31. Juli 2018 · Kommentare deaktiviert für Die Wanderbewegung von Ost nach West ist Europas verdrängte Revolution · Kategorien: Europa, Hintergrund, Lesetipps · Tags:

NZZ | 31.07.2018

Die Migration aus dem ehemaligen Ostblock hat Europa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs umgepflügt. Sie ist eine Wurzel der gegenwärtigen Spannungen – doch diese bieten auch eine Chance.

Ivo Mijnssen

Wenn Europa von Migration redet, geht es fast immer um das Jahr 2015. Die Flüchtlingswelle aus dem Nahen Osten sorgt für anhaltende politische und gesellschaftliche Verwerfungen. Sie äussern sich im Siegeszug nationalkonservativer Kräfte, in heftigen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit – und in einem Ost-West-Graben innerhalb der EU, der Züge eines Kulturkampfs trägt.

Nur in eine Richtung

Die Million Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die innert kurzer Zeit nach Europa strömten, sind zweifellos eine grosse Herausforderung. Ihre Bedeutung verblasst aber im Vergleich zur innereuropäischen Völkerwanderung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die friedliche Migration von Ost nach West seit 1989 hat den europäischen Kontinent umgewälzt. Schätzungen des Vienna Institute of Demography gehen von 12 bis 15 Millionen Menschen aus, die ihre ost- und ostmitteleuropäische Heimat verlassen haben, um im Ausland zu leben und zu arbeiten. Der grösste Teil wählte westeuropäische Länder als Destination.

Der Blick auf eine Karte der Bevölkerungsentwicklung vermittelt einen Eindruck der dramatischen Folgen: Während die osteuropäischen Staaten mit wenigen Ausnahmen geschrumpft sind, wuchs Zentral- und Westeuropa stark an. In Lettland leben heute noch 2 Millionen Menschen – 700 000 weniger als 1991, im Jahr, als es seine Unabhängigkeit zurückerlangte. Rumänien hat statt 23 nur noch 19,5 Millionen Einwohner. Anders das Bild in Westeuropa, wo besonders die reichen Staaten zugelegt haben – die Schweiz um mehr als einen Viertel, Österreich um 15 Prozent. In Grossbritannien wohnen heute fast 66 Millionen Menschen, 8 Millionen mehr als vor drei Jahrzehnten. Ostmitteleuropäische Länder wie Tschechien, die Slowakei oder Polen konnten ihre Einwohnerzahl trotz starker Auswanderung einigermassen halten: 2016 lebten 2,5 der 38 Millionen Polen im Ausland, die meisten in Grossbritannien und Deutschland.

Für die Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks bedeutete die Ost-West-Wanderung einen schweren Verlust. Besonders schmerzhaft ist er dadurch, dass vor allem die Jungen, Kreativen und Gebildeten auswanderten – ein massiver Braindrain. Als Folge werden auch weniger Kinder geboren werden, da die potenziellen jungen Eltern im Ausland sind. Ländliche Gebiete sterben aus oder sind hoffnungslos überaltert, weil die verbliebene Bevölkerung sich in den Städten konzentriert. So verlor Bulgarien seit 1990 mehr als 1,6 seiner 8,7 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt Sofia wuchs in der gleichen Zeit um 200 000 Menschen auf mehr als 1,3 Millionen.

Eine enorme Leistung

Während ihre Bürger in Massen emigrierten, mussten sich die Staaten des ehemaligen Ostblocks aus dem sozialistischen System befreien und eine eigene Nation aufbauen. Dass sie dies schafften, ohne von den gesellschaftlichen Zentrifugalkräften zerrissen zu werden, ist eine enorme Leistung. Sie verdient Respekt, umso mehr, als die östlichen EU-Mitgliedsländer gleichzeitig wirtschaftlich aufgeholt und sich fest in eine europäische Friedensordnung integriert haben. Sie verdankt sich dem grossen politischen Willen in Ost und West, die Kosten für diese Vereinigung zu schultern.

Die Vorteile liegen für beide Seiten auf der Hand: Für die Osteuropäer bedeuteten die neuen beruflichen Perspektiven im Ausland einen Weg aus der Armut. Aus Westeuropa und Brüssel flossen Hunderte von Milliarden Euro an neuen Investitionen in Fabriken, Strassen und die Bildung. Die «alten» EU-Länder wiederum erschlossen sich neue Märkte und blieben dank motivierten und günstigen Arbeitnehmern aus dem Osten konkurrenzfähig. Die Europäer verhinderten zudem, dass in einem historisch sehr fragilen Gebiet eine politisch instabile Grauzone entstand.

Ganz zusammengewachsen sind Ost und West aber nicht. Die unterschiedlichen historischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert sind ein Grund dafür, die Migration der andere: Sie bedeutet, dass die beiden Teile des Kontinents die letzten dreissig Jahre unter entgegengesetzten Vorzeichen erlebt haben. Viele Ängste der Bevölkerungen in Westeuropa – vor Identitätsverlust, Wohlstandseinbussen und Dichtestress – sind ein Resultat der Zuwanderung. Ob Brexit oder Masseneinwanderungsinitiative: Der Wille zur Abschottung steigt, ungeachtet der objektiven Vorteile, die Grossbritannien und die Schweiz aus den Kompetenzen der Polen und Deutschen ziehen.

Östlicher Minderwertigkeitskomplex

In Ostmittel- und Osteuropa ist es hingegen der Bevölkerungsverlust, der paradoxerweise nationalkonservative Strömungen gestärkt hat. Die Erfahrung, dass der fähigste Teil der Bevölkerung das Land in Richtung Westen verlässt, hat einen Minderwertigkeitskomplex ausgelöst. Diesen trägt auch ein Teil der Migranten in sich, die vor allem vor den EU-Beitritten der Osteuropäer 2004 und 2007 in Westeuropa trotz guter Ausbildung ganz unten anfangen mussten; das Fehlen der Anerkennung von Diplomen, das Fehlen der Verhandlungsmacht der Einwanderer auf dem Arbeitsmarkt und teilweise ausbeuterische Strukturen trugen dazu bei.

Die Ostmitteleuropäer reagieren deshalb gereizt auf vermeintliche oder reale Geringschätzung oder Belehrung aus Westeuropa. Die politisch so leicht bewirtschaftbare Figur des arroganten Deutschen oder herablassenden Eurokraten mag einen wahren Kern haben, ist eine leicht gönnerhafte Haltung gegenüber den kleinen Brüdern und den «polnischen Klempnern» in Westeuropa doch durchaus verbreitet. Solche Klischees sind jedoch eher eine atmosphärische als eine realpolitische Belastung.

Angst vor dem Aussterben

Gefährlicher ist das, was der bulgarische Politologe Iwan Krastew als «demografische Panik» bezeichnet. Er beschreibt damit die Angst der Osteuropäer auszusterben. Angesichts des dramatischen Bevölkerungsrückgangs in den letzten Jahrzehnten und der katastrophalen Prognosen für die Zukunft muss mit einem anhaltenden Bevölkerungsschwund gerechnet werden. Die Förderung der Zuwanderung könnte das Problem lindern, doch Länder wie Polen, Ungarn oder Bulgarien schotten sich ab.

Die Flüchtlingswelle auf der Balkanroute und die Anschläge in Paris im Jahr 2015 haben eine islamophobe Haltung politisch salonfähig werden lassen. Diese bedient sich kruder Vorurteile, obwohl (oder gerade weil) nur eine winzige Zahl von Muslimen in diesen Ländern lebt: Zuwanderer aus dem Nahen Osten werden in der Presse regelmässig als Invasoren dargestellt, Männer als potenzielle Vergewaltiger, Frauen als Gebärmaschinen. Die Angst vor Überfremdung ist umso akuter, als sie von der Sorge um den Fortbestand der eigenen Nation genährt wird. Sie erklärt auch den erbitterten Widerstand der Osteuropäer gegen europäische Flüchtlingsquoten, die Politiker wie Viktor Orban zur Schicksalsfrage emporstilisieren.

Die Kontroverse um Flüchtlinge in Osteuropa lenkt jedoch vom Hauptproblem ab – der Abwanderung nach Westeuropa. Die Politiker in Ost und West sollten besser miteinander darüber reden; es geht darum, die Vorteile der europäischen Mobilität in Zukunft zu erhalten, ohne dass der Wohlstand im Westen auf Kosten eines menschenleeren Ostens geht. Und lässt sich ein vereintes Europa aufrechterhalten, wenn die Wanderung von armen in reiche Länder die sozialen Gräben vergrössert statt zuschüttet?

Neues Selbstbewusstsein

Einfache Antworten darauf gibt es keine, genauso wenig wie politische Patentrezepte. Und doch sind die Voraussetzungen heute so gut wie nie zuvor. Diejenigen Osteuropäer, die heute emigrieren, machen häufiger Karriere; die volle Personenfreizügigkeit und europaweit vereinheitlichte Universitätsabschlüsse haben viele Barrieren abgebaut. Die Osteuropäer sind nicht länger Bittsteller. Polen ist deutlich besser als viele andere Länder durch die Finanzkrise vor zehn Jahren gekommen, Länder wie Tschechien oder die Slowakei suchen händeringend nach Fachkräften.

Höhere Löhne und klare Anreize könnten einen Teil der Auswanderer zur Rückkehr bewegen. Angesichts der ungewissen Zukunft der Osteuropäer in Grossbritannien wegen des Brexit wäre der Zeitpunkt günstig. Langsam gestehen sich Budapest und Warschau auch ein, dass Abschottung keine Zukunftsstrategie ist; und doch bietet Polen selbst den Zuwanderern mit der erwünschten «kulturellen Nähe» – aus der Ukraine, Weissrussland oder den Philippinen etwa – erst in Ansätzen Unterstützung. Die lange isolierten ehemaligen Ostblockstaaten müssen sich erst daran gewöhnen, Einwanderungsland zu sein.

Die Migration in Europa wird weitergehen – doch immerhin ist sie angesichts neuer Perspektiven im Osten stärker zu einer Wahl geworden, wo sie früher ein Zwang war. Dies bietet eigentlich auch die Voraussetzung für eine bessere Atmosphäre. Zu dieser könnten westeuropäische Politiker beitragen, indem sie anerkennen, wie stark ihre Wirtschaften von den Migranten aus dem Osten profitiert haben; die Osterweiterung war kein selbstloser Akt, sondern auch ein gutes Geschäft – letztlich für beide Seiten. Die Osteuropäer haben somit guten Grund, ihre Interessen mit neuem Selbstbewusstsein einzubringen. Kommt so ein neuer europäischer Ausgleichsprozess in Gang, sind die gegenwärtigen Spannungen lediglich Wachstumsschmerzen. Bewirtschaften Ost und West aber lieber den Graben zwischen sich, bricht die EU auseinander.

 

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