von 18 auf 12 Milliarden Dollar pro Jahr – ein Rückgang um ein volles Drittel.

Nun will die EU nach Informationen des SPIEGEL beim EU-Afrika-Gipfel im November auf Malta mehr als eine Milliarde Euro an zusätzlichem Geld für einen EU-Afrika-Treuhandfonds anbieten. Eine überschaubare Summe, deren Auszahlung darüber hinaus stärker als bislang davon abhängen soll, dass afrikanische Staaten Flüchtlinge ohne Asylanspruch zurücknehmen.

Schizophrenes statt nachhaltiges Handeln

So verkommt Entwicklungshilfe zum Ablasshandel – wie so oft. Dabei kann intelligent eingesetzte, langfristig wirkende Unterstützung ein probates Mittel gegen Fluchtbewegungen sein. Allerdings muss sie dafür von der Umwelt-, der Außen-, der Wirtschafts- und der Sicherheitspolitik flankiert werden. Und nicht zuletzt auch vom Verhalten der Verbraucher. Doch meist geschieht das genaue Gegenteil.

Die Europäer überweisen Hilfsgelder, wenn Stürme oder Fluten Tausende töten – blasen aber weiter fröhlich Treibhausgase in die Luft, was solche Wetterkatastrophen wahrscheinlicher macht. Sie bauen Märkte in armen Ländern auf, um sie dann mit subventionierten Produkten zu überschwemmen. Sie kaufen gern billige Kleidung, die für Hungerlöhne hergestellt wird. Sie lieben günstige Smartphones, für die Minerale unter katastrophalen Umständen aus der Erde gekratzt werden. Sie kaufen Früchte aus Ländern, die für den Anbau ihre letzten Wasserreserven verschleudern. Konflikten vor der eigenen Haustür sehen sie oft nur zu (wie in Syrien) oder verlieren sie nach einem kurzen Eingreifen aus den Augen (wie in Libyen). Die Folgen dieses Tuns treffen genau jene Länder, deren Menschen jetzt an Europas Grenzen stehen.

Natürlich kann Europa nicht jeden Krieg verhindern und jeden gescheiterten Staat aufbauen. Doch Europa muss für instabile und Not leidende Staaten bei Weitem mehr tun als bisher. Ansonsten darf es sich nicht wundern, wenn deren verzweifelte Bewohner in Richtung Hoffnung aufbrechen – und sich weder von Meeren noch von Zäunen aufhalten lassen.

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