10. Juli 2018 · Kommentare deaktiviert für Wer würde wirklich kommen, wenn alle Grenzen offen wären? · Kategorien: Deutschland · Tags: ,

FAZ | 08.07.2018

Stimmt es überhaupt, dass alle Welt nach Deutschland will? Auch andere Menschen haben eine Heimat, die sie lieben. Was unseren Heimatschützern, Heimatbeschwörern und Heimatministern entgeht.

Von Claudius Seidl

Man muss, um das Absurde auszumessen, sich nur kurz vorstellen, dass irgendwo, in einer abgelegenen deutschen Provinz vielleicht, das Gerücht aufkäme, wonach die Erde eine Scheibe sei – und wer etwas anderes behaupte, sei bloß auf die Falschmeldungen der Lügenpresse und die Propaganda der korrupten Eliten hereingefallen. Ziemlich bald formierte sich eine Partei, welche die Interessen jener, die sich fürchteten, vom Rand der Welt herunterzufallen, lautstark artikulierte. Und spätestens, wenn es diese Partei in den Bundestag schaffte, würden auch Markus Söder, Horst Seehofer und Sahra Wagenknecht fordern, dass man die Sorgen der Menschen gefälligst ernst nehmen müsse. Und dass deshalb der Bau einer Mauer an den Rändern der Erde erwogen werden sollte.

Nein, diese Analogie stimmt nicht ganz – in Bayern, nur zum Beispiel, wissen die Leute ganz gut, was ihre wahren Sorgen sind. In der dritten Juniwoche, als der Streit darüber, ob man gewisse Migranten gar nicht erst ins Land lassen solle, seine maximale Schärfe und scheinbare Dringlichkeit fast schon erreicht hatte, ergab eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa, dass die Mehrheit der Bayern auf die Frage nach dem größten Problem des Freistaats geantwortet habe: das sei die CSU.

Ordnung und Kontrolle

Trotz aller Streitereien über Mittel und Methoden schienen sich aber CSU und CDU, auch SPD, FDP, Teile der Grünen und der Linken sowie natürlich jene, die moderierend oder kommentierend den Streit begleiteten, einig darüber zu sein, was das Ziel aller Anstrengungen sei. Die Ordnung müsse wiederhergestellt, die Kontrolle zurückgewonnen, die Handlungsfähigkeit des Staats wiederhergestellt werden. Und zwar so schnell wie möglich.

Das klang, als näherten sich schon Invasionstruppen, zumindest aber eine Völkerwanderung von Südosten her. Und es klang insofern nicht ganz absurd, als das kollektive und kulturelle Gedächtnis noch ein Bewusstsein davon hat, dass die Bedrohung Mitteleuropas seit mehr als 1500 Jahren aus dieser Richtung kam. Die Hunnen, die Ungarn, die Mongolen. Als, vor 335 Jahren, zum (bislang?) letzten Mal die Invasion aus dem Südosten drohte, als das osmanische Heer die größte Stadt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation belagerte und der Kaiser aus Wien schon geflohen war: Da wurde das Abendland von einer Koalition gerettet, die heutigen Bündnissen erstaunlich ähnelte. Es waren die Bayern, die Sachsen, die Kaiserlichen und ein starkes polnisches Heer, die die Türken schlugen und vertrieben.

Fünf Asylsuchende, die große Invasion

Es musste aber, im politischen Streit des Sommers 2018, erst die „Fiktion der Nichteinreise“ erfunden werden, dass endlich offenbar wurde, dass die ganze Politik der Migrantenabwehr auf der Fiktion der Einreise beruhte. Man muss den semantischen Winkelzügen des Kompromisses, auf den sich die Koalitionsparteien endlich geeinigt haben, gar nicht folgen wollen: Interessanter ist ja, dass die Regelung, wie immer sie verwirklicht wird, für etwa fünf bis sechs Asylsuchende pro Tag gelten wird. Das ist also die große Invasion, der Strom, die Flut, wovor sich angeblich alle fürchten – und das in einer Zeit, da Wladimir Putin, der Held fast aller Ausländerfeinde in Europa, seinen Schützling Baschar al Assad kräftig unterstützt dabei, noch weitere Teile Syriens unbewohnbar zu machen und Hunderttausende Syrer zu vertreiben aus Häusern und Wohnungen, in denen sie lieber geblieben wären.

Und genau das ist der Punkt, der eigentlich auch all unseren Heimatschützern, Heimatbeschwörern, Heimatministern irgendwann einleuchten könnte: dass auch andere Menschen eine Heimat haben, die sie lieben und in der sie bleiben möchten. Dass die allermeisten Menschen (diverse Studien kommen immer wieder auf die Quote von 97 Prozent) ein beschwerliches Leben in vertrauter Umgebung und der eigenen Sprache einem reicheren Leben in der Fremde vorziehen – wie man das ja in der Europäischen Union sehen kann, wo, trotz enormer Einkommensunterschiede, offener Grenzen und, was ja angeblich so wichtig ist, verwandteren kulturellen Bedingungen, die große Wanderung von Ost nach West und vom Süden in den Norden ausgeblieben ist

Die vielen Migranten, die sich im Spätsommer auf den Weg über den Balkan nach Mitteleuropa machten, waren die Anomalie (für welche es viele, inzwischen überholte Gründe gab) – und nicht etwa der Normalzustand, der sofort wiederkäme, wenn Europa seine Grenzen nicht bis zur Unüberwindbarkeit befestigte.

Unter dem Titel „Was, wenn alle Grenzen offen wären“ hat vor zweieinhalb Jahren die „Neue Zürcher Zeitung“ den Stand der Migrationsforschung referiert, unter fast demselben Titel hat das Magazin „brand eins“ in seiner neuesten Ausgabe diesen Stand aktualisiert. Es ist offensichtlich, dass man zu solchen, sich in der Gegenwart abspielenden Prozessen, keine absolut gesicherten, quasi feuerfesten wissenschaftlichen Aussagen machen kann.

Mehr Paranoia als Politik

Und doch sprechen Empirie (das Referenzbeispiel ist immer wieder die Grenze zwischen den reichen Vereinigten Staaten und dem vergleichsweise armen Mexiko) und Plausibilität dafür, dass die folgenden Aussagen mehr als bloß fragile Hypothesen oder wilde Spekulationen sind: Dass, erstens, die meisten Menschen lieber zu Hause bleiben, aus den oben genannten Gründen. Dass, zweitens, Migration den Wohlstand fördert – im Herkunfts- wie im Ankunftsland; die Ökonomen sind nur nicht einig darüber, ob das Wachstum bei offenen Grenzen etwas weniger oder sogar mehr als hundert Prozent ausmachte.

Dass, drittens, die Frage, ob die Grenzen durchlässig oder geschlossen seien, auf die Migration einen ähnlichen Einfluss hat, wie es Verbote auf den Drogenkonsum haben: Die Migration nimmt nicht ab, aber die Kollateralschäden steigen, und die Mafia der Schlepper hat den Profit. Und viertens befördern durchlässige Grenzen, wie das mexikanische Beispiel zeigt, die sogenannte zirkuläre Migration: Menschen, die genug Geld verdient haben, kehren zurück und mehren den Reichtum ihrer Heimat.

All das sind Aussagen, die sich nicht hundertprozentig beweisen lassen; immerhin sind sie seriöser als alles, was dem entgegensteht: Kontrollverlust, Unterwanderung, Bevölkerungsaustausch, Islamisierung, Asyltourismus. Mehr Paranoia als Politik.

Bleibt die Angst vor der kulturellen Unvereinbarkeit: Warum so verzagt, möchte man aber, als traditionsverliebter Konservativer, fragen: Glaubt ihr wirklich nicht daran, dass Menschenrechte attraktiver sind? Habt ihr vergessen, dass das Wesensmerkmal der literarischen und musikalischen Klassik, auf die ihr angeblich so stolz seid, nicht deren Deutschheit, sondern deren Universalität war?

Wäre es, in diesem Sinn, nicht deutscher, die Leute von Beethoven zu überzeugen, als den Muezzin zum Schweigen zu bringen?

 

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