27. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für Wohin gerettete Bootsmigranten gebracht werden sollen – vier Szenarien der europäischen Asylpolitik · Kategorien: Europa, Mittelmeer · Tags: , ,

NZZ | 27.06.2018

Vor dem EU-Gipfel kursieren diverse Vorstellungen zum Umgang mit Bootsmigranten auf dem Mittelmeer. Es besteht jedoch die Gefahr politischer Schnellschüsse, die vor den Gerichten nicht standhalten würden.

Niklaus Nuspliger, Brüssel

Auffanglager, extraterritoriale Camps, Hotspots, Sammelpunkte oder Anlande-Stellen – vor dem EU-Gipfel vom Donnerstag in Brüssel geistern viele Begriffe durch die migrationspolitische Debatte. Im Zentrum steht die Frage, wohin im Mittelmeer gerettete Bootsmigranten künftig gebracht werden können und was dort mit ihnen geschehen soll. Offen ist, ob überhaupt noch eine gemeinsame Lösung möglich ist oder ob allenfalls eine Koalition der Willigen aktiv wird. Zudem stellen sich Fragen zur Rechtmässigkeit der noch vagen Ideen, was die Gefahr birgt, dass Schnellschüsse vom Europäischen Gerichtshof in Luxemburg oder vom Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg rasch für ungültig erklärt würden.

1. Anlande-Stellen in Nordafrika

Hoch im Kurs steht die Idee, im Mittelmeer gerettete Migranten und Flüchtlinge an Sammelstellen zu bringen. Die EU möchte hierzu die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) an Bord holen. Um Odysseen von Rettungsschiffen, die von der italienischen Regierung nicht an Land gelassen werden, zu verhindern, hat das UNHCR ein regionales Schema für vorhersehbare Regeln für die Anlandungen gefordert. Das Flüchtlingshilfswerk gibt sich zurückhaltend, dürfte der EU aber bald konkrete Pläne präsentieren.

Als mögliches Modell gilt ein von der EU finanziertes Migrations-Zentrum in Niger, in welches Migranten aus den libyschen Folter-Lagern evakuiert werden. Im Zentrum unterstützt die IOM Migranten ohne Schutzanspruch bei der freiwilligen Rückkehr in ihre Heimat. Das UNHCR bestimmt Flüchtlinge mit Anspruch auf Schutz, die dann von den EU-Staaten über freiwillige Kontingente aufgenommen werden. Knapp 1300 besonders schutzbedürftige Flüchtlinge wurden bisher auf freiwilliger Basis von EU-Ländern (und auch der Schweiz) aufgenommen. Das Zentrum in Niger soll dereinst Platz für 1000 Personen bieten, weshalb ein kontinuierliches Resettlement von Flüchtlingen nötig ist. Sicherheitsüberprüfungen durch Beamte der EU-Staaten vor Ort verlangsamen den Prozess.

Weitere Zentren entlang der Fluchtrouten könnten verhindern, dass Migranten überhaupt zum Mittelmeer gelangen. Eine Sprecherin der EU-Kommission erklärte aber, dass es grundsätzlich völkerrechtswidrig wäre, Migranten, die bereits in Europa angekommen sind, nach Afrika zurückzuschaffen. In einem Grundsatzurteil von 2012 verurteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg Italien wegen Missachtung des Refoulement-Verbots, weil die Behörden Bootsmigranten auf Hoher See abfingen und nach Libyen zurückbrachten. Inwiefern sich die rechtliche Lage bei Rückführungen in vom UNHCR betriebene Zentren ändern würde, ist unklar.

2. EU-Hotspots ausserhalb der EU

Österreich liess diese Woche Pläne zirkulieren, wonach Flüchtlinge nur noch in Zentren ausserhalb der EU Asyl suchen und in Europa selber offenbar gar kein Gesuch mehr stellen dürften. Auch dies wäre kaum mit geltendem EU- und Völkerrecht in Einklang zu bringen. Die Pläne von extraterritorialen EU-Hotspots in Nordafrika oder dem Balkan werfen auch die Frage auf, wer nach welchen Regeln die Asylverfahren durchführen und welches Land Flüchtlinge nach welchem Schlüssel aufnehmen würde. Zudem hat sich bisher kein Land bereit erklärt, für die EU solche Zentren zu beherbergen.

Im Pakt mit Ankara von 2016 versuchte die EU, den rechtlichen Rahmen auszureizen, um Asylsuchende dennoch aus der EU auszuweisen. Gemäss der Vereinbarung können über die Türkei auf die griechischen Inseln eingereiste Asylsuchende zwar formell ein Asylgesuch stellen. Doch werden sie in einem Schnellverfahren abgefertigt, bei dem ihre Gesuche als «unzulässig» abgelehnt werden können. Der Grund: Die Türkei gilt für sie als «erstes Asylland» oder als «sicherer Drittstaat», in dem ihnen (auch dank EU-Milliarden) Schutz garantiert wird. Solche Lösungen strebt die EU nun auch mit anderen Drittstaaten an.

3. Geschlossene Hotspots innerhalb der EU

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez haben derweil die Option von neuen geschlossenen Hotspots innerhalb der EU ins Spiel gebracht. Im Mittelmeer gerettete Migranten könnten also auch in solche Zentren in anderen EU-Ländern gebracht werden, was Italien entlasten würde. In diesen Hotspots würden dann die Asylgesuche geprüft. Wer keinen Anspruch auf Schutz hat, soll rasch zurückgeführt werden. Fraglich ist, wer anerkannte Flüchtlinge aufnehmen würde und ob sich das UNHCR an solchen Zentren beteiligen könnte. Eine rechtliche Hürde ist überdies die EU-Verfahrens-Richtlinie, welche die Inhaftierung von Asylsuchenden untersagt.

Die EU-Kommission plant nun, im September drei neue Gesetzesvorschläge vorzubringen. Diese sollen die Grenzschutzagentur Frontex erheblich aufstocken, die Asyl-Agentur EASO stärken und die Rückführungspolitik effizienter machen. EU-Grenz- und Asylbeamte wären in neuen Hotspots sicherlich gefragt. Zudem wäre die von der Kommission angestrebte Erhöhung der Rückführungsquote auf 70 Prozent bis Ende 2019 eine Voraussetzung dafür, dass abgewiesene Asylsuchende Europa rasch verlassen müssten. Da heute EU-weit bloss 40 Prozent der Migranten ohne Bleiberecht in ihre Heimat zurückkehren, mutet das Ziel der Kommission ambitioniert an.

4. Bekämpfung der Sekundär-Migration

Derweil dreht sich der Machtkampf in Deutschland zwischen der CDU und der CSU weniger um die Primär-Migration übers Mittelmeer als um die Sekundär-Migration bereits in der EU registrierter Asylsuchender innerhalb Europas. Da am Gipfel eine Einigung auf die Reform des Dublin-Systems unrealistisch ist, sprach Kanzlerin Angela Merkel am Sonntag bei einem Vorbereitungstreffen in Brüssel ziemlich vage von bilateralen und multilateralen Vereinbarungen zur Rücknahme von Asylsuchenden zwischen EU-Ländern.

Abgesehen von der neuen Dublin-Verordnung, welche das Prozedere zur Rücknahme von Asylsuchenden zwischen EU-Staaten beschleunigen und vereinfachen würde, stehen als Teil der laufenden EU-Asylreform mehrere andere Gesetzestexte praktisch zur Verabschiedung bereit. Sie würden unter anderem die Asylverfahren straffen, aber über neue Strafen und Beschränkungen für Asylsuchende auch die Sekundär-Migration einzudämmen versuchen. Am EU-Gipfel dürfte sich daher auch die Frage stellen, ob diese Gesetzestexte von der Dublin-Reform getrennt werden und rasch beschlossen und in Kraft gesetzt werden sollen.

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