09. Juni 2018 · Kommentare deaktiviert für Bis die Bagger wieder kommen · Kategorien: Deutschland, DT, Social Mix · Tags:

Zeit Online | 08.06.2018

In Frankfurt hat die Polizei ein Romalager geräumt, doch damit ist das Problem nicht gelöst. Immer mehr Migranten aus Osteuropa landen in Deutschland auf der Straße.

Von Timo Reuter

Ganz in der Nähe der gläsernen Hochhäuser stehen kleine, selbst gezimmerte Hütten aus Holzbrettern. Abgedichtet sind sie mit alten Matratzen. Davor: Einkaufswagen gefüllt mit leeren Flaschen, kaputte Fahrräder, Metallschrott. Sanitäre Einrichtungen oder eine Wasserversorgung gibt es nicht. Auch das ist Frankfurt, die Bankenmetropole am Main. Was aussieht wie ein Stück brasilianische Favela, ist ein Hüttenlager auf einer Industriebrache unweit des Hauptbahnhofs von Frankfurt am Main.

Hier im Stadtteil Gutleut haben monatelang etwa 30 Menschen gewohnt, bis die Polizei das Lager räumte. Fast alle ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner sind Roma. In den letzten Jahren haben sie im Schatten der Frankfurter Skyline immer wieder kleine Slums gebaut. Viele kamen nur zum Schlafen, früh am Morgen brachen sie auf, sammelten Pfandflaschen, gingen betteln oder versuchten, sonst irgendwie ein bisschen Geld zu verdienen. So wie andere Obdachlose in anderen deutschen Städten.

In Düsseldorf schliefen etwa zehn Menschen bis Ende März in selbst gebauten Hütten neben Bahngleisen, in Hamburg bestand ihr Lager nur aus Matratzen unter einer Brücke. In Berlin lebten Dutzende Obdachlose vor einigen Jahren in verlassenen Gartenlauben und im Herbst machte ein Zeltdorf im Berliner Tiergarten Schlagzeilen. Lauter kleine Elendsviertel im reichen Deutschland.

Viele Migranten landen auf der Straße

Seit Jahren nimmt die Zahl der Wohnungslosen in der Bundesrepublik zu. Im vergangenen Herbst schätzte die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW), dass neben den rund 440.000 wohnungslosen Flüchtlingen etwa 420.000 weitere Menschen über keinen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügten. Die meisten leben in Notunterkünften, Wohnheimen oder bei Freunden. Geschätzte 52.000 schlafen auf der Straße. Vor zehn Jahren lag diese Zahl noch bei 20.000. Die wesentlichen Gründe für den Anstieg sind laut BAGW zunehmende Armut und Wohnungsnot.

Doch auch Zuwanderung spiele eine Rolle. Vor allem Migranten aus Osteuropa  leben auf der Straße, in Großstädten liegt ihr Anteil laut BAGW inzwischen bei rund 50 Prozent. Das liegt daran, dass sie in vielen Fällen kein Recht auf Sozialleistungen haben. Noch Ende 2015 entschied das Bundessozialgericht, dass arbeitslose Europäerinnen spätestens nach einem Aufenthalt von sechs Monaten in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe haben. Seit Ende 2016 sind die Auflagen strenger. Die damalige Arbeitsministerin und heutige SPD-Chefin Andrea Nahles entschied, dass sie nur noch Hilfe bekommen, wenn sie fünf Jahre hier gelebt oder ein Jahr hier gearbeitet haben.

Gekoppelt an die Sozialleistungen ist auch der Anspruch auf eine längerfristige Unterbringung im Falle der Obdachlosigkeit. Wer sich aufgrund der EU-Freizügigkeit zwar legal hier aufhält, aber keine offizielle Arbeit findet, landet also schnell auf der Straße. Und so werden die informellen Hüttendörfer und Matratzenlager meist von obdachlos gewordenen Osteuropäern bewohnt, besonders häufig von Roma. Amtliche Zahlen gibt es zwar weder bei der BAGW noch bei der Bundesregierung, doch die öffentlich gewordenen Fälle deuten darauf hin.

Jahrhundertelange Unterdrückung

Laut einer Studie der Europäischen Grundrechteagentur sind Roma eine der am stärksten diskriminierten Minderheiten Europas. 80 Prozent der befragten Roma sind armutsgefährdet, jeder dritte lebt in einer Unterkunft ohne Leitungswasser. Vor allem in Osteuropa häufen sich zudem Berichte über gewaltsame Übergriffe. Chancen auf Asyl in Deutschland haben sie dennoch nicht, weil sie aus EU-Ländern oder vom Westbalkan kommen, also aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten.

„Roma erfahren Rassismus und Gewalt“, sagt Joachim Brenner. Er leitet den Förderverein Roma, der in Frankfurt eine Beratungsstelle betreibt und Bildungsangebote zur Verfügung stellt. Die Geschichte des Antiziganismus, des Rassismus gegen Roma, ist lang, und reicht von Vertreibungen im Mittelalter über den nationalsozialistischen Genozid bis in die Gegenwart. „Wir erhalten oft Nachrichten mit üblen Beschimpfungen gegen Roma“, sagt Brenner. Der Förderverein war auch im Gutleut präsent, um die Bewohnerinnen und Bewohner der Bretterverschläge zu unterstützen.

Rund zehn bis zwölf Millionen Roma leben heute in Europa, die meisten im Osten und Südosten des Kontinents. Die Vorfahren der größten ethnischen Minderheit Europas kamen vor Hunderten Jahren aus Indien und Pakistan. Als Reaktion auf die jahrhundertelange Unterdrückung hätten sie einen größeren Zusammenhalt entwickelt und gelernt, sich selbst zu organisieren, sagt Brenner.

Das Frankfurter Camp wurde letztlich wie all die anderen informellen Lager in deutschen Großstädten aufgelöst. Ende Mai rückte die Polizei mit einem Großaufgebot an, nachdem der Eigentümer des Geländes, der Chemiekonzern Ferro, Anzeige erstattet hatte. Brenner kritisiert die Räumungen: „Flucht aus Armut, Pogrome und jegliche historische Verantwortung sind vollständig ausgeblendet.“ Diese Strategie stehe im Widerspruch zum Grundgesetz und zeige, dass die Anwesenheit von besonders armen Menschen „im öffentlichen Raum verhindert werden soll“.

Nach der Räumung hat die Stadt den vertriebenen Roma vorübergehend Plätze in einer Obdachlosenunterkunft angeboten. Pro Nacht nutzten zwischen 16 und 19 Personen diese Schlafplätze, sagt eine Sprecherin des Sozialdezernats. 17 der ehemaligen Hüttenbewohner hätten bei der Stadt einen Antrag auf Prüfung ihrer Sozialleistungsansprüche gestellt. In neun Fällen wurde dieser jedoch bereits abgelehnt, bei acht weiteren werde er noch geprüft.

„Wer keinen Sozialleistungsanspruch hat, wird von uns auch nicht weiter untergebracht“, sagt die Sprecherin. Weil man aber keine Familien auseinanderreißen wolle, dürften die Menschen in der Notunterkunft bleiben, bis alle Fälle geprüft seien. Den Roma sei zudem eine Fahrkarte in ihr Herkunftsland angeboten worden. Zwölf Personen hätten dies angenommen.

„Immer mehr werden verelenden“

Ob sie wirklich gehen, ist allerdings fraglich. Elf der Menschen, die jetzt in der Notunterkunft schlafen, wurden bereits im vergangenen Jahr von einer anderen Frankfurter Brache verwiesen. Und alle, die keinen Antrag auf Prüfung der Sozialleistungen gestellt haben, lebten ohnehin schon wieder auf der Straße, sagt Joachim Brenner vom Förderverein. Er hält den Kontakt zu ihnen. Mit der Presse wolle derzeit keiner sprechen, sagt er. „Sie haben Angst vor neuen Repressionen.“

Seit Langem fordert der Förderverein ein Haus für Roma. Einen Ort, der dauerhaft Zuflucht und Schutz bieten würde. Doch die Stadt lehnt das ab. „Wir sehen es mit Blick auf den Gleichbehandlungsgrundsatz kritisch, für eine Personengruppe besondere Angebote zu schaffen“, sagt die Sprecherin des Sozialdezernats.

Die regierende Frankfurter CDU sagt es deutlicher: Sie nennt ein solches Angebot eine städtisch finanzierte „Unterkunft für Armutsmigranten“. Man wolle keinesfalls zusätzliche Anreize schaffen, nach Frankfurt zu kommen, schrieb die Partei in einer Stellungnahme. Brenner hält dies für einen Vorwand. „Das wurde schon vor 30 Jahren behauptet, als es noch gar keine Freizügigkeit gab.“ Seiner Ansicht nach stecken hinter der Haltung der CDU doch eher Vorurteile und die Weigerung, helfen zu wollen.

Viele Städte fürchten, auch wenn sie das nicht alle so offen zugeben würden wie Frankfurt, einen Zuwanderungssog, falls sie ihre Angebote ausweiteten. Die Folge ist eine Art Unterbietungswettbewerb, in dem EU-Bürgern immer häufiger sogar die Nothilfe verweigert wird. Dabei sei die Notunterbringung Obdachloser, egal woher sie kommen, rechtlich geboten, sagt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAGW. Doch in der Praxis gilt: Wer keine Ansprüche auf Sozialleistungen hat, muss in den wärmeren Monaten draußen schlafen. In Städten wie Frankfurt auch im Winter.

Zudem versuchten einige Städte, die Obdachlosen zurück in ihre Herkunftsländer zu schicken, sagt Rosenke. Das heißt, ihnen soll die Freizügigkeit entzogen werden. In Hamburg etwa gehen die Behörden seit gut einem Jahr gezielt gegen osteuropäische Obdachlose vor. Seither wurden nach offiziellen Angaben 757 Personen zur Vorsprache bei der Ausländerbehörde aufgefordert, vereinzelt kam es zu Abschiebungen. 189 Menschen wurde die Freizügigkeit aberkannt.

Bundesweit gab es davon im Jahr 2017 2.594 Fälle, das sind 25 Prozent mehr als im Jahr 2015. Viele Menschen bleiben trotzdem. „So werden immer mehr versteckt in Armut leben und verelenden“, sagt ein Sprecher der Hamburger Diakonie.

Köln geht einen anderen Weg

Einen anderen Weg versucht die Stadt Köln zu gehen. Dort kam es wiederholt zu Beschwerden über betrunkene Obdachlose. Köln kontrolliert seitdem nicht nur stärker, sondern hat auch das Hilfsangebot ausgeweitet – auch für EU-Bürger ohne Sozialleistungsansprüche. Sie sollen nun ganzjährig in einem Notquartier untergebracht werden. Ziel des neuen Angebotes sei es, „die festgestellte Bedürftigkeit von Zuwanderern aus Bulgarien und Rumänien zu mindern sowie dieser entgegenzuwirken“.

In Frankfurt hingegen dürfte es auch diesmal nicht allzu lange dauern, bis an anderer Stelle das nächste Camp aus Brettern entsteht. Abgedichtet mit alten Matratzen. Ein weiterer Slum auf Zeit, bis die Bagger wieder kommen.

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