Grenzen dicht! (I)
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(Eigener Bericht) – Trotz der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa weist Berlin sämtliche Forderungen nach einer Milderung der EU-Asylbestimmungen kategorisch zurück.
Die derzeit gültigen Regelungen blieben „selbstverständlich“ unangetastet, verkündet der Bundesinnenminister. Einige EU-Staaten hatten darauf gedrungen, wenigstens die „Dublin II-Verordnung“ zu modifizieren; aus Berliner Perspektive ist sie eine zentrale Säule des europäischen Migrationsregimes, weil sie die Bearbeitung von Asylanträgen schwerpunktmäßig den Ländern an den EU-Außengrenzen aufträgt. Keinerlei Einwände hat Berlin gegen die weitere Hochrüstung der EU-Außengrenzen. Neue Maßnahmen zum Aufspüren unerwünschter Flüchtlinge werden als Schritte zur Rettung von Schiffen in Seenot angepriesen, darunter auch das neue System „Eurosur“, das die Grenzabschottung weiter vervollkommnen soll und in US-Medien als „Traum von Security-Hardlinern und der weltweiten Waffenindustrie“ beurteilt wird. Während SPD-Politiker öffentlich gegen die Berliner Flüchtlingsabwehr Position beziehen, hat ihre Partei in ihrer Regierungszeit bewiesen, dass sie bei Bedarf die Abschottung der EU ebenfalls zuverlässig forciert.
„Keinerlei Handlungsbedarf“
Auch nach der jüngsten Flüchtlingskatastrophe vor der italienischen Insel Lampedusa weist die Bundesregierung jegliche Milderung der Asylbestimmungen in der EU schroff zurück. Am letzten Donnerstag ist vor Lampedusa ein Schiff mit mehr als 500 Flüchtlingen an Bord verunglückt; nur 155 von ihnen überlebten. Seither ist die Debatte um die Abschottung der EU gegenüber unerwünschten Migranten neu entbrannt. Änderungen wurden beim Treffen der EU-Innenminister zu Beginn der Woche gefordert; Berlin blockt sie jedoch ab. Der Bundesinnenminister erklärt öffentlich, es sei ihm „völlig unbegreiflich“, wieso von Deutschland ein stärkerer Einsatz für Flüchtlinge gefordert werde. Die bestehenden Asylbestimmungen der EU blieben „selbstverständlich“ unangetastet.[1] Bereits am Montag hatte Regierungssprecher Steffen Seibert in der Regierungspressekonferenz behauptet, Deutschland tue schon längst, „was seiner Größe und seiner Bevölkerungszahl in Europa entspricht“; es gebe keinerlei Handlungsbedarf.
Dublin II: Nach deutschem Modell gestaltet
Die Forderungen insbesondere südeuropäischer Staaten, das EU-Recht in Sachen Migration endlich zu korrigieren, beziehen sich vor allem auf die schon seit Jahren umstrittene „Dublin II-Verordnung“, die am 18. Februar 2003 verabschiedet worden ist. Dem Gedanken nach setzt sie deutsche Bestimmungen auf europäischer Ebene um – die sogenannte Drittstaatenregelung, die der Deutsche Bundestag vor etwas mehr als 20 Jahren ins Grundgesetz einfügte. Demnach können Flüchtlinge nur noch dann in der Bundesrepublik Asyl beantragen, wenn sie nicht über ein „sicheres Drittland“ eingereist sind. Weil aber alle an Deutschland grenzenden Staaten als „sichere Drittländer“ eingestuft werden, ist es nun grundsätzlich möglich, einen beträchtlichen Teil der in Deutschland ankommenden Flüchtlinge direkt abzuschieben. Entsprechendes sieht die „Dublin II-Verordnung“ vor: Ihr zufolge ist in der EU derjenige Staat für den Asylantrag eines Flüchtlings zuständig, über den der Asylsuchende in die Union eingereist ist. Nach Lage der Dinge reduziert sich die deutsche Zuständigkeit damit im Grundsatz auf Personen, die die Bundesrepublik per Flugzeug über die schwer bewachten Flughäfen erreichen konnten.[2]
Anerkennungsquote: Rund ein Prozent
„Drittstaatenregelung“ und „Dublin II-Verordnung“ sind aus Berliner Perspektive die Grundpfeiler eines Systems, das es erlaubt, die Asylzahlen in Deutschland niedrig zu halten. Tatsächlich bewegte sich die Summe der jährlich in der Bundesrepublik gestellten Asylanträge in den letzten zehn Jahren stets zwischen rund 30.000 und rund 90.000. Viele vergleichsweise arme Länder nehmen eine weit höhere Zahl an Flüchtlingen auf. So bringt beispielsweise Pakistan offiziell etwa 1,7 Millionen afghanische Flüchtlinge unter – vermutlich liegt die tatsächliche Zahl noch höher -, der Libanon mit seinen 4,5 Millionen Einwohnern beherbergt inzwischen weit mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien. Hinzu kommt, dass die Anerkennungsquote in Asylverfahren in Deutschland konkurrenzlos niedrig ist. In den letzten zehn Jahren lag sie durchweg zwischen 1,8 (2002) und 0,8 (2006) Prozent. Für das laufende Jahr vermeldet das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bislang etwa 85.000 Asylanträge, von denen zahlreiche aus den Kriegsgebieten Syriens und Afghanistans kommen. Selbst bei ihnen sind die Anerkennungsquoten lächerlich: In den 6.530 Entscheidungen über Asylanträge von Flüchtlingen aus Syrien, die dieses Jahr gefällt wurden, wurden 184 Personen als asylberechtigt anerkannt; in 4.816 Entscheidungen über Afghanistan-Flüchtlinge konnten sich 45 das Asylrecht in Deutschland erstreiten – fünf pro Monat im größten und reichsten Land der EU.
Noch mehr Abschottung
Während die Bundesregierung ohne jegliches Zugeständnis auf „Dublin II“ beharrt, ist sie durchaus bereit, die Abschottung der EU-Außengrenzen noch weiter zu forcieren. So sind keinerlei Einwände gegen den Plan von EU-Innenkommissarin Cecilia Malmström bekannt, mit einer groß angelegten neuen Operation der EU-Grenzbehörde Frontex auf die jüngste Flüchtlingskatastrophe von Lampedusa zu reagieren. Die Operation soll von Zypern über Malta und Süditalien bis Südspanien quer durch das gesamte Mittelmeer Flüchtlinge aufspüren; sie wird in einem Akt offenen Zynismus‘ als Maßnahme zur Rettung von Schiffen aus Seenot verkauft.[3] Tatsächlich aber kommen zahlreiche Flüchtlinge gerade deswegen um, weil die europäische High-Tech-Flüchtlingsabwehr sie auf immer riskantere Fluchtrouten gezwungen hat. Bereits 2007 gingen Experten bei einer Anhörung im Europaparlament davon aus, dass die häufig genannte Zahl von 2.000 seit dem Jahr 1990 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen viel zu niedrig sei und vielmehr von mehr als 10.000 Todesopfern im letzten Jahrzehnt ausgegangen werden müsse.[4] Das wären im Durchschnitt 1.000 Tote pro Jahr.
Treibende Kraft: Die Rüstungsindustrie
Zusätzlich zu den bisherigen Maßnahmen zur Abschottung der EU-Außengrenzen soll in Kürze auch noch mit dem Aufbau eines neuen Grenzüberwachungssystems („Eurosur“) begonnen werden; darüber wird am heutigen Donnerstag das Europaparlament entscheiden. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl weist darauf hin, dass Eurosur offiziell die „Aufspürung, die Verhinderung und Verfolgung illegaler Einwanderung und grenzüberschreitender Kriminalität“ zum Ziel hat. Es sei vorgesehen, berichtet Pro Asyl, „die Grenzsicherung durch Vernetzung bestehender Grenzsicherungseinrichtungen und moderner Technologien auszubauen“; dazu sollten „Drohnen, Offshore-Sensoren, Satellitensuchsysteme und biometrische Identitätskontrollen“ genutzt werden.[5] Bis 2030 stehen dazu gut 250 Millionen Euro zur Verfügung; Beobachter gehen davon aus, dass – wie in solchen Fällen üblich – die Kosten weiter explodieren. Kämen die Mittel bei einer liberaleren Asylpolitik womöglich auch den Flüchtlingen zugute, ist durch die deutsch-europäische Abschottungspriorität sichergestellt, dass die Mittel in die transatlantische Repressionsindustrie fließen. Auch deutsche Firmen und Konzerne mit deutscher Beteiligung ziehen daraus Profit, etwa EADS, Carl Zeiss Optronics oder ESG. In der US-Presse wird Eurosur entsprechend als „Traum von Security-Hardlinern und der weltweiten Rüstungsindustrie“ eingestuft.[6]
Die nationale Große Koalition
Dem harten Kurs der Bundesregierung stehen kritische Äußerungen des Bundespräsidenten und mehrerer SPD-Politiker nicht entgegen. „Zuflucht Suchende (…) bedürfen des Schutzes“, erklärte Bundespräsident Joachim Gauck zwar nach der Katastrophe vor Lampedusa: „Wegzuschauen und sie hineinsegeln zu lassen in einen vorhersehbaren Tod, missachtet unsere europäischen Werte.“[7] Allerdings hat Gauck als Bundespräsident keinerlei Einfluss auf das Regierungsgeschäft und kann sich daher problemlos der Repräsentation und der Proklamation unverbindlicher „Werte“ widmen. Ähnliches gilt für SPD-Politiker, von denen sich mehrere gleichermaßen empört über die deutsch-europäische Flüchtlingsabwehr zeigen. So wird etwa der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel mit der Aussage zitiert: „Was auf Lampedusa passiert, ist eine große Schande für die Europäische Union“.[8] Die SPD hat seit 1990 mehrfach bewiesen, dass derlei Äußerungen nicht ernst zu nehmen sind. Sie trug bereits 1993 die Änderung des Grundgesetzes zur Einführung der „Drittstaatenregelung“ umstandslos mit. Als 2002 mehrere südeuropäische Staaten versuchten, die „Dublin II-Verordnung“ zumindest aufzuweichen, scheiterten sie an der rot-grünen Bundesregierung. Diese bereitete in der EU auch die Gründung der Grenzbehörde Frontex mit vor; deren Ausbau trieb die SPD als Teil der schwarz-roten Bundesregierung energisch mit voran. Der Ausbau der „Festung Europa“ basiert in Deutschland in der Tat auf einer nationalen Großen Koalition.
[1] Friedrich sieht keinen Änderungsbedarf bei Asylpolitik; www.sueddeutsche.de 09.10.2013
[2] s. dazu Interview mit Karl Kopp und Abschotten, abwälzen, abschieben
[3] EU nach Katastrophe vor Lampedusa weiter uneins; Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.10.2013
[4] 10.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ums Leben gekommen; www.mopo.de 04.07.2007
[5] EU-Asylpolitik nach Lampedusa: Abschottung geht weiter; www.proasyl.de 09.10.2013
[6] The Watery Tomb Europe Tolerates; www.nytimes.com 07.10.2013
[7] Gauck fordert humanere Flüchtlingspolitik; www.spiegel.de 04.10.2013
[8] Frankreich verlangt Spitzentreffen zur Flüchtlingspolitik; www.zeit.de 05.10.2013