11. Dezember 2017 · Kommentare deaktiviert für „Marokko bietet Migranten einen legalen Status – aber die meisten wollen weiterhin nach Europa“ · Kategorien: Europa, Marokko, Spanien · Tags:

NZZ | 11.12.2017

Nach der weitgehenden Schliessung der Libyen-Route haben die Ausreisen via Marokko nach Spanien stark zugenommen. Trotz der Möglichkeit, ihren Aufenthalt in Marokko zu legalisieren, wollen vor allem junge Migranten nicht im Land bleiben.

Beat Stauffer, Fes

Nur wenige hundert Meter vom Bahnhof Fes entfernt befindet sich ein improvisiertes Camp von Migranten. Versteckt hinter einer Mauer liegen rund 100 primitive Hütten, gebastelt aus Ästen, Wellblech, Holzverschalungen. Die Dächer bestehen aus Plasticblachen und löcherigen Decken, die mit alten Pneus beschwert sind. Eine etwas grössere Hütte nennt sich erstaunlicherweise «Restaurant Saoudien». Der Eingang ist mit einer grossen Foto der marokkanischen Königsfamilie geschmückt. Drinnen sind eine improvisierte Kochstelle mit offenem Feuer sowie einfache Tische und Holzbänke zu erkennen. Hier kocht eine Frau aus Côte d’Ivoire täglich für über hundert Landsleute.

Misstrauische junge Männer

Es braucht Zeit, um mit den jungen Migranten ins Gespräch zu kommen. Das Misstrauen ist gross. Ihre Namen wollen sie nicht nennen, Tonaufnahmen und Fotos einzelner Migranten sind unerwünscht. Die jungen Männer – die meisten zwischen 18 und etwa 25 Jahre alt – sind bei Polizeirazzien in der Umgebung der spanischen Enklaven Ceuta und Melilla festgenommen und per Lastwagen nach Fes verfrachtet worden. Einer berichtet, er habe schon fünfmal vergeblich versucht, die Grenzzäune zu überwinden, und sich dabei auch eine Augenverletzung zugezogen. Am schlimmsten seien die marokkanischen Hilfspolizisten, die Moghaznis, die regelmässig mit Knüppel auf die Migranten einschlügen, sagt er. Andere nicken, mögen aber nicht reden.

Im Sommer muss es hier unerträglich heiss sein, im Winter ist es sehr kalt. Die Migranten – es soll sich um rund 850 Personen handeln – schlafen auf synthetischen Matten direkt auf dem Boden. Duschen und Toiletten fehlen, Wasser muss von ausserhalb des Camps besorgt werden. Die hygienischen Bedingungen sind entsprechend prekär. Von den marokkanischen Behörden dürfen sie abgesehen von gelegentlichen Lebensmittellieferungen nichts erwarten. Europäische Hilfswerke sind nicht präsent. Ein paar wenige Bewohner leben angeblich schon drei Jahre in diesem Camp. Und dennoch wollen die meisten der jungen Migranten nicht in Marokko bleiben. Es sei für sie sehr schwierig, Aufenthaltspapiere zu bekommen, sagen sie. Und vor allem wollten sie weiter nach Europa, dem Ziel ihrer Reise.

Marokkos einzigartiges Angebot

Dabei würde ihnen die marokkanische Migrationspolitik durchaus auch eine andere Option bieten. Ende 2013 hat König Mohamed VI. eine neue, menschlichere Politik gegenüber Migranten und Asylbewerbern aus dem subsaharischen Afrika verkündet. Migranten, die nachweislich schon mehrere Jahre in Marokko leben, sich nichts zuschulden haben kommen lassen und über eine Arbeit verfügen, konnten ab 2014 eine verlängerbare Aufenthaltsgenehmigung für drei Jahre beantragen. Damit haben sie im Prinzip auch Zugang zu Schulen, Spitälern und anderen staatlichen Angeboten. Bis anhin haben rund 23 000 Personen ihren Status legalisieren lassen. Eine zweite Phase der Legalisierung wurde vor kurzem in die Wege geleitet. Laut dem Nationalen Menschenrechtsrat sind erneut 25 690 Anträge für den Erhalt von Aufenthaltspapieren eingereicht worden. Die zuständige Kommission soll zudem auch Anträge, die in erster Instanz abgelehnt worden sind, nochmals prüfen.

Die Lebensbedingungen bleiben allerdings auch für diese Migranten in Marokko sehr hart. Die meisten arbeiteten, wenn überhaupt, in schlecht bezahlten Berufen, zum Teil als Tagelöhner, erklären Hicham Rachidi von der Flüchtlingshilfsorganisation Gadem und der Migrationsspezialist Mehdi Lahlou übereinstimmend. Einzig für Informatiker und eine Handvoll anderer Spezialisten gebe es reale Aufstiegschancen. Dennoch scheint dieses Angebot für eine bestimmte Kategorie von Migranten attraktiv zu sein. Etwa für all jene, die jahrelang vergeblich eine Ausreise versucht haben und zermürbt sind, für Migranten, die eine Marokkanerin heiraten möchten, oder auch für Familien mit Kindern.

Das marokkanische Angebot, das im Maghreb einzigartig ist, scheint aber junge Menschen nur wenig anzusprechen. Sie haben sich in den Kopf gesetzt, nach Europa zu emigrieren, und sind bereit, dafür enorme Strapazen auf sich zu nehmen. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass Migranten aus dem subsaharischen Afrika im marokkanischen Alltag oft Ablehnung oder gar offenen Rassismus erleben müssen. Vor allem in den armen Vorstadtquartieren von Tanger und Casablanca kommt es regelmässig zu Übergriffen gegen junge Migranten. Diesen wird unter anderem vorgeworfen, sie würden leer stehende Wohnungen und Häuser besetzen.

Mit dem Jetski nach Europa

So bleibt der Migrationsdruck in Marokko weiterhin hoch, und die Anzahl der klandestinen Ausreisen hat in den vergangenen Wochen deutlich zugenommen. Während Migrationsspezialist Lahlou von rund 14 000 Ausreisen in diesem Jahr spricht, geht das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge von 21 300 Personen aus, die dieses Jahr in Spanien angekommen sind. Darunter sind allerdings auch Migranten eingerechnet, die von Algerien aus nach Spanien gelangt sind. Im Vergleich zum Vorjahr entspricht dies etwa einer Verdreifachung. Im dritten Quartal wurde gar eine Verdoppelung verzeichnet.

Die Gründe für diese Zunahme erkennt Lahlou, ein Wirtschaftsprofessor an der Universität Rabat, in erster Linie in der faktischen Schliessung der Libyen-Route und den Berichten über Misshandlungen von Migranten in Libyen. Marokkaner und Algerier versuchten nun wieder, via die Meerenge von Gibraltar nach Europa zu emigrieren. Zum Teil überquerten sie die Meerenge von Gibraltar auch mit neuen Methoden, etwa mit Jetski. Die Ausreisewilligen legten dabei von der gesamten Mittelmeerküste gegenüber von Südspanien und auch von der nördlichen Atlantikküste ab.

Eine gewisse Rolle spielten wohl auch die Aufstände in der Rif-Region, die im Frühjahr und Sommer die Sicherheitskräfte während Monaten stark absorbiert hatten. Dies habe zu einer nachlässigen Kontrolle der Küste geführt, bestätigte im September auch eine Vertreterin der spanischen Flüchtlingskommission gegenüber der Zeitung «El País». Er könne sich zudem auch vorstellen, sagt Lahlou im Gespräch, dass junge Männer aus dem Norden Marokkos nach den Erfahrungen in den vergangenen Monaten desillusioniert seien und ihre Zukunft nun in Europa suchten.

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