24. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für Mission Lifeline: „Gäbe es Kontingente, würde Malta uns reinlassen“ · Kategorien: Italien, Malta, Mittelmeer · Tags: , ,

Zeit Online | 24.06.2018

Axel Steier gehört zu den Gründern der Mission Lifeline. Im Interview spricht Steier über das Schiff, das keinen Hafen findet – mit mehr als 230 Flüchtlingen an Bord.

Interview: Alina Schadwinkel

Die Flucht nach Europa über das Mittelmeer ist lebensgefährlich: Immer wieder gibt es Bootsunglücke, bei denen Flüchtlinge sterben. Axel Steier ist Mitgründer der Rettungsorganisation Lifeline. Seit 2016 ist ihr Schiff im Mittelmeer im Einsatz – so auch jetzt. Mehr als 230 Flüchtlinge hat die Crew an Bord, an Land bringen aber darf sie die Menschen nicht. Im Interview spricht Steier über die Lage an Bord und Lösungsmöglichkeiten.

ZEIT ONLINE: Seit Donnerstag ist Ihr Schiff mit 234 Flüchtlingen an Bord auf dem Mittelmeer blockiert – wie ist die Situation: Gibt es ausreichend Wasser, Decken, Lebensmittel?

Axel Steier: Prinzipiell ist die Stimmung an Bord eher gut. Sie müssen wissen: Die Leute kommen aus ganz anderen Verhältnissen, waren in Keller eingesperrt, wurden vergewaltigt oder gefoltert. Nun sind sie weitestgehend in Sicherheit. Das ist das eine. Das andere ist die Versorgung: Wir sind gut vorbereitet losgefahren, für die direkte Fahrt zum Hafen hätte es gereicht. Aber für mehrere Tage auf See sind wir nicht ausgerüstet.

ZEIT ONLINE: Was fehlt?

Steier: Decken beispielsweise. Wir sind mit 175 Stück gestartet. Das reicht für eine Nacht, schließlich können sich zwei Menschen auch mal eine teilen – nicht aber für mehrere Tage. Wir haben Frauen und Jugendliche an Bord, zudem vier Kleinkinder. Für sie gilt besonderer Schutz, den können wir gerade nicht bieten. Ein zweites Problem: der Platz. Das Schiff ist 30 Meter lang und acht Meter breit. Die Menschen müssen größtenteils auf Metallböden schlafen, es gibt nur an wenigen Stellen an Bord Holz. Die Kojen unter Deck benötigt die 17-köpfige Crew. Die arbeitet rund um die Uhr in Schichten und muss sich erholen können.

ZEIT ONLINE: Die Organisationen Sea-Eye und Sea-Watch unterstützen Sie. Wie genau?

Steier: Das wichtigste waren Medikamente. Es gibt zwei Fachärzte, die brauchen Material, um zu helfen. Uns gehen die Desinfektionsmittel aus, die sind aber wichtig, um Seuchen vorzubeugen. Außerdem brauchen wir Antibiotika – die Medikamente sind auf Malta verfügbar, also sollten wir sie auch an Bord haben. Wasser und Lebensmittel haben Sea-Eye und Sea-Watch ebenfalls gebracht.

ZEIT ONLINE: Wie sieht die Verpflegung aus?

Steier: Weil wir momentan die zehnfache Menge Menschen an Bord haben als normalerweise, ist in anderthalb Tagen aufgebraucht, was sonst für zwei Wochen reicht. Wegen der Sonne sollte jeder drei Liter Wasser am Tag trinken. Nun haben wir im Schiffstank 16 Tonnen trinkbares Wasser – das schmeckt aber eher schlecht. Flaschen sind deutlich besser. Was die Ernährung betrifft: Die ist recht eintönig. Wir setzen auf Couscous, den wir mit Gemüse aus Dosen – auf einem Schiff hält sich ja nichts – oder etwas Brühe aufhübschen. Lange geht das aber so nicht mehr weiter.

ZEIT ONLINE: Wo genau liegt die Lifeline derzeit?

Steier: Wir sind südwestlich von Malta. Die maltesische Regierung und Soldaten sind alle ganz freundlich, aber man will die Verantwortung nicht und man wünscht sich uns dort weg. Italien weigert sich ebenfalls. Wir werden also erst mal mehr nach Norden fahren.

„Es wird nicht besser, sondern immer schlimmer“

ZEIT ONLINE: Um dann was zu tun?

Steier: Wenn die Menschen an Bord sich nachweislich nicht mehr sicher fühlen, könnten wir uns in einen Hafen einklagen. Die andere Variante ist noch unschöner: So lange warten, bis aus dem Schiff ein Notfall wird. Wenn in einer Woche beispielsweise ein Unwetter aufzieht und wir fürchten, dass jemand über Bord geht, sind wir gezwungen, ein Mayday auszusenden. Dann wären wir ein neuer Einsatzfall und müssten einen Hafen zugewiesen bekommen.

ZEIT ONLINE: Es müsste also erst noch schlimmer werden?

Steier: Genau. Und das kann nicht sein. Die einzige Option ist, nach Artikel 17 des Dublin-Abkommens Kontingente für die Menschen festzulegen; also zu entscheiden, wer in welches Land weiterreisen soll. Sobald wir angelandet sind, würden die Menschen in einen Flieger steigen und weiterreisen. Gäbe es Kontingente, würden uns die Malteser direkt reinlassen. Es sind herzliche Leute. Es sind Seeleute, die wissen, was hier draußen los ist.

ZEIT ONLINE: Der italienische Innenminister Matteo Salvini sagt, Ihr Schiff sei gesetzlos. Was ist da dran?

Steier: Wir sind in den Niederlanden über den Wassersportverband registriert, damit fahren wir unter niederländischer Flagge. Weil der Verband so klein ist, sind die aber nicht zwangsläufig im Grundbuch eingetragen. Das führt zu juristischen Streitigkeiten. Aber: Wir haben offizielle anerkannte Registrierungspapiere, aufgrund derer uns bisher alle in aller Welt in jedem Hafen akzeptieren.

ZEIT ONLINE: Stehen Sie in Kontakt mit der Bundesregierung?

Steier: Wir sind mit den diplomatischen Sachen befasst. Das ist vage, ich weiß. Viel mehr kann ich dazu nicht sagen. Vielleicht noch: Wenn es um Unterstützung geht, denken wir vor allem an die Länder, wo unsere Freiwilligen hergekommen sind. Sie waren aus den Niederlanden, Deutschland, Spanien, der Schweiz und aus Italien. Und aus Australien. Aber von dort ist nicht viel zu erwarten.

ZEIT ONLINE: Seit September 2016 haben Sie das Schiff in Betrieb: Wie hat sich die Lage auf dem Mittelmeer seitdem verändert?

Steier: Als wir angefangen haben, hatten wir gleich eine Begegnung mit der libyschen Küstenwache. Sie hatten keine Flagge an ihrem Schiff und sind damals ohne Grund einfach an Bord gekommen. Da ist einem schon mulmig geworden. Aber wir sind stark geblieben und haben die Menschen an Bord verteidigt. In der fünften Mission im November letzten Jahres hatten wir dann gute Erfahrungen mit den verantwortlichen Koordinationszentren: Man hat uns gerufen und gezielt zur Rettung geschickt, wir waren akzeptiert. Wir verteilen Rettungswesten. Die Libyer machen das nicht. Wir haben Schnellboote, um Menschen aus dem Wasser zu ziehen. Die Libyer haben das nicht. Wir haben Ärzte, sie nicht. Die Schiffe der Nichtregierungsorganisationen hier vor Ort sind immer besser ausgestattet, besser als die Libyer, besser als Handelsschiffe oder sonstige. Deshalb sind wir immer diejenigen, die retten sollten, einfach weil wir am besten ausgestattet sind. Seitdem hat sich die Situation wieder zum Schlechteren verändert, es ist ein kompletter Rollback.

ZEIT ONLINE: Inwiefern?

Steier: Der Unterschied zum letzten Jahr ist enorm: Es hat sich eingeschliffen, dass die libysche Küstenwache gerufen wird. Aber das ist total absurd, weil die oft viel weiter weg und schlecht ausgestattet ist und die Menschen hinterher in Straflager verfrachtet. Das wird nun institutionalisiert – und damit wird das Verfahren noch menschenunwürdiger. Es wird nicht besser, sondern immer schlimmer. Es gibt ein Recht auf Flucht. Es gibt ein Recht auf Leben. Und es gibt ein Recht auf Beantragung von Asyl. Genau für diese Sachen muss man einstehen.

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Spiegel Online | 24.06.2018

Situation an Bord der „Lifeline“: „Die Riesenangst – wo geht’s hin?“

Italien verwehrt dem Rettungsschiff „Lifeline“ die Einfahrt in einen Hafen. Die Crew versucht nach Kräften, die 234 Geflüchteten an Bord zu versorgen. Doch die „Situation ist belastend“, sagt Helferin Aline Watermann.

Ein Interview von Raphael Thelen

Seit zwei Tagen harrt das von einer deutschen Organisation betriebene Flüchtlings-Hilfsschiff „Lifeline“ auf dem Mittelmeer aus. Italien und Malta hatten dem Schiff mit mehr als 230 Flüchtlingen an Bord das Anlaufen eines Hafens verweigert, Rom droht sogar mit der Beschlagnahmung der „Lifeline“. Im Interview mit dem SPIEGEL berichtet Crew-Mitglied Aline Watermann, zuständig für die Kommunikation mit den Flüchtlingen, von der Rettung, dem Austausch mit den italienischen Behörden und der angespannten Stimmung an Bord: „Viele fürchten, dass sie nach Libyen zurückgebracht werden.“

SPIEGEL ONLINE: Wie ist die Rettung abgelaufen?

Aline Watermann: Am 21. Juni haben wir zwischen vier und fünf Uhr morgens zwei seeuntüchtige Boote in internationalen Gewässern gesichtet. Wir haben das der Notleitstelle in Rom gemeldet, sind zu den Booten gefahren und haben 234 Menschen mit Schwimmwesten versorgt und sie an Bord genommen. Später kam auch die sogenannte libysche Küstenwache, aber da war die Aktion bereits beendet. Im Anschluss sind wir Richtung Norden aufgebrochen und zu dem Handelsschiff „Alexander Mærsk“ gestoßen, das gerade ein drittes Schlauchboot rettete. Dabei haben wir sie unterstützt.

SPIEGEL ONLINE: Wie geht es den Geretteten?

Waterman: Eine Frau lag im Koma, ist jetzt wieder stabil. Aber das zeigt einfach, dass die Menschen quasi keine Energiereserven mehr haben. Laut Aussagen unseres Arztes sind die meisten an Bord unter- oder mangelernährt und sehr geschwächt.

Außerdem ist es ziemlich heiß, weswegen wir versuchen, mit Planen und Rettungsdecken Schatten zu spenden. Dazu kommt die Enge an Bord. Nachts können alle liegen, aber schon sehr aneinandergedrängt. Tagsüber können sie aufstehen. Und während der Essensausgabe gibt es eine Schlange, da können sie sich ein bisschen bewegen.

SPIEGEL ONLINE: Was bedeutet es für die Situation an Bord, wenn es so beengt ist?

Watermann: Wir tun unser Bestes. Wir kärchern drei Mal am Tag alle Toiletten, aber es ist nicht optimal. Die Menschen haben schlimme Dinge erlebt. Wir fragen da nicht nach, versuchen den Menschen Ruhe zu gönnen, aber manche erzählen, dass sie vergewaltigt oder misshandelt wurden. Die sind wahnsinnig erschöpft und schlafen seit vier Tagen auf dem Boden. Und manche haben schon fünf Mal versucht, aus den Foltercamps in Libyen rauszukommen und wurden fünf Mal von der Küstenwache wieder zurückgeschleppt. Deshalb ist da auch eine Riesenangst: Wo geht’s hin? Seit längerer Zeit fahren wir ja nicht mehr so wirklich, weil wir nicht wissen, in welchen Hafen wir fahren dürfen.

SPIEGEL ONLINE: Der italienische Innenminister Matteo Salvini spricht in Bezug auf die Flüchtlinge von „Menschenfleisch“ und weigert sich, einen Hafen für die „Lifeline“ zu öffnen. Was bedeutet das für die Menschen?

Watermann: Es ist eine total belastende Situation, nicht zu wissen, warum Europa keinen Hafen öffnet. Vor allem auch, weil viele fürchten, dass sie nach Libyen zurückgebracht werden, was ja einigen, wie gesagt, schon so oft passiert ist. Deswegen kommt auch jedes Mal, wenn wir Essen verteilen, die Frage: „Wann kommen wir irgendwo an?“

SPIEGEL ONLINE: Und was sagen sie dann?

Watermann: Die Wahrheit. Dass das Thema Flucht und Migration in Europa derzeit kontrovers diskutiert wird und aktuell noch kein europäischer Hafen sich bereit erklärt hat. Dass wir uns gedulden müssen und an Lösungen arbeiten. Und dass wir versuchen müssen, die Zeit an Bord so zu gestalten, dass sie für alle erträglich ist.

SPIEGEL ONLINE: Seit zwei Jahren fährt die „Lifeline“ unter niederländischer Flagge, doch jetzt dementiert die niederländische Regierung das plötzlich. Salvini bezeichnete die „Lifeline“ deswegen als „illegales Schiff“ und schreibt: „Es ist klar, dass dieses Schiff dann beschlagnahmt und die Mannschaft festgenommen werden muss.“ Was ist dran an den Vorwürfen?

Watermann: Ich bin schockiert, dass wir als Abschreckungsbeispiel genutzt werden, an dem Maßnahmen durchdekliniert werden. Gleichzeitig haben wir aus den Niederlanden nie eine offizielle Mail mit den Vorwürfen bekommen. Aber wir sind da auch auf sicherer Seite. Wir haben die Registrierungsdokumente, und die sind ja auch öffentlich einsehbar. Auch die Information, dass wir festgesetzt werden sollen, bekommen wir nur aus den Medien, wenn wir mal genug Internet haben, um sie durchzugucken. Die italienische Regierung hat sich nicht direkt bei uns gemeldet.

SPIEGEL ONLINE: Warum laufen sie nicht Spanien, Libyen oder Tunesien an?

Watermann: Aus Spanien ist bis jetzt kein Angebot gekommen – und die Menschen nach Libyen zurückzubringen ist unter internationalem Seerecht illegal, weil es kein „sicherer Hafen“ ist. Menschen mit dunkler Haut werden dort eingesperrt, gefoltert und umgebracht. Schon aus reiner Menschlichkeit ist es unmöglich, die Geretteten dahin zurückzubringen. Was Tunesien angeht: Auch dort ist es nicht sicher, aber die Option besteht derzeit auch gar nicht.

SPIEGEL ONLINE: Am Sonntag ist das Arbeitstreffen der EU zum Thema Migration. Was erhoffen Sie sich davon?

Watermann: Wir handeln ja nicht rechtswidrig, sondern kompensieren, wo Europa seiner Verantwortung nicht gerecht wird. Gleichzeitig ist allen seit geraumer Zeit bewusst, dass es eine dringende Notwendigkeit gibt, eine Lösung zu finden. Es wäre aus meiner Sicht hier an Bord also ungemein wichtig, dass da etwas bei rauskommt.

SPIEGEL ONLINE: Und wenn nicht, wenn sich kein sicherer Hafen findet?

Watermann: Es wird sich ein Hafen finden. Wenn die Europäische Union nicht alle ihre Werte verraten möchte, dann kann es nicht sein, dass sie über einen gewissen Zeitraum hinaus, Menschen in Not und eine zivilgesellschaftliche Organisation hinhält. Und bis dahin werden wir von den anderen Seenotrettungsorganisationen unterstützt. OpenArms rief bald nach der Rettung an und fragte, ob sie uns helfen können, die Aquarius ist zurück in der Seenotrettungszone, Sea-Watch und Sea-Eye sehen zu, dass wir mit Essen und Medikamenten versorgt werden. Wir wissen, dass da viele sind, die uns unterstützen.

 

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