20. März 2018 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingspakt im permanenten Stresstest“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Syrien, Türkei

NZZ | 20.03.2018

Zwei Jahre nach Inkrafttreten des EU-Abkommens mit der Türkei hapert es bei der Umsetzung. Die über drei Millionen syrischen Flüchtlinge im Land werden für Erdogan zu einem politischen Problem.

Marco Kauffmann Bossart, Istanbul

Wirklich zufrieden ist niemand mit der Umsetzung des sogenannten EU-Türkei-Statements vom März 2016. Die EU nicht, weil in den vergangenen zwei Jahren deutlich mehr Flüchtlinge die Ägäisinseln erreichten, als von dort in die Türkei zurückgeführt werden konnten. Griechenland fühlt sich von den anderen EU-Staaten im Stich gelassen, weil die Verteilung von Flüchtlingen stockt. Umgekehrt bezichtigt der türkische Staatschef Erdogan die Europäer des Wortbruchs, weil nichts aus der Visa-Liberalisierung für seine Bürger wurde.

Dass der von Beginn weg höchst umstrittene Pakt nicht zerbrochen ist, liegt an den ebenso unbestreitbaren Erfolgen: Der Flüchtlingsstrom aus der Türkei nach Griechenland hat sich verringert, die Zahl der tödlichen Unfälle in der Ägäis ist zurückgegangen. Als Gegenleistung für striktere Grenzkontrollen erhielt Ankara für die Betreuung der inzwischen 3,5 Millionen Syrer zunächst 3 Milliarden Euro. Rechtzeitig zum zweiten Jahrestag des Abkommens gab die Europäische Kommission die zweite Tranche in derselben Höhe frei. Die Vereinbarung war am 18. März 2016 unterzeichnet worden und zwei Tage danach in Kraft getreten.

Gewalt in türkischen Städten

Ungeachtet des Geldflusses aus Europa, der die Grundbedürfnisse der Bürgerkriegsflüchtlinge decken soll, führt deren Präsenz in der Türkei zu wachsenden Spannungen. Im zweiten Halbjahr 2017 haben sich die gewalttätigen Zusammenstösse mit syrischen Flüchtlingen laut einem Bericht der International Crisis Group gegenüber der Vorjahresperiode verdreifacht. Dabei wurden mindestens 35 Personen getötet, unter ihnen 24 Syrer. Gereizt ist die Stimmung in Grenzstädten wie Gaziantep, wo jeder vierte Bewohner aus Syrien stammt, aber auch in den Metropolen Istanbul, Ankara und Izmir. Auf dem Arbeitsmarkt konkurrieren Flüchtlinge mit wenig qualifizierten Einheimischen, wobei Syrer bis zu 50 Prozent niedrigere Löhne akzeptieren und daher als Lohndrücker diffamiert werden. Auch grassieren Klagen über Belästigungen durch Bettler, und die Syrer werden für Engpässe im Sozial- und Gesundheitswesen verantwortlich gemacht.

Die türkische Regierung lobt sich gerne für die Gastfreundschaft, die man den syrischen Brüdern und Schwestern entgegenbringe. Allerdings erhielten sie nur ein temporäres Bleiberecht. Syrer können sich zwar für einen türkischen Pass bewerben. Doch bestehen keine Zweifel, dass der Hauptharst zurückkehren soll. Man könne auf Dauer nicht alle syrischen Flüchtlinge beherbergen, erklärte Erdogan kürzlich. Die türkische Armee rechtfertigt ihren Feldzug in Nordsyrien primär mit «Terrorbekämpfung». Er soll gleichzeitig Voraussetzungen für eine Repatriierung von Flüchtlingen schaffen.

Repatriierung nach Syrien

2016 hatten die türkische Armee und mit ihr verbündete Milizen die IS-Jihadisten aus der Grenzstadt Jarablus vertrieben. Nach offiziellen Angaben traten danach mehr als 100 000 Flüchtlinge die Heimreise an. Ein ähnliches Modell strebt Ankara für die Stadt Afrin an, wo am Sonntag die Freie Syrische Armee, eine Art Hilfstruppe der Türken, die Kontrolle übernahm.

Für Syrer ist es immer schwieriger geworden, die Türkei überhaupt zu erreichen. Eine 911 Kilometer lange Mauer, die sich von der syrischen über die irakische bis zur iranischen Grenze erstreckt, soll primär verhindern, dass Extremisten der Arbeiterpartei Kurdistans einsickern. Doch stellen die Betonplatten auch einen Wall gegen Flüchtlinge dar. Die Vorstellung, dass nach dem Ende des syrischen Bürgerkrieges die meisten Flüchtlinge die Türkei verlassen, halten Migrationsexperten für illusorisch. Hunderttausende leben zum Teil seit mehr als fünf Jahren im Land – einige habe sich eine Existenz aufgebaut und sehen keine Zukunft in ihrer zerstörten Heimat. Gleichwohl rückt die Regierung nicht von ihrem Mantra «Syrer sind Gäste auf Zeit» ab. Es fehlt an einer kohärenten Flüchtlingspolitik im Allgemeinen und an einer Integrationspolitik im Speziellen. Die Crisis Group appelliert an die Regierung, offensiver zu kommunizieren. Die Unsicherheit in der Bevölkerung, was mit den Syrern passieren werde, verschärfe die Spannungen.

Mängel auf allen Seiten

Nach Ausbruch des Syrien-Kriegs hatte sich die Türkei zu Recht über die fehlende Unterstützung des Westens beklagt. Erst der Marsch einer Million Menschen nach Westeuropa leitete ein Umdenken ein, aus dem schliesslich das hastig erarbeitete Flüchtlingsabkommen hervorging. Die Mängel des Pakts bringen der Türkei auch Vorteile. So musste man weit weniger Menschen aus griechischen Auffanglagern zurücknehmen als angenommen. Zwei Faktoren sind dafür verantwortlich: Erstens kommen die Asylverfahren in Griechenland wegen ungenügender Ressourcen nur schleppend voran. Zweitens zwingt der schleichende Tod des türkischen Rechtsstaats zu Zurückhaltung bei Abschiebungen. Schon vor zwei Jahren, also noch vor dem gescheiterten Militärputsch, war die Einstufung der Türkei als sicherer Drittstaat fragwürdig. Seither haben der Ausnahmezustand und die damit einhergehende Repressionswelle die Lage deutlich verschlimmert.

Die Aushebelung von Grundrechten, die Justizwillkür und das autokratische Gebaren Erdogans leiteten eine Eiszeit im Verhältnis mit der EU ein. Dass türkische Bürger, wie im Flüchtlingspakt zugesagt, auf absehbare Zeit visafrei in den Schengenraum reisen, mutet ebenso realitätsfern an wie eine Beschleunigung der EU-Beitritts-Gespräche. Es wird abermals Drohungen aus Ankara geben, den Pakt einseitig aufzulösen und eine neue Flüchtlingskolonne in Gang zu setzen. Doch hat sich das Abkommen bis heute als weitaus robuster erwiesen, als man befürchten musste.

 

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