Telepolis | 11.08.2017
Für viele Äthiopier und Somalier ist der Weg über Libyen nach Europa vermutlich zu teuer, nach dem brutalen Vorgehen von Schleppern könnte der Fluchtweg über Jemen in die Golfstaaten zu gefährlich werden
Florian Rötzer
Seit März 2015 hat der schon Jahre währende Bürgerkrieg im Jemen, in dem sich auch al-Qaida ausbreitete, mit der militärischen Intervention der saudischen Koalition eine neue Wende genommen und wurde zum verheerenden Stellvertreterkrieg. Seitdem wird auch durch die Luftangriffe das Land, das zu den ärmsten der Welt gehört und in dem 27 Millionen Menschen leben, weiter in Schutt und Asche gelegt. Armut, Hunger und zuletzt eine Choleraepidemie haben sich ausgebreitet.
Seit März 2015 wurden 10 Prozent der Bevölkerung vertrieben, gegenwärtig gibt es nach UN-Angaben 2 Millionen Binnenflüchtlinge. 7 Millionen Menschen brauchen dringend Hilfe, 14 Millionen leben unter Bedingungen der Lebensmittelunsicherheit – bei steigenden Lebensmittelpreisen. Für die Hälfte der Bevölkerung ist aufgrund der wirtschaftlichen Lage, vor allem in der Landwirtschaft, das Einkommen nicht mehr gesichert.
Trotz der katastrophalen Lage im Jemen ist es dort noch nicht zu einer Massenflucht gekommen. Die Menschen sind zu arm, das Land wird zu Land auf der See blockiert. Seit März 2015 sind aus dem Jemen gerade einmal 187.000 Menschen geflohen (Stand April 2017). 51.000 ins benachbarte Oman, 39.000 nach Saudi-Arabien, jeweils etwa 37.000 über das Meer nach Dschibuti und Somalia, 14.000 nach Äthiopien und 7000 in den Sudan. Viele also in Länder, die wie Äthiopien nicht nur unter einer Dürre leiden oder in denen hohe Armut und Arbeitslosigkeit herrscht wie in Dschibuti, sondern auch wie Somalia unter einem langwährenden Bürgerkrieg.
Weitaus erstaunlicher ist aber, dass auch in das Land mit einer erdrückenden humanitären Krise noch Menschen flüchten. Darauf wurde an gerade wieder durch Meldungen der Vereinten Nationen aufmerksam. Am Mittwoch hatte ein Schlepper, der mit 120 Flüchtlinge aus Somalia und Äthiopien auf seinem Schiff hatte, diese vor der jemenitischen Küste des Regierungsbezirks Ahabwa ins Wasser gewungen, als an der Küste Personen gesehen wurden, die nach Sicherheitskräften aussahen, um dann leer umzukehren und nach Somalia zurückzufahren. Geschätzt wird, dass 50 Migranten ertrunken sind. Eine Patrouille fand kurz nach am Verbrechen am Mittwoch am Strand von Shabwa 29 verscharrte Leichen. Durchschnittsalter der Migranten: 16 Jahre.
Gestern wiederholte sich der Vorgang, was dafür sprechen könnte, dass den Schleppern das Landen zu gefährlich wird und sie sich ihrer Kunden schnell entledigen, die sie teilweise in den Tod schicken. Gestern wurden nach einem Bericht der IOM bis zu 180 Migranten vor der Küste gewaltsam ins Meer geworfen. 5 Leichen wurden geborgen, um die 50 Menschen gelten als vermisst.
Über das Mittelmeer kommen nur wenige Migranten aus Äthiopien und Somalia
Was zieht Migranten ausgerechnet nach Jemen? Nach Angaben der Vereinten Nationen versuchen sie, über Jemen in die reichen Golfstaaten zu gelangen. Allerdings ist die Erfolgsquote relativ gering, wenn man die Zahl der Migranten betrachtet, die aus dem Jemen über dem Landweg nach Oman oder Saudi-Arabien kommen. Vermutlich ist die Überfahrt für die Menschen aus Äthiopien und Somalia – oder für die Kinder, die von ihren Eltern geschickt werden, um der Armut und dem Elend zu entkommen – nach Jemen wohl einfach billiger und erscheint als weniger gefährlich als die lange Landroute nach Libyen und die riskante Durchquerung des Mittelmeers.
Über das Mittelmeer erreichten 2017 bislang fast 117.000 Migranten Europa, 2400 starben. 2016 waren es 263.000, die es schafften, 3200 starben oder werden vermisst. Im Gegensatz zu Menschen aus Nigeria, Eritrea, dem Sudan, Senegal, der Elfenbeinküste oder Bangladesch kommen nur relativ wenige Migranten aus Somalia und aus Äthiopien über das Mittelmeer. In diesem Jahr waren es, Stand 30. Juli, 2103 aus Somalia und 595 aus Äthiopien.
2014 gelangten 91.000 Menschen aus Somalia und Äthiopien über den Golf von Aden nach Jemen, 2015 waren es 92.000 und 2016 bereits 98.000, davon 82.500 aus Äthiopien und 15.500 aus Somalia. Andere Länder spielen praktisch keine Rolle, was auch bedeutet, dass die Flucht nach Jemen durch die Nähe bedingt ist und die Migranten mit hohem Risiko nicht nur bei der Überfahrt von Somalia oder Dschibuti, sondern auch bei der Durchreise durch das Kriegsland Jemen rechnen müssen. Am kürzesten ist die Überfahrt von Dschibuti
Seit März 2015 sind nach UN-Angaben vom Horn von Afrika 207.000 Migranten nach Jemen gekommen, während umgekehrt aus dem Jemen nur 95.000 über das Meer geflohen sind. Am meisten offenbar somalische Rückkehrer und nur 28.000 Jemeniten. Weitere 90.000 schafften es nach Oman oder Saudi-Arabien. Bis März 2017 wurden über 2000 Boote gezählt, die Migranten vom Horn von Afrika nach Jemen brachten. Bis dahin seien nur 127 Migranten ertrunken. Das könnte nun schon in zwei Tagen „überboten“ worden sein.
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taz | 11.08.2017
Flüchtlinge im Jemen: Wenn das Transitland Endstation ist
Jährlich brechen rund 100.000 Menschen vom Horn von Afrika in Richtung Golfstaaten auf. Oft bleiben sie im Jemen stecken – mitten im Kriegsgebiet.
Dominic Johnson
Einen krasseren Kontrast zwischen Arm und Reich gibt es nirgends auf der Welt. Im Norden: die Arabische Halbinsel mit den unermesslichen Ölmilliarden und Glitzerpalästen Saudi-Arabiens und der Golfstaaten. Im Süden: das Horn von Afrika mit dem unvorstellbaren Kriegselend in Somalia und tiefster Armut in weiten Teilen Äthiopiens. Dazwischen: Jemen, wo sich kriegsbedingt eine schwere humanitäre Katastrophe entwickelt – und wo niemand Schmugglern Einhalt gebieten kann oder will.
Kein Wunder, dass jährlich rund 100.000 Menschen aus dem Horn von Afrika über Jemen in die Arabische Halbinsel aufbrechen, auf der Suche nach einem besseren Leben. Die Völker auf beiden Seiten des Landes sind ohnehin eng miteinander verwandt und kulturell verbunden. Das Regional Mixed Migration Secretariat (RMMS) des Dänischen Flüchtlingsrats, seit elf Jahren die genaueste Beobachtungsstelle für Bevölkerungsbewegungen in dieser Region, zählte im Jahr 2016 117.107 afrikanische Ankömmlinge in Jemen, 83 Prozent davon aus Äthiopien und der Rest aus Somalia – ein Rekord. Zwischen 2007 und 2016 sind nach UN-Angaben über 750.000 Äthiopier und Somalier nach Jemen gezogen. Viele haben die Weiterreise in die Golfstaaten gesucht, aber mehrere Hunderttausend hängen in Jemen fest.
Als Gründe für den Rekordandrang 2016 nannte der RMMS-Jahresbericht „den kompletten Zusammenbruch der Zentralregierung und Grenzüberwachungssysteme Jemens, was es Migranten leichter machen könnte, sich unbemerkt durch das Land zu bewegen, und daher eine größere Zahl ermutigt, ihr Glück zu versuchen“, sowie „die aktuelle politische Krise und die Serie von Protesten gegen die Regierung in Äthiopien“ – die schweren Unruhen des Sommers 2016 mit über 600 Toten und 11.000 Festnahmen.
Fast alle in Jemen von der IOM befragten äthiopischen Ankömmlinge der letzten Monate geben an, zur größten äthiopischen Volksgruppe der Oromo zu gehören, Ziel der schärfsten Repression des vergangenen Jahres. Vor hundert Jahren noch zogen Wanderarbeiter aus dem bitterarmen Arabien nach Afrika, um im äthiopischen Kaiserreich Arbeit zu finden. Heute ist es umgekehrt.
Billiger als das Mittelmeer
Es gibt zwei Migrationsrouten aus dem Horn von Afrika Richtung Norden. Die eine, über Sudan und Libyen ans Mittelmeer und nach Europa, hat den Vorteil, dass die Chance hoch ist, aus dem Wasser gerettet zu werden und in Europa zu landen. Allerdings ist diese Route neuerdings praktisch dicht, auch dank der EU-geförderten Grenzabschottungspolitik von Transitländern wie Sudan. Die andere Route, über Jemen nach Saudi-Arabien, ist riskanter, aber billiger. Nur wenige hundert US-Dollar kostet die Reise aus den südsomalischen Dürregebieten über den nordostsomalischen Hafen Bosasso, der gegenüber von Jemen liegt. Eine andere Route führt aus Äthiopien über den Hafen Obock im Kleinstaat Dschibuti ans Rote Meer und an Jemens Westküste.
Der Nachteil der Arabien-Route: Auf der anderen Seite wartet anders als in Europa komplette Rechtlosigkeit, Willkür und zuweilen lange Inhaftierung oder faktische Versklavung. Eine IOM-Studie aus dem Jahr 2014 wies nach, dass Tausende Äthiopier in Jemen als faktische Leibeigene auf Qat-Farmen arbeiten – Qat, eine weiche Droge aus gekauten Blättern, wird sowohl in Jemen als auch im gesamten Horn von Afrika gern konsumiert und ist eine Säule der regionalen Wirtschaft.
Inzwischen versinkt Jemen im Krieg, und Saudi-Arabien will seine Migranten loswerden, um der eigenen Jugend Perspektiven zu bieten. Allein in den Jahren 2013 und 2014 wurden 200.000 Äthiopier und Somalis sowie eine halbe Million Jemeniten aus Saudi-Arabien hinausgeworfen.
Aber angesichts der sich verschlechternden Lebensumstände am Horn von Afrika wagen dennoch viele Migranten die Überfahrt. Die Dürre dieses Jahres in der Region gilt als die schwerste seit einem Vierteljahrhundert. Für viele Dörfer ist es die einzige Rettung, wenn wenigstens einer ihrer Bewohner in die Fremde zieht, um Geld zu verdienen.
Der wichtigste Abreisehafen aus Afrika nach Jemen ist Bosasso, die Hafenstadt an Somalias Nordostküste gegenüber von Jemen unter Kontrolle der autonomen somalischen Region Puntland. Seit jeher ein Umschlagplatz für afrikanisch-arabischen Fernhandel, blüht in Bosasso in der Staatenlosigkeit Somalias auch das Geschäft mit der illegalen Migration. Die Region ist auch eine Bastion der somalischen Piraterie, gegen die in den letzten Jahren mehrere internationale Kriegsflotten in den somalischen Gewässern unterwegs gewesen sind – zuweilen waren Piraten und Migrantenschleuser identisch.
Jemens Mehrfrontenkrieg
Inzwischen verkompliziert der Krieg in Jemen die Lage. Mindestens drei Kriegsparteien sind aktiv: die international anerkannte Regierung von Präsident Hadi in der südjemenitischen Hafenstadt Aden; die nicht anerkannte Koalition des früheren Präsidenten Saleh zusammen mit der Huthi-Rebellenbewegung in der eigentlichen Hauptstadt Sanaa im Norden; und die jemenitische Al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, die weite Teile Südjemens kontrolliert. Einer internationalen Militärallianz unter Führung Saudi-Arabiens unterstützt die Hadi-Regierung, weil die Huthi-Rebellen mutmaßlich vom Iran aufgerüstet werden.
Zur saudischen Allianz gehören auch die Vereinigten Arabischen Emirate, die unter anderem Puntlands Küstenwache trainieren. Die „International Crisis Group“ analysiert, dass Saudi-Arabien und die Golfstaaten Schikanen gegen Migranten aus Äthiopien und Somalia als Druckmittel einsetzen, um die afrikanischen Nachbarn auf Linie im Jemen-Konflikt zu bringen. Im März starben Dutzende afrikanische Migranten auf dem Weg nach Jemen bei einem saudischen Luftangriff, der ihr Boot im Roten Meer traf.
Waffen gegen Migranten
Die aktuelle Sorge ist, dass die Al-Qaida-Milizen im Jemen und die islamistischen Shabaab-Milizen in Somalia über die maritimen Schmuggelrouten zusammenfinden. Nach Recherchen der in Kenia basierten „Conflict Armament Research“ sind die in Puntland basierten Piraten inzwischen in den Jemen-Waffenschmuggel eingestiegen: Boote voller afrikanischer Migranten aus Bosasso landen und kommen mit Waffen aus Jemen zurück.
Letztes Jahr tauchte zum ersten Mal in Puntland sogar ein selbsternannter Ableger des „Islamischen Staats“ (IS) auf und besetzte die Hafenstadt Qandala östlich von Bosasso – ein weiterer bekannter Schmuggelort Richtung Jemen. Ihr Anführer Scheich Abdulkadir Mumin war ein Verwandter des historischen Piratenführers Isse Yulux. Sie wurden vertrieben, aber bleiben ein Machtfaktor.
Sollten sich islamistische Gruppen zwischen Arabien und Afrika weiter vernetzen, die Migranten könnten auf eben jenen Routen unter die Räder kommen. Die jemenitische Provinz Shabwa, wo sich das aktuelle Flüchtlingsdrama abgespielt hat, war jahrelang eine Hochburg der jemenitischen al-Qaida. Seit 3. August läuft in Shabwa eine Großoffensive: Sondereinheiten aus den Arabischen Emiraten, Spezialkräfte aus den USA und sogar Soldaten aus Sudan helfen der Armee der jemenitischen Hadi-Regierung, die Al-Qaida-Kämpfer zu verdrängen.
Kein Wunder, dass die Migrantenschleuser lieber schon vor der jemenitischen Küste kehrtmachen.