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Birgit v. Criegern
Die Jagd auf Migranten bei Grenzkontrollen wird immer brutaler, berichten zahlreiche Menschenrechtsorganisationen
An der Abschottung Europas halten die führenden EU-Politiker auch nach dem neuen dramatischen Flüchtlingssterben vor Lampedusa fest. Die EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström, desgleichen auch der deutsche Innenminister Hans-Peter Friedrich vermeinen, das Problem liege wesentlich bei Schlepperbanden. Sie sollten sich von Jean Ziegler in der Zeitung „Schweiz am Sonntag“ belehren lassen. Der frühere UN-Sondergesandte für das Recht auf Nahrung verlangt die Abschaffung der Grenzkontrollagentur Frontex und ein erneuertes EU-Asylsystem, bei dem auch Hunger als Fluchtgrund anerkannt wird.
Doch geht es nach allgemeiner konservativer Sicht, gilt afrikanischen Geflüchteten meistens das Sprachdenkmal von den „Strömen“ und dem „Ansturm von Flüchtlingen“, so wie jüngst auch, als am 17. September mehr als hundert Flüchtlinge den Zaun der spanischen Exklave Melilla im Norden Marokkos erstürmten. Für eine gewohnte Sicht der EU-Politik erscheinen Flüchtlingsbewegungen unmittelbar am europäischen Territorium besonders interessant. Weniger interessant ist aber, was Flüchtlinge in Marokko erleben und wie die Sicherheitskräfte mit ihnen umspringen.
Von gestiegener Gewalt und unmenschlicher Behandlung gegen Migranten im Transitland Marokko berichtete seit Jahresfrist eine ganze Reihe von Menschenrechtsorganisationen. Ein Szenario, bei dem Geflüchtete in 2012 versucht hatten, den Frontex-Zaun bei der spanischen Exklave Melilla zu überwinden, verlief so:
Mehrere Dutzend Migranten schafften, die Zaunreihen zu überwinden. Einige konnten sich verstecken, wurden aber am nächsten Morgen eingefangen. Die Guardia Civil hat sie festgenommen, ihnen Füße und Hände gefesselt und sie den marokkanischen Sicherheitskräften übergeben. Letztere haben sie anschließend in eine isolierte Ecke geführt, geschlagen und durchsucht. Handys, Geld, Schmuckstücke und sogar Schuhe wurden ihnen abgenommen… Am Abend wurden sie zur algerischen Grenze gebracht. Unter ihnen ein 14- bis 15-Jähriger und zahlreiche Verletzte, denen man nicht erlaubt hatte, ein Krankenhaus aufzusuchen.
Diese Dokumentation vom „Rat der Subsahara-MigrantInnen in Marokko“ (CMSM) und der marokkanischen „Antirassistischen Gruppe für Begleitung und Verteidigung von Ausländern und Migranten“ GADEM vom September 2012 verweist auf „eine Gewalt, die man seit 2005 nicht mehr erlebt“ und schon überwunden geglaubt habe. Sie wird angewendet, wenn die marokkanischen und auch die spanischen Sicherheitskräfte bei Ceuta und Melilla sowie in der nordmarokkanischen Region gegen Flüchtlinge vorgehen. Berichtet wird, dass die Gewalt sich meist gegen subsaharische Personen richtet und solche, die den Verdacht erwecken, keine Papiere zu haben. Geschätzte 25.000 bis 40.000 papierlose Flüchtlinge leben auf marokkanischem Boden; nur 891 von ihnen haben in 2013 den Flüchtlingsstatus zuerkannt bekommen.
Dieses Jahr forderte die Gründlichkeit der Grenzkontrollen mindestens ein Todesopfer: Bei einer Razzia am 24. Juli in der Nähe von Tanger wurden Flüchtlinge aus ihrer Ghetto-Behausung geholt und in Busse gestoßen, dabei auch schwangere Frauen, mindestens ein Säugling und Minderjährige. Dabei wurde der Lehrer und Familienvater Alain Toussaint von den Sicherheitskräften aus dem Fenster des fahrenden Busses gestoßen. Er starb kurz darauf. Toussaint war sogar im Besitz eines gültigen Aufenthaltsdokuments gewesen, man ließ ihm nicht einmal Zeit, sich auszuweisen. Drei weitere Opfer der Abschiebeaktion wurden so schwer verletzt, dass man sie ins Krankenhaus bringen musste.
Seit 2012 werden zunehmend die Razzien betrieben, mit denen man die Wohnstätten bzw. Camps in Nordmarokko aufsucht, speziell in der Waldregion von Nador (bei Melilla), aber auch in verschiedenen Städten des Nordens wie Tetouan, El Houceima und Taourirt. Zahlreiche Geflüchtete verbleiben in diesen Gegenden, indem sie provisorische Behausungen errichten. Im Wald seien das oftmals hüttenähnliche Vorrichtungen aus Plastiktüten und Zweigen, wie die Organisation Ärzte ohne Grenzen berichtet. Die Menschen verblieben hier, nach einem weiten Fluchtweg, gänzlich schutzlos, ohne Arbeitsmöglichkeit und Anspruch auf medizinische Versorgung. Viele lebten vom Betteln. Die Verwundbarkeit der Geflüchteten steige, je länger sich ihr Aufenthalt in dem Land hinziehe.
In Antwort auf die brutalisierten Razzien hatte etwa das Netzwerk „Afrique-Europe Interact“ im Juli eine Briefkampagne gestartet.
Misshandlungen von Flüchtlingen sind an der Tagesordnung
Bei den Razzien erfahren die Betroffenen oft Misshandlungen, und ihre errichteten Hütten und ihre Habe werden zerstört. CMSM und GADEM berichten, dass jedoch zu Zeitpunkten, als sie Vertreter zu einer solchen Wohnstätte schickten, die Razzia von Sicherheitskräften abgebrochen wurde (z. B. im August 2012). Anstatt die Flüchtlinge einem Schutz und ordnungsgemäßen Asylverfahren zuzuführen, gehen die Sicherheitskräfte willkürlich gegen sie vor. „Die Urheber der Gewalt können in völliger Straflosigkeit handeln, weil sie wissen, dass die Mehrzahl der subsaharischen Migranten, die Opfer werden, keine ärztliche Versorgung, Schutz oder Justiz aufsuchen werden“, schreiben die „Ärzte ohne Grenzen“.
Im März 2013 veröffentlichten sie ihren Bericht über die Lage subsaharischer Flüchtlinge in Marokko: „Gewalt, Verwundbarkeit und Migration: Blockiert vor den Toren Europas“ in Bezug auf den jüngsten Abschnitt ihrer Arbeit vor Ort, die Jahre 2010 bis 2012 . Allerdings fanden in dieser Zeit nur wenige tausend Flüchtlinge den Weg zur Behandlung in den drei Stationen der ÄOG.
Das Dokument liefert Fallberichte von unvorstellbarer Brutalität, mit der gleichsam ein Krieg gegen Flüchtlinge geführt wird. In einem halben Jahr binnen 2012 sei der Prozentsatz von Personen um 19 Prozent gestiegen, die mit Verletzungen aufgrund direkter Gewalteinwirkung die Versorgungsteams von ÄOG aufgesucht hätten. Diese gingen von marokkanischen oder algerischen Sicherheitskräften oder – in geringerer Fallzahl – von Guardia Civil aus, in hohem Maße außerdem von Banden von Delinquenten und Menschenhändlern aus der Bevölkerung. 63 Prozent der befragten Flüchtlinge äußerten, dass sie in Marokko Gewaltakte erlebt hätten, und 43 Prozent hatten auf ihrem gesamten Fluchtweg Gewalt erduldet. Mit scharfen Sätzen beurteilt ÄOG etwa die brutalen Verhaftungen in Situationen, wenn Geflüchtete in Melilla versuchen, über die Zaunreihen zu klettern:
Der Missbrauch der grundlegenden Menschenrechte subsaharischer Migranten, die Gewalt, erniedrigende Handlungen und wichtige Einwirkungen auf ihre physische und psychische Gesundheit sind die direkten Folgen der „neuen Ära“ der spanischen und marokkanischen Beziehungen und der „exzellenten“ Zusammenarbeit in Sicherheitsaufgaben.
Eine „schockierend hohe Rate“ von sexuellen Misshandlungen
„Ende 2012 haben die Teams von ÄOG Patienten behandelt, die bestätigten, dass die Guardia Civil Gummigeschosse verwenden, um sie anzuhalten und zu schlagen.“ Mehreren Beispielen zufolge arbeitet die spanische Guardia Civil ganz direkt mit den marokkanischen Sicherheitskräften zusammen und führt ihnen Flüchtlinge zu. So partizipiert sie auch an Abschiebeaktionen von schwer Verletzten, schwangeren Frauen oder Minderjährigen. Das ist rechtswidrig laut marokkanischem Aufenthaltsgesetz Nr. 02-03.
September 2012 erreichten 43 verwundete Migranten die Büros von ÄOG in Oujda, nachdem sie von der marokkanischen Polizei zur algerischen Grenze abgeschoben worden waren. Sie berichteten dem Personal von ÄOG, , dass sie zu einer großen Gruppe gehörten, der es morgens am 3. September gelungen war, Melilla zu erreichen, aber von der Guardia Civil festgenommen wurden, die Gummigeschosse und Elektroschocker anwendete, um sie anzuhalten, und sie dann den marokkanischen Sicherheitskräften überführte, die sie schlugen. Mehr als die Hälfte der 43 Migranten benötigten sofortige medizinische Hilfe, darunter acht Personen, die man ins Krankenhaus überwies.
Am folgenden Tag traf ein weiterer Mann aus der Gruppe der Verletzten bei ÄOG ein, ein 27-Jähriger, dem man mit Gummigeschossen sein linkes Auge weggeschossen hatte.
Zahlreiche Erfahrungsberichte der Opfer ziehen sich durch den Bericht. Mohamed, 26 Jahre, erzählt von einer Festnahme, bei der er und seine Begleiter „überall geschlagen“ wurden, man trat „mit den Stiefeln ins Gesicht“ und traktierte ihn im Rücken mit einem Elektroteazer. Alles das passierte – ob durch marokkanische oder spanische Ausführende, ist an dieser Stelle nicht eindeutig -, als man die Geflüchteten verhaftete und in einen Kleinlaster verfrachtete.
Zu den von ÄOG dokumentierten Verletzungen zählen „Brüche von Armen und Gebissen, Gehirnerschütterungen, Kopfverletzungen und Wirbelsäulenverletzungen, sowie Augenverlust in zwei Fällen“, hinzu kämen die Traumatisierungen der Betroffenen. Begleitet sind die Berichte von Fotos der Personen, die Verstümmelungen und schwerste Verletzungen zeigen. Wiederholt wird berichtet, dass bei Inhaftierungen auch sexuelle Misshandlungen und Vergewaltigungen erfolgten. Sexuelle Gewalt wird zudem in besonders hohem Ausmaß durch zivile Personen oder Gruppen von Menschenhändlern ausgeübt, die die Opfer damit bedrohen, sie der Polizei zu übergeben. Das berichteten zahlreiche Opfer, so z. B. eine Frau, die in Tamanrasset in einem Haus von Menschenhändlern festgehalten und viele Male vergewaltigt wurde. Zwischen 2010 und 2012 behandelten ÄOG 700 Opfer sexueller Gewalt. „Eine schockierend hohe Rate von sexuellen Handlungen“ werde an subsaharischen Männern, Frauen und Kindern auf ihrem Fluchtweg verübt.
Seit Jahren arbeitet auch der Nationale Rat für Menschenrechte in Marokko CNDH zum Thema und veröffentlichte im September 2013 seinen aktualisiertes Bericht mit dem bezeichnenden Titel: „Ausländer und Menschenrechte in Marokko: Für eine radikal erneuerte Einwanderungs- und Asylpolitik.“
Erinnert wird daran, dass das Land seit hundert Jahren grundsätzlich ein Land der Einwanderung und der Aufnahme sei. Der CNDH plädiert dafür, den Status von mehr Migranten zu regulieren und sie in die marokkanische Gesellschaft zu integrieren, aber auch die Kontrollen gegenüber „irregulärer Migration“ mit menschenrechtlicher Sorgfalt zu betreiben (erinnert wird an zahlreiche ratifizierte Abkommen: das Prinzip der Nicht-Zurückdrängung gemäß der Genfer Konvention von 1951, die Konvention über die Kinderrechte, die Konvention zur Abschaffung von Diskriminierung und weitere). Dabei appelliert man sowohl an die marokkanische Regierung und ihre öffentlichen Kräfte wie auch an die europäischen Staaten.
König Mohammed VI signalisierte, den Bericht des CNDH ernst zu nehmen, und berief unverzüglich eine Sitzung mit mehreren Ministern zum Thema. Er erklärte öffentlich, dass eine Regulierung von mehr Migranten überdacht werden würde. „Es können aber nicht alle, die es wünschen, aufgenommen werden.“ Bestimmte Personen mit irregulärem Flüchtlingsstatus könnten eventuell eine Anerkennung mit Ausnahmecharakter erlangen.
Der Druck auf die Regierung war übrigens zu diesem Zeitpunkt kein geringer. Auch der Fernsehkanal BBC zeigte zu der Zeit eine kritische Reportage über die erniedrigenden Lebensumstände der subsaharischen Flüchtlinge in Nordmarokko.
Europa hält an Abschottung fest, Papierlose bleiben in Gefahr
„In Marokko ist die Jagd auf Migranten tödlich, und zugleich schweigt und verhandelt man von der EU“, kritisiert das Netzwerk „Migreurop“, das aus zahlreichen Flüchtlingsorganisationen und Info-Portalen zum Thema der Abschottung besteht.
„Migreurop“ reagierte in Bezug auf die neuen Gewaltorgien mit Berichterstattungen und einer klaren Forderung an die EU: Cecilia Malmström und die Außenminister der neun EU-Mitgliedsstaaten sollten mit den marokkanischen Ministern zusammenkommen, um “ für eine sofortige Beendigung der polizeilichen Ausschreitungen gegenüber den Migranten zu wirken“.
Deutlich wird aber vielmehr die Tendenz, dass die Misshandlungen gegen Migranten als nationales Problem im Wesentlichen bei Marokko verbleibt, während der bilaterale Verhandlungspartner Spanien seit Jahren Abkommen über die Eindämmung von „illegaler Migration“ mit Marokko erneuert und die EU mit EUROSUR die technische Überwachung der EU-Außengrenzen weiter voranbringt. Keine eigens anberaumten Projekte zur Versorgung und zum Schutz papierloser Flüchtlinge in Marokko zählen zu solcher „Sicherheitszusammenarbeit“. Und dass die EU mit ihrem gigantomanischen und immer weiterwachsenden Anspruch, Grenzkontrollen in ganz Nordafrika (so wie es auch in Osteuropa geschieht) zu perfektionieren, auch zu der gefährdeten sozialen Situation der Papierlosen beitragen würde, will man auf der politischen Bühne nicht sehen.
Auch die europäische Seite war jedoch angemahnt im Bericht des Menschenrechtsrats CNDH, zu einer Besserung beizutragen. Der EU-Botschafter in Marokko Rupert Joy antwortete, man begrüße die Empfehlungen für „eine gerechtere und effizientere Migrationspolitik“. Doch in Aussicht gestellt wurde keinerlei verbindliches Programm für unabhängige medizinische und soziale Hilfen, um die Lage entschieden zu bessern. Joy verwies hingegen auf das kürzlich abgeschlossene Abkommen über die „Mobilitätspartnerschaft“ zwischen den EU-Staaten und Marokko vom Juni 2013. Zusätzlich versprach Joy ein finanzielles Programm, das sich von den CNDH-Empfehlungen „inspirieren“ lassen könne.
Keine Festlegung also auf eine Kampagne zum Schutz von Menschenrechten oder zur medizinischen und sozialen Versorgung Geflüchteter. Und es auch wird weiterhin kein Schutz für die Papierlosen angebahnt, deren vogelfreier und rechtloser Status eben gerade in der Grauzone der „Illegalität“ entsteht. Es bleibt bis heute beim Engagement von afrikanischen und europäischen NGOs, Hilfeleistungen aufrechtzuerhalten.
Die EU-Kommission hält die Kontrolle von Migration und die Ausgestaltung von Verwaltungs- und Gesetzesprozessen bei Migration für vordringlich: In dem besagten Abkommen über die Mobilitätspartnerschaft hat die EU erstmals einen Vertrag mit Marokko u.a. über die Rückübernahme von Migranten erlangt – so, wie es schon seit Jahren Rückübernahmeabkommen mit anderen afrikanischen Staaten gibt. Zugleich geregelt wird die Gewährung von mehr Visas für marokkanische Bürger und arbeitsrechtliche Erlaubnisse, bei denen aber die Rückkehr von Migrianten gewährt sein soll.
Die Organisation Pro Asyl gibt mit ihrer Einschätzung wenig Anlass zum Optimismus: „Illegale Abschiebungen in das Grenzgebiet zu Algerien und gewaltsame Razzien, liegen für MigrantInnen aus Subsahara-Afrika in dem nordafrikanischen Land an der Tagesordnung“, berichtet Judith Kopp gegenüber Telepolis. Dass es Verbesserungen für Migranten aus Subsahara-Afrika gibt, wenn die Mobilitätspartnerschaft oder das vage angedeutete Zusatzprogramm umgesetzt werden, sei nicht zu erwarten:
Visa-Erleichterungen für MarokkanerInnen – insbesondere Kurzzeitvisa für Gruppen mit bestimmten Qualifikationen – sollen von der verstärkten Mitarbeit Marokkos bei der Bekämpfung „irregulärer Migration“ abhängig gemacht werden. Das gewaltsame Vorgehen besonders gegen Schutzsuchende aus Ländern südlich der Sahara in Marokko dürfte damit nicht verringert werden. Inwiefern die Bekundungen Marokkos, eine neue Asyl- und Migrationspolitik einzuführen, die Situation von Flüchtlingen und MigrantInnen in Marokko tatsächlich verbessern werden, wird sich zeigen. Das Hauptinteresse Europas bleibt klar: ein Rückübernahmeabkommen im Rahmen der neuen Kooperation soll die reibungslose Abschiebung von Flüchtlingen und MigrantInnen, die von Marokko aus nach Europa gelangen, ermöglichen. Und Marokko soll verstärkt an der Blockade dieser Fluchtroute mitwirken. Die EU setzt für einmal mehr auf Abwehr anstatt auf einen gefahrenfreien Zugang nach Europa.