30. Juli 2018 · Kommentare deaktiviert für Italien: Die Piste · Kategorien: Italien, Schengen Migration

FAZ | 30.07.2018

Weil Italien viele Flüchtlinge sich selbst überlässt, leben sie in wilden Barackenlagern. Das größte wächst auf dem ehemaligen Flugplatz von Borgo Mezzanone – eine Kleinstadt mit Läden, Moscheen, Bordellen und einer Mafia.

Von DAVID KLAUBERT, Fotos: RICARDO WIESINGER

Die Stadt ohne Namen ist gut versteckt. Kein Wegweiser führt hin. Am Ausgang von Borgo Mezzanone, einem Dorf, das Mussolini einst in die Felder Apuliens pflanzen ließ, verabschieden einen stattdessen Hakenkreuzschmierereien. Nach vier Kilometern geht es rechts auf eine schmale Teerstraße, die sich schon bald auflöst, so als wolle auch sie einen nicht weiterbringen. Bei Regen ist sie Matsch, bei Sonnenschein Staub. Und dann liegt sie plötzlich vor einem, schnurgerade in Richtung Horizont: die Piste.

Im Zweiten Weltkrieg starteten hier Flugzeuge. Heute ist sie die Hauptstraße einer Stadt, die es offiziell nicht gibt. Sie hat 4000, 5000 Einwohner, vielleicht mehr. Keiner hat sie gezählt. Es sind Menschen, die der italienische Staat sich selbst überlassen hat. Sie kommen aus Senegal, Gambia, Mali, Guinea, Guinea-Bissau, Elfenbeinküste, Ghana und Nigeria. Auch ein paar Somalier und Eritreer leben hier, Sudanesen und Marokkaner. Es gibt afghanische und pakistanische Händler und eine Prostituierte aus Rumänien.

Manche von ihnen leben in den alten Militärbaracken, in Bunkern, manche in Containern, manche in selbstgebauten Ziegelhäuschen. Die meisten aber in Verschlägen aus Sperrholz und Plastikfolien. Es gibt zwei Moscheen, in einer wird Französisch gesprochen, in der anderen Englisch. Es gibt die Church of Pentecost und die Garden of Jesus Christ Church. Es gibt die nigerianische Mafia, Bordelle, Friseure, ein Reisebüro, einen Copyshop, Mechaniker und Autohändler, Lebensmittel- und Tante-Emma-Läden. Restaurants, einen senegalesischen Bäcker und den Grill von Roman, einem ghanaischen Rasta, der jeden Tag ein Schaf schlachtet und an besonderen Tagen auch mal zwei. Vor seiner Hütte und entlang der Piste hat jemand Betonklötze verteilt und ausrangierte Kühlschränke, so dass die Autos nicht mehr ganz so schnell rasen können. Es hat schon genug Unfälle gegeben.

Auf der Piste gibt es keine Ärzte. Ab und zu schauen ein paar Freiwillige vorbei. Ansonsten kommt nicht einmal der Krankenwagen. Es gibt keine Feuerwehr, keine Polizei, keine Müllabfuhr, kein fließendes Wasser und keine Kanalisation.

Im Schatten einer Hütte wartet an diesem Julimittag Sané darauf, dass er duschen kann. Die Sonne steht fast senkrecht und glüht wie die Zigarette, mit der Sanés Kumpel Musa versucht, eine kleine eitrige Wunde an seiner Fußsohle zu veröden. Wasser hat Sané in einem Eimer am anderen Ende der Piste geholt, aus einer offenen Leitung, aus der es manchmal sprudelt und manchmal auch nicht. In einigen der Baracken gibt es Duschkabinen ohne Duschen. Und weil viele sie auch als Toiletten nutzen, stinken sie erbärmlich. Wer es sich leisten kann, baut sich ein eigenes Bad: ein drei, vier Meter tiefes Loch, der Boden darüber zementiert, einen Holzverschlag außen rum, fertig. Die anderen pissen und kacken einfach in die Wiese hinter den Hütten.

Müll türmt sich zu Haufen, Flaschen vor allem, der Rest wird immer wieder mal verbrannt. Süßlich-beißender Rauch zieht dann über die Piste.

In Gambia, sagt Sané, habe er als Bauer gearbeitet, auf der Farm seiner Familie. Sie haben Maniok angebaut, Mais und Reis. Den konnten sie in guten Jahren sogar dreimal ernten. Wenn der Regen aber ausblieb, hatten sie nichts zu essen. Und in den vergangenen Jahren blieb er immer öfter aus.

Fast alle auf der Piste haben eine ähnliche Geschichte. Manche sind vor Gewalt und Unterdrückung geflohen, viele vor Armut. Sie haben ihre Heimat in der Hoffnung auf ein besseres Leben verlassen, oft mit der Hoffnung ihrer ganzen Familie als Gepäck. Sie sind durch die Wüste nach Libyen und in Booten übers Mittelmeer. Europa haben sie in Kalabrien, Sizilien oder auf Lampedusa erreicht.

Sané war dann ein Jahr und fünf Monate in einem Flüchtlingslager in Turin. Er bekam Taschengeld, Italienischunterricht. Und schließlich eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung – mit der aber zugleich sein Aufenthaltsrecht im Lager erlosch. Niemand sagte ihm, wohin er gehen sollte. Wovon leben.

Auch da gleichen sich die Geschichten der Pistenbewohner, egal ob sie eine Aufenthaltsgenehmigung haben, eine Duldung oder eine Ablehnung. Abgeschoben werden aus Italien nur wenige. Wird ein Asylantrag abgelehnt, erhält der Betroffene ein Papier, auf dem steht, dass er das Land innerhalb von 15 Tagen verlassen muss. Was natürlich kaum einer macht, schon allein, weil sich keiner den Heimflug leisten könnte. Überall in Italien wachsen deshalb wilde Lager von Flüchtlingen, in einem Park in Mailand, in besetzten Gebäuden im ehemaligen Olympiadorf in Turin und vor allem in Süditalien, wo es schon lange Zelt- und Barackensiedlungen von osteuropäischen und afrikanischen Erntehelfern gibt. Gettos, wie die Italiener sagen. Das größte Getto ist die Piste.

Ende der neunziger Jahren errichtete Italien auf dem früheren Flugplatz eine Notunterkunft für Flüchtlinge aus dem Kosovo, daher die Wohncontainer und Ziegelhäuschen. Bald wurde daraus ein permanentes Lager und es wurden neue, große Fertigblöcke gebaut, vielleicht hundert Meter von der Landebahn entfernt. Noch heute steht das staatliche Auffanglager dort. Etwa tausend Asylbewerber sind darin untergebracht, abgetrennt von der Piste durch einen zwei Meter hohen Zaun mit Stacheldraht obendrauf.

Auf der Wiese zwischen dem offiziellen und dem inoffiziellen Lager baut Sanés Freund Musa gerade eine Hütte. Keine allzu gute Lage, vierte oder fünfte Reihe hinter der Piste, aber immerhin.

Wohneigentum ist auch im Getto begehrt. Auch hier muss man es sich erst einmal leisten können. 50 Euro hat Sané für das Sperrholz gezahlt: Schrankwände, Pressspanplatten, grobe Bretter. Ein bisschen hat er selbst zusammengesammelt, in den Straßen von Foggia, der nächsten großen Stadt. Aber nicht viel, die Nachfrage ist einfach zu groß. 35 Euro hat ihn die schmutzige Folie gekostet, die er aufs Dach nagelt, drei Euro das Kilogramm Nägel und acht Euro die beiden Säcke Zement, mit denen er den Boden in der Hütte befestigen will. Fünf Euro braucht er dann noch für eine Matratze, 20 für 20 Meter Kabel und 30 für den Stromanschluss. Um den kümmern sich die Bulgaren, die aus ihrem Getto in der Nähe kommen, oder die Eritreer, so genau weiß Musa das noch nicht.

Als wenig später Sané vom Duschen kommt, fläzt er sich auf einen klapprigen Stuhl und schaut seinem Freund beim Hämmern zu. Zu tun hat er heute nichts. Weil das Frühjahr so kalt und nass war, sind die Tomaten noch nicht reif, auf deren Ernte so viele hier auf der Piste und in den anderen Gettos der Gegend warten. Ein paar Mal war Sané schon zum Unkrautrupfen auf den Feldern. Und in den letzten Tagen hat er in den Weinreben gearbeitet. Ab fünf Uhr morgens hat er Blätter gezupft, damit die Trauben möglichst viel Sonne bekommen. Ein Somali, der selbst auf der Piste lebt, hatte ihm die Arbeit verschafft. Vier Euro sollte er pro Stunde bekommen, fünf verlangte der Somali für die Fahrt zu den Feldern, zusammengepfercht mit sechs, sieben anderen in dessen Auto. Macht bei zehn Stunden Arbeit 35 Euro Tageslohn. Doch nicht einmal die habe er bisher bekommen, sagt Sané. Der Somali behauptet seit Tagen, der italienische Patron, dem die Rebstöcke gehören, habe ihn noch nicht ausbezahlt. „What can I do?“

Fotografieren lassen will sich Sané nicht. Er hat Angst, dass das Foto ins Internet kommt. Dass seine Familie erfahren könnte, dass er mit sieben anderen in einer armseligen Hütte haust, für die er auch noch 25 Euro im Monat hinblättern muss, in einem Slum, das genauso elend ist wie die Slums daheim in Brikama. Dass er für wenig und manchmal auch für nichts schuftet, wie ein Sklave. Wenn er genug Geld hat, um mit seinen Eltern und Brüdern zu telefonieren, alle paar Wochen mal, erzählt er ihnen, wie gut es ihm geht. Wie schön Italien ist.
D ie Piste ist eine Stadt der Männer. Ein paar Familien gibt es, eine Handvoll Kinder. Die meisten der wenigen Frauen aber sind Prostituierte – so wie Andrea, die von den Männern cavallo bianco genannt wird, weißes Pferd. Sie ist eine Romni aus Rumänien, klein und laut, am laufenden Band spuckt sie Schimpfwörter um sich, cazzo, vaffanculo, verpiss dich! Die anderen Prostituierten seien alle neidisch, sagt sie und zeigt auf ihre helle Haut und ihre Augen. Die sind blau – und so vernebelt wie ihre Gedanken, die sie schon zum Frühstück mit Whiskey umspült. Heute habe sie den ganzen Morgen gekotzt, sagt Andrea. Aber nicht wegen des Alkohols. Sie hält sich den Bauch. Irgendwann nach Ramadan muss es passiert sein. Vor ungefähr anderthalb Monaten also, sagt sie. „Ich muss ins Krankenhaus.“ Ihr erstes Kind, Antonio, habe sie vor ein paar Jahren, als sie noch im Bulgaren-Getto lebte, verkaufen müssen.

Alle anderen Prostituierten auf der Piste sind Nigerianerinnen, junge Frauen, manche fast noch Mädchen, mit zu langen Wimpern und zu engen Leggins. „Food is ready“ steht als Erkennungszeichen an den Bordellbaracken. Vier oder fünf sind es, die größte kennt jeder: „La discoteca“. Sie steht direkt am Zaun des Aufnahmelagers, ein Steinbau, wahrscheinlich noch aus der Zeit des Flugbetriebs. Der schummrige Innenraum ist mit Postern von Madonna tapeziert. Das sei aber nicht immer so, sagt der Kerl hinter der Bar. Der Boss wechsle alle paar Wochen mal das Motto. Durch eine Tür in der Ecke geht es zu den Verschlägen, in denen die Prostituierten leben und anschaffen. Zehn Euro kostet der Sex. Manche machen es auch für weniger.

Nicht nur Männer, die auf der Piste leben, kommen hierher. Jedes Wochenende steigen in „La discoteca“ Partys. Dann füllt sich der Schotterplatz davor mit Autos, bis in die Wiese. Bulgaren und Rumänen kommen aus ihren Gettos, Italiener bis aus dem 20 Kilometer entfernten Foggia. Sie kaufen sich die Frauen. Und Marihuana, Haschisch, Kokain. In einem Raum hinter der Bar werden die Drogen gelagert, gewogen und portioniert.

Kontrolliert wird dieses Geschäft von der nigerianischen Mafia, einer Bande namens Black Axe, schwarze Axt. Die Drogen kaufen sie, darauf deutet jedenfalls vieles hin, von dem italienischen Mafiaclan der Romito, auf dessen Territorium die Piste liegt, und der auch den nächstgelegenen Hafen beherrscht. Für die Prostituierten, die sie an Landstraßen außerhalb des Gettos anschaffen lassen, zahlen sie den Romito Steuern. Ansonsten ist der Handel mit den Frauen komplett in ihrer Hand, angefangen in den Dörfern im Süden Nigerias, wo sie immer jüngere anwerben, auch mit falschen Versprechen. Sie schicken sie auf die gefährliche Reise nach Norden, so viele, dass es für sie kein großer Verlust ist, wenn mal ein Mädchen in der Wüste verdurstet oder im Mittelmeer ertrinkt.

In Italien ist das Netz der nigerianischen Mafia inzwischen so engmaschig, dass ihr keiner entkommt. Die Auffanglager, die eigentlich geschlossen sein sollten, sind durchlässig wie Siebe, auch das neben der Piste. Armeefahrzeuge drehen dort ihre Runden, während durch zwei Löcher im Zaun Verkehr herrscht wie auf einer Ameisenstraße. Bewohner der Piste klettern rein, zum Wasserholen, zum Kicken, Bewohner des Lagers gehen draußen bummeln. Und die nigerianische Mafia holt sich direkt aus staatlicher Obhut junge Frauen als Nachschub für ihr Geschäft und junge Männer als Nachwuchs. Wer sich weigert mitzumachen, wird verprügelt, gequält, mit Macheten verletzt.

Auf der Piste legt sich keiner mit den Nigerianern an. Jeder, der ein Geschäft oder ein Restaurant aufmachen wolle oder eine Bleibe in guter Lage, heißt es, müsse sich mit ihnen gut stellen. Genaueres will keiner erzählen. Dass der Staat die Piste sich selbst überlassen hat, bedeutet nicht, dass dort Anarchie herrscht. Es herrscht Angst.

Das größte Gebäude neben den Bordellen ist die Garden of Jesus Christ Church im Zentrum der Piste, deren Motto, Johannes 1:5, jemand außen an die Betonmauer gesprüht hat: „Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht begriffen.“ 130 Plastikstühle sind drinnen aufgereiht. Platzeinweiser in weißen Hemden kümmern sich sonntags um die Besucher. Ab sieben, halb acht spielt die Band, Keyboard, Schlagzeug, Gesang. Und dann schallen den ganzen Vormittag Gospel und Gebete über die Piste, ein Lautsprecher steht draußen vorm Fenster, in Jesus’ name we pray, hallelujah! Praise the Lord.

Schräg gegenüber der Kirche hat vor ein paar Wochen ein neues Restaurant aufgemacht, das Omega, ein geräumiger Bungalow mit Klimaanlage, nigerianischem Essen und dem Angebot, allerlei Feste auszurichten. „Wir sind spezialisiert auf: Geburtstag, Taufe, Silvester, die Feier von Dokumenten und vielem mehr“, steht auf einem Plakat. Drinnen scheppert afrikanischer Pop. Im Fernsehen läuft ZDF. Die Rosenheim-Cops.

„Ich will bald nach Deutschland“, sagt der Kellner, und damit ist er auf der Piste nicht allein. Sie haben ja nicht aufgehört, von einem besseren Leben zu träumen, nur träumen sie jetzt eben nicht mehr in Afrika, sondern hier in diesem Slum mitten in Europa. „Mein Freund in Deutschland hat erzählt, dass er in eine Schule gehen kann“, sagt Sané. „Ich würde gerne lernen, als Zimmermann zu arbeiten.“ Manche waren auch selbst schon in Deutschland, ein paar Monate oder ein paar Jahre in Stuttgart, Dortmund, Penzberg. „Servus!“ grüßt ein Senegalese. Dann wurden sie zurück nach Italien geschickt, wo sie Europa einst erreicht hatten. So wie es die Regeln der EU vorsehen.

Dass Italien nun einen Innenminister hat, Matteo Salvini, der die Hetze gegen Zuwanderer und Außenseiter pflegt, haben sie natürlich auch auf der Piste mitbekommen. Das Gerücht macht die Runde, dass er noch in diesem Sommer herkommen könnte, dass er das Getto räumen lassen will. „Soll er doch, wir wollen ja auch raus hier“, sagt Cau, genannt Papa, mit 50 einer der ältesten und die gute Seele der Piste. Keiner ist so gut darin, schrottreife Fahrräder zu reparieren, wie er. Für die Fahrten über Feldwege kleidet er die Mäntel mit kaputten Schläuchen aus. Und auch für all die anderen Widrigkeiten des Lebens hat er gute Ratschläge.

Cau lebte schon auf der Piste, als sie noch einem verschlafenen Weiler glich. Dann ließ die Regionalregierung das Gran Getto von Rignano räumen, das größte damals. Sie schaffte Wohncontainer an, doch die reichten nur für wenige, und viele stehen bis heute auf Halde. Kein Bürgermeister will sie bei sich aufstellen lassen. Willkommen scheinen die Gettobewohner nur als billige Arbeiter auf den Oliven-, Wein- und Tomatenfeldern zu sein. Und so sind die meisten einfach 30 Kilometer weiter auf die Piste gezogen. Die seither wächst und wächst.

„Es ist unmöglich, all die Gettos aufzulösen ohne einen guten Plan zu haben, wohin mit den Menschen“, sagt Cau. Dann beugt er sich wieder über das Rad vor sich und zieht die Speichen nach. Die Sonne hängt jetzt tief über den Hüttendächern, ihr Licht legt sich weich auf Caus Falten und Narben. Und auf die ganze Piste. Es sind die friedlichsten Minuten des Tages hier. Zeit um Luft zu holen. Dann wird es dunkel.

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