27. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für Mittelmeer-Migranten: Falsche Slogans und Hotspots am falschen Ort · Kategorien: Afrika, Italien, Libyen · Tags: ,

Telepolis | 22.06.2018

Mission Lifeline – das nächste Rettungsschiff mit Migranten, das einen sicheren Hafen sucht. Wie könnten europäische Lösungen aussehen?

Thomas Pany

Der Streit zwischen den Seenotrettern-NGOs und der neuen italienischen Regierung geht weiter. Nach der Aquarius hat nun das Rettungsschiff Lifeline Migranten an Bord, für die sie einen sicheren Hafen sucht. Über 200 sind es, die Versorgung auf dem Schiff kann nur kurzfristig gewährleistet werden. Der italienische Innenminister gab Bescheid, dass italienische Häfen für das Schiff der deutschen NGO geschlossen sind.

Es ist keine bloße Wiederholung des Aquarius-Dramas. In diesem Stück geht es schärfer zu und es werden andere Hintergründe aufgezogen. Innenminister Salvini begnügt sich nicht mit der Erklärung, dass Italien keine Migranten von der Lifeline auf italienischen Boden lässt, sondern er erhebt schwere Vorwürfe gegen die Besatzung.

Sie habe in einem Bereich agiert, wofür die libysche Küstenwache verantwortlich sei und darüber hinaus falsch gehandelt, weil sie damit mehr Gerettete aufnahm, als ihre technischen Möglichkeiten zulassen. Zuletzt warf der italienische Innenminister den Verantwortlichen des Rettungsschiffes vor, dass sie unter falscher Flagge fahren, weswegen er – zusammen mit dem Transportminister – die Absicht äußerte, das Schiff der Mission Lifeline wie auch den Seefuchs der NGO Sea-Eye zu beschlagnahmen.

Die Story zum Feindbild

Beides sind deutsche NGOs und passen damit zu einem Feindbild, mit dem Salvini großen Publikumserfolg hat und auch hierzulande Beifall bekommt: Die NGOs sind in diesem Bild „deutsche Taxis“ im Mittelmeer, die das Geschäft der Schlepper betreiben und zig Tausende Migranten nach Italien bringen. Das Verhalten der NGOs wird in den Anklagen, die in Foren nicht nur in Italien zu einem Chor der Entrüstung angewachsen sind, mit einer gewissen Überheblichkeit des Verhaltens Deutscher in Europa verbunden.

Es ist eine Diffamierungskampagne. Um das zu erkennen, braucht es gar nicht die statistischen Kurven und Zahlen, wie sie zum Beispiel aktuell von Elena Corradi, Matteo Villa und Antonio Villafranca beigebracht werden. Derartige Grafiken und Zahlen sind argumentativ leicht zu umgehen, wie sich in der Vergangenheit beim Thema „Pullfaktor Seenotretter“ schon gezeigt hat.

Es kratzt auch ein anderes Bild an der anscheinend für nicht wenige eingängigen Story von den deutschen „NGO-Taxis“, die man nur anzurufen braucht, damit sie Migranten aus Libyen holen und ins völlig überforderte Italien bringen. Das Bild stammt von den Erfolgsmeldungen der libyschen Küstenwache.

Am Donnerstag habe die libysche Marine 301 Migranten vor der Küste bei Garrabulli (dem derzeit häufig genutzten Ablegeort) gerettet, berichtet die libysche Ausgabe der al-Wasat. Dort ist weiter zu erfahren, dass die Migranten, die aus verschiedenen afrikanischen Ländern stammen, in den Hafen nach Tripolis gebracht wurden und dass die libysche Marine (welche die Küstenwache weiter draußen auf dem Meer übernimmt) in der vergangenen Woche 273 Migranten gerettet und 17 Leichen gefunden habe, die „während unterschiedlicher Rettungsaktionen“ ertrunken sind.

Das bedeutet, dass es ein Risiko gibt, das möglicherweise nicht so leicht einzuschätzen ist, dass ein Schlauchboot von der Küstenwache abgefangen wird, bevor es überhaupt in den Bereich kommt, wo sich NGOs aufhalten. Dazu kommt das ebenfalls nicht leicht einzuschätzende Risiko selbst dann umzukommen, wenn Rettungsaktionen schon initiiert wurden.

Das ist dann doch ein anderes Risiko als bei einer Taxi-Bestellung.

Zumal die Notrufe, wie sich im Fall der Aquarius vor einer Woche gezeigt hatte, den „Dienstweg“ gehen und über die Seenotleitstelle in Rom abgewickelt werden. Eine seltsame Rolle im augenblicklichen Geschehen spielen die Niederlande.

Sowohl die „Lifeline“ wie das NGO-Rettungsschiff „Seefuchs“ segeln unter niederländischer Flagge. Lifeline hat ein entsprechendes Schreiben veröffentlicht. Beim „Seefuchs“ gab es Erstaunen seitens der NGO Sea Eye über die niederländische Erklärung. Die sieht die Lage so, dass die niederländische Beflaggung nicht mehr rechtens sei.

Salvini hatte wie erwähnt angekündigt, dass man die beiden Schiffe daraufhin überprüfen werde. Was wohl nur für den Fall gilt, wenn sie italienische Hoheitsgewässer befahren. Der Innenminister erklärte den Verantwortlichen der Lifeline, dass sie die Migranten nach Holland bringen könnten, aber nicht in einen italienischen Hafen.

Wer nun, wie im Fall der Aquarius Spanien, „einspringt“, um die Geretteten auf der Lifline zu übernehmen, ist zur Stunde noch nicht bekannt. Auch das Hintergrundbild hat sich verändert.

Der Streit in der deutschen Regierung zwischen Kanzlerin Merkel und Innenminister Seehofer darüber, ob Migranten an der Grenze abgewiesen werden können, zeigte mit einer jähen Plötzlichkeit, wie sehr die Migrations-Politik das Nervenzentrum einer Öffentlichkeit berührt, in der Mehrheitsverhältnisse herrschen, die lange Zeit nicht ernst genommen oder überhaupt nicht wahrgenommen wurden.

Die Frage, wie mit den Migranten umzugehen ist, die augenblicklich an Bord der Lifeline sind, und die im gerade begonnenen Sommer von anderen Schiffen gerettet werden, steht nun im drängenden Zusammenhang mit einer „europäischen Lösung“. Dafür ist am kommenden Sonntag ein Arbeitstreffen der EU-Spitzenpolitiker anberaumt.

Bemerkenswert ist die Dringlichkeit, die wie es die Zahlen zeigen, durch eine faktisch zwingende Lage hervorgerufen werden. Wie der oben genannte italienische Wissenschaftler Matteo Villa anhand von aktuellen Zahlen darlegt, gibt es keine Krise, weil sich die Zahl der Migranten im Land erhöht. Das ist auch in Deutschland der Fall. Die Krise findet in den Köpfen statt.

Es kommen weniger Migranten übers Mittelmeer nach Italien als zuvor (und es kommen sehr viel weniger Migranten über die Grenze nach Deutschland als in den beiden Jahren 2015 und 2016, dem Auslöser der politischen Flüchtlings- und Migrantenkrise)

Dennoch glaubt eine knappe Hälfte der Italiener in einer Umfrage, dass „genauso viel oder mehr kommen“, obwohl doch das Libyen-Konzept des vormaligen Innenministers Minniti für einen bedeutenden Rückgang der Zahl der Migranten gesorgt hat, die über das Mittelmeer nach Italien kommen. Es sind in den ersten Monaten dieses Jahres 75 Prozent weniger als im selben Zeitraum des Vorjahres.

Dass die Krise in den Köpfen stattfindet, heißt aber nicht, dass es dafür keine realen Grundlagen gibt. Die Mehrheit für eine andere, strengere Grenzpolitik mit mehr Abweisungsbefugnissen, einer genaueren Kontrolle bis hin zu einer Abschottung (es wäre interessant, wie hier die Abstufungen in den Meinungen genau ausfallen) rührt nicht aus einer Fiktion. Sie hat echte Gründe.

So zum Beispiel die Arbeitslosigkeit in Italien, die mit der deutschen Wirtschaftsweise zu tun hat, die daraus folgende, von der Politik viel zu wenig beachtete Lageeinschätzung, dass mehr Konkurrenz durch Zuwanderung die Sache nicht eben besser macht und dazu die Probleme, die Italien an vielen Orten mit dem Zusammenleben mit Migranten erfährt und sich nicht nur einbildet, „weil hier ein falsches Bewusstsein vorherrscht“.

Dass die Krise in den Köpfen stattfindet, heißt aber auch, dass hetzerische Sichtweisen akzentuiert, betont und betoniert werden, die zum eigenen politischen Lager passen, aber nur wenig mit Fakten zu tun haben – siehe die Darstellung der NGOs als Taxis oder ein diffamierendes Bild von Muslimen, das verstärkt wird (siehe Muslime in Zeiten der rechten Deutungshoheit).

Wer ins Forum schaut und Beiträge zu Migranten liest, weiß sofort, wie Hetze funktioniert und ankommt. Dazu braucht man keine kritische Diskursanalyse, sondern nur den gesunden Menschenverstand, der von den neuen Rechten stets eingefordert wird.

Von der Diffamierung zu trennen ist aber der Fakt, dass es, wie erwähnt, sehr viele gibt – und nicht nur in Italien oder unter Rechten -, die für eine andere Grenz- und Migrationspolitik sind. Dabei beweist die deutsche Regierung wie auch andere europäische Staaten (Frankreich!), wie sich an der kürzlichen Empörung bei Ministerpräsident Conte und Innenminister Salvini zeigt, politische Hochnäsigkeit und Defizite.

Weil ein Schreiben mit Abmachungen zum EU-Arbeitsgipfel am Sonntag schon vor dem Treffen kursierte und die italienische Regierung davon überrascht wurde, sollte Conte laut Salvini gar nicht erst hinfahren. Es bedurfte eines eigenen Krisenmanagements, das zu klären.

Wie eine Analyse des in Italien angesehenen und bekannten Journalisten und Historikers Paolo Mieli darlegt, gibt es für italienische Regierung gute Gründe, um bei dem in der EU kursierenden Vorschlag von Hotspots in afrikanischen Ländern, Ägypten oder Tunesien, oder in Albanien auf europäischem Boden, skeptisch zu sein.

Der Vorschlag könne nicht ernstgenommen werden. Die Einrichtung von Hotspots in Ägypten und Tunesien schaffe angesichts der politischen Lage dort zusätzliche Probleme, statt welche zu lösen. Dort habe man eine andere Perspektive auf Migranten als in Italien, man sehe sie als Menschen, die viel riskieren, um mehr Freiheit und eine bessere Zukunft zu suchen. Zentren, die Migranten dazu zwingen, wieder in ihre Herkunftsländer zurück zu kehren, könnten zu Orten politischer Unruhe werden.

Auch das Herbeiführen einer „Kursänderung“ von Migranten-„Karawanen“ des Schlepperbusiness, die sich Richtung Libyen bewegen, würde aufwendige militärische Mittel erfordern, die einer Besatzung gleichkommen. Zudem könnte dies angesichts vieler in Libyen arbeitender Ägypter zu unerwünschten „Kurzschlüssen“ führen.

Die bessere Lösung sieht Mieli in der Fortführung des Minniti-Konzepts. Bemerkenswert ist, dass er hier den NGOs gute Arbeit unterstellt. Die Verhältnisse in den „Lagern“ hätten sich dank der UN und der Nichtregierungsorganisationen zum Besseren verändert.

An dieser Stelle möchten wir vielmehr darauf hinweisen, dass sich das Klima in den bereits bestehenden Auffanglagern in Libyen – von denen einige bis vor kurzem noch echte Lager waren – in den letzten Monaten durch das Eingreifen von Mitarbeitern der Vereinten Nationen und einiger Nichtregierungsorganisationen verändert hat.

Aus diesen Lagern wurde begonnen (Achtung: begonnen), mit einem „humanitären Korridor“ zu experimentieren, durch den Ende Dezember letzten Jahres mit Hilfe der italienischen Bischofskonferenz einige hundert Migranten nach Italien gebracht werden konnten. Und fünfundzwanzigtausend Migranten begannen in ihre Herkunftsländer zurückzukehren, durch „unterstützte freiwillige Repatriierungen“, die sich bereit erklärten, mit einer „Mitgift“ nach Hause zurückzukehren, um in Gambia, Guinea und Nigeria ein neues Leben zu führen.

Paolo Mieli, Trugbilder und falsche Lösungen

Ob dem so ist, ist erstmal nur eine Behauptung, aber so Mieli, hier könne man ansetzen und daran, dass man die Migranten aus Afrika, die auf halber Strecke, etwa an der Südgrenze Libyens abfängt, gutes Geld bietet für die freiwillige Heimkehr wie auch ihren Herkunftsstaaten. Dass Italien beim Konzept von Minitti mit merkwürdigen Mafia-Leuten zusammenarbeitet, wird bei Mieli nicht erwähnt

Der Krieg sei gegen die Schlepper zu führen, darin sieht er einen Hauptansatz. Dazu braucht man aber andere Verhältnisse in Libyen, in denen Milizen nicht die erste Geige spielen, was aber durch bisherige Abmachungen eher bestätigt wird. Zwei Mal erwähnt wird im Corriere della Sera das Problem, wonach lediglich 7 Prozent der in Italien anlandenden Migranten Anspruch aus Asyl haben, weil sie politisch verfolgt werden, 93 Prozent emigrieren aus wirtschaftlichen Gründen, wobei es da ganz unterschiedliche Geschichten im Hintergrund gibt.

Der Historiker Mieli ist sich dessen bewusst, dass es auch in Italien viele Migranten gab und noch gibt, die aus wirtschaftlichen Gründen emigrieren – auch vermeidet er die bitteren und verleumderische Reden, die mit „Wirtschaftsflüchtlingen“ verbunden und aus politischen Lagerinteressen betont werden, stattdessen verweist er auf die italienischen Auswanderer, um zu zeigen, dass man diese Art der Migration auch anerkennen muss.

Was fehlt, ist ein europäischer Plan dazu.

Kommentare geschlossen.