Telepolis | 30.10.2017
In der Auseinandersetzung mit Flucht und Migration setzen die europäischen Staaten auf ihre alten Strategien. Sie bauen Abschottungsmaßnahmen aus und machen Afrika zur Beute von Finanzinvestoren
Gabriela Simon
Zwei Jahre nach der großen Flüchtlingsbewegung Richtung Europa schlägt das Thema Flucht und Migration immer noch hohe politische Wellen, in Deutschland und Europa, in Berlin und in den Bundesländern, bei den Rechten und bei den Linken. Dabei hat die europäische Abschottungspolitik mit Hilfe der Türkei und nordafrikanischer Staaten die Zahl der ankommenden Flüchtlinge bereits stark reduziert. 2016 wurden noch 280.000 Menschen als Asylsuchende in Deutschland registriert, von Januar bis September 2017 nur noch 140.000, womit die Seehofersche Obergrenze in diesem Jahr wohl noch nicht einmal erreicht wird.
Die meisten derer, die 2015 in Deutschland ankamen, sind mittlerweile leidlich gut untergebracht und gehen ihre Wege in Ausbildung, in Jobs oder wirtschaftliche Selbständigkeit. Man könnte sich eigentlich entspannen und die verbliebenen Probleme der Flüchtlings- und Zuwanderungspolitik pragmatisch dem politischen Tagesgeschäft überlassen.
Aber offenbar gibt es hier etwas, das uns nicht zur Ruhe kommen lässt. Eine Verunsicherung, die auch daran zu erkennen ist, dass oft nur in Andeutungen über das Thema und die politischen Absichten gesprochen wird. „Eine Situation wie im Jahre 2015 soll und darf sich nicht wiederholen“, lautet eine Beschwörungsformel Angela Merkels, die zum Standardsatz von CDU-Politikern avancierte, etwa in der Variante von Thomas de Maizière: „Das Jahr 2015 darf, soll und wird sich nicht wiederholen.“
Was genau darf und soll sich nicht wiederholen? „Eine Situation“? „Das Jahr 2015“? Dass wir Menschen in einer großen Notlage helfen, auch dann, wenn es viele sind?
Der Satz soll beruhigen, ist aber im Grunde eine irritierende Ansage. Bisher galt das Verdikt des „Nie wieder“ meist monströs schrecklichen Geschehnissen der Vergangenheit – dem Krieg, Auschwitz, dem Faschismus. Nun trifft es eine kurze, aber einzigartige Zeitspanne, in der sich die Deutschen – zumindest in ihrer großen Mehrheit – von ihrer besten Seite zeigten, in der Menschlichkeit, Freundschaft und Hilfsbereitschaft gegenüber Fremden in den Vordergrund des öffentlichen Lebens traten.
Dieses skandalöse Jahr 2015 war, soviel steht fest, ein Jahr des Hinsehens, der Bilder von endlosen Prozessionszügen, in denen sich Tausende, Zehntausende unter großen Strapazen durch halb Europa schleppten. Durch ihr sichtbar gemachtes Leid, ihren Mut und ihr Selbstbewusstsein, dadurch, dass sie aus der Rolle von Opfern und Bittstellern heraustraten, konnten sie die Deutschen in ihrem reichen Land emotional wachrütteln.
2015 war ein kurzer Sommer der Empathie, in dem vieles von dem, was diese Welt zu zerreißen droht, sich gut lesbar vor aller Augen ausbreitete. Die desaströsen Folgen von imperialen Strategien, mit denen der Westen seine Interessen in Afghanistan, Irak oder Syrien durchzusetzen versucht. Das Leid, das unser Lebensstil, die rücksichtslosen Praktiken global agierender Konzerne und unfaire Handelsbeziehungen in anderen Teilen der Welt verursachen. Sind es diese Erkenntnisse, die Angst machen?
Das „Nie wieder 2015“ steht für die Rückkehr zu einer „Normalität“, in der die Wahrnehmung „unserer“ Interessen, oder dessen, was wir dafür halten, wieder unangefochten im Vordergrund steht. Der Focus verschiebt sich von den Problemen der Flüchtenden zu den Flüchtlingen als Problem. Und so kreisen die politischen Debatten nun um unsere Sicherheit, unsere Kontrolle, unseren Grenzschutz, unsere Abschiebungsregeln, um unsere Auswahlkriterien für Einwanderer in unseren Arbeitsmarkt.
Wer in dieser Welt wessen Last trägt, ist eine gute Frage
Aber die Normalität will sich nicht so recht wieder einstellen. Die Verunsicherung bleibt. Und offenbar ist es auch nicht wirklich hilfreich, sich hinter schlichten Wahrheiten zu verschanzen, hinter Sätzen wie „Wir können nicht alle Armen dieser Welt aufnehmen“ oder „Wir können nicht alle Last dieser Welt tragen“ (Wolfgang Schäuble).
Wer in dieser Welt wessen Last trägt, ist eigentlich eine gute Frage. Man könnte diese Frage einmal den Bergleuten im Kongo stellen, die unter gefährlichsten Bedingungen das Kobalt für die Lithium-Ionen-Batterien aus der Erde schlagen, die all unsere schicken Smartphones, Laptops und die „sauberen“ Elektroautos am Laufen halten, während ihre Familien nicht genügend zu essen haben, in einer vergifteten Umwelt leben müssen, unter Atemwegserkrankungen leiden, und unter einer hohen Zahl seltener Geburtsfehler.
Man könnte die Frage afrikanischen Dorfbewohnern stellen, die von ihrem Land vertrieben wurden, damit Finanzinvestoren ihr überschüssiges Kapital profitabel in die Produktion von Rosen oder Soja für die europäischen Märkte anlegen können. Oder den Bauern und Viehhirten in Nigeria, deren Landkonflikte infolge des Klimawandels seit Jahren eskalieren, von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet.
Man könnte die indigenen Gemeinschaften in Kolumbien fragen, die dem Kohlebergbau weichen mussten, damit in Deutschland die Energiewende und der Ausstieg aus der Kohleproduktion abgefedert werden können. Oder die Bananenarbeiter in Ecuador, deren Produkte in deutschen Discountmärkten so supergünstig zu haben sind, während sie selbst durch den Kontakt mit gesundheitsschädlichen Pestiziden krank werden und von ihrem kärglichen Lohn kaum überleben können.
Große Lager in Nordafrika für Asylbewerber zur Abschottung der EU
Die Aufzählung ließe sich noch lange fortsetzen. Man könnte auch fragen, ob es wirklich eine gerechte Lastenverteilung ist, wenn nun das reiche Europa die Beherbergung der Flüchtlinge, die in Europa Asyl beantragen wollen, auf einige der ärmsten Länder der Welt abwälzen will. Genau das wurde auf dem Pariser Flüchtlingsgipfel der EU im August dieses Jahres beschlossen.
Die Flüchtlinge aus Schwarzafrika, die nach Europa wollen, sollen in einem von europäischen Staaten hochgerüsteten, möglichst lückenlosen Netz der Kontrolle in Afrika festgehalten werden. Sie sollen in Niger, Tschad und Libyen in großen Lagern konzentriert werden, wo sie möglicherweise irgendwann einen Asylantrag in der EU stellen können, was jedoch bis jetzt ein ziemlich leeres Versprechen ist.
Niger ist eines der ärmsten Länder dieses Planeten. Die Rate der Kindersterblichkeit ist eine der höchsten weltweit. Ebenso die Zahl der Mangel- und Unterernährten. Es gibt keine funktionierende Gesundheitsversorgung, aber bewaffnete Konflikte mit Gruppen wie Boko Haram und infolge dessen zahlreiche Binnenvertriebene. Zusammen mit Geflüchteten aus Mali und anderen afrikanischen Ländern leben heute bereits mehr als 300.000 Menschen in Lagern unter erbärmlichen Bedingungen.
Auch der Tschad ist eines der ärmsten Länder der Welt. 3,8 Millionen Menschen können sich nicht ausreichend ernähren. Bereits jetzt leben im Tschad mehr als 389.000 Geflüchtete aus Nigeria, dem Sudan und der Zentralafrikanischen Republik in überfüllten Lagern. In einem Teil des Landes tötet und plündert Boko Haram und macht die dortige Bevölkerung zu Flüchtlingen im eigenen Land.
Selbst wenn die neuen Lager und die Versorgung der Flüchtenden von der EU komplett finanziert würden, bedeuten die Pläne eine zusätzliche Belastung. Flüchtlinge treten auf dem Markt für Gelegenheitsjobs und Straßenhändler als Konkurrenten der einheimischen Bevölkerung auf. Oft meiden sie auch die überfüllten Lager, bauen wilde Camps und nehmen dabei Land und andere Ressourcen in Beschlag. Gerade den verletzlichsten Gruppen der einheimischen Bevölkerung bringt das noch mehr wirtschaftlichen Stress und Konfliktpotential.
Damit sie bei der Abschottung kooperieren, statten europäische Regierungen undemokratische Regimes und kriminelle, in den Menschenhandel verstrickte libysche Milizen mit finanziellen Mitteln aus. Selbst mit dem Sudan soll eine Migrationspartnerschaft eingegangen werden, einer Diktatur, deren Staatschef al-Bashir wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit per internationalem Haftbefehl gesucht wird.
So verstärkt die Abschottungspolitik der EU die Probleme, die Menschen in die Flucht treiben. Sie trägt ihrerseits zur Krise der sozialen und politischen Menschenrechte bei, eine der zentralen Ursachen der Fluchtbewegungen.
Mit Finanzinvestoren gegen Fluchtursache
Nun sind sich im Grunde alle darin einig, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen von entscheidender Bedeutung für die Überwindung der „Flüchtlingskrise“ ist. Seltsam nur, dass über die Frage, wie das geht, am wenigsten gestritten wird. Angela Merkel glaubt offensichtlich, ihre „Hausaufgaben gemacht“ zu haben, seit der „Compact with Africa“ beschlossene Sache ist.
Dieses Konzept zur Bekämpfung der Fluchtursachen in Afrika wurde unter der Federführung deutscher Ministerien entwickelt. Zu Beginn dieses Jahres hatte das Entwicklungshilfeministerium BMZ einen „Marshallplan mit Afrika“ vorgelegt, dessen offizielles Ziel es ist, Armut als Ursache von Migration zu bekämpfen. Er hieß eigentlich „Marshallplan für Afrika“, wurde dann aber rasch umbenannt, damit der paternalistische Ansatz nicht gleich im Namen erkennbar ist.
Tatsächlich hatten weder afrikanische Regierungen, noch Vertreter der Zivilgesellschaften hier irgendetwas mitzubestimmen. Das Ministerium verfolgt mit dem Marshallplan seine eigene Programmatik. Er beinhaltet einen Paradigmenwechsel, auf den im BMZ schon seit Jahren hingearbeitet wird. Zum einen soll die Entwicklungshilfe in den Dienst der Fluchtursachenbekämpfung gestellt werden. Zum anderen sollen sich staatliche Entwicklungsgelder stärker als bisher auf die Förderung privater Investitionen orientieren. Und um private Investoren anzulocken, sollen afrikanische Regierungen dazu gebracht werden, geeignete Rahmenbedingungen schaffen.
Das Bundesfinanzministerium unter Wolfgang Schäuble war von diesem Paradigmenwechsel so begeistert, dass es auf der Grundlage des Marshallplans aus dem BMZ ein Konzept erarbeitete, das dann als gemeinsames Papier von IWF, Weltbank und Afrikanischer Entwicklungsbank vorgelegt und im Juni dieses Jahres auf dem Hamburger G20-Gipfel als „Compact with Africa“ (CWA) beschlossen wurde.
„Reform gegen Investitionen“ ist seitdem das offizielle Motto für die Bekämpfung der Fluchtursachen in Afrika. Mit „Reform“ ist gemeint, dass afrikanische Staaten bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen schaffen sollen, indem sie „Strukturanpassungsprogramme“ durchführen, ihre Staatsausgaben kürzen und die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen vorantreiben. Den Investoren soll so eine Rendite von 4 bis 4,5 Prozent garantiert werden.
Bei den Investoren ist vor allem an Finanzmarktakteure wie institutionelle Vermögensverwalter, Versicherungen und Pensionskassen gedacht. Sie haben in Zeiten der Niedrigzinspolitik große Probleme, eine ordentliche Rendite zu erzielen. Da trifft es sich gut, dass man Afrika dabei „helfen“ kann, diese Rendite für die globalen Finanzakteure zu erwirtschaften.
Armutsbekämpfung als Geschäft
Generell scheint es sich immer mehr einzubürgern, dass Finanzunternehmen eine garantierte Rendite erwarten. Wenn sie nicht gerade mit Milliardensummen von den Steuerzahlern gerettet werden oder den Bürgern über Cum-Cum- und Cum-Ex-Geschäfte auf verschlungenen Wegen in die Taschen greifen, dann soll die Allgemeinheit wenigstens ihre Renditen garantieren.
Jüngstes Beispiel sind die Klagen der Banken Unicredit, Commerzbank, Caja Madrid und DZ-Bank gegen die Bundesrepublik Deutschland auf Zahlung von 787 Millionen Euro. Der Grund: Diese Banken sind im Rahmen einer Öffentlich-Privaten-Partnerschaft als Finanzinvestoren an der Autobahn A1 Bremen-Hamburg beteiligt und haben dabei seit Jahren weniger Gewinne gemacht als erwartet. Auch die modernen Freihandelsabkommen wie TTIP oder Ceta sehen Regelungen zum Investorenschutz vor, die es Unternehmen erlauben sollen, gegen einen Staat zu klagen, wenn ihre „legitimen Gewinnerwartungen“ aufgrund politischer Maßnahmen nicht erfüllt werden.
Durch die Orientierung auf private Investoren ist dieses Prinzip nun auch in der Entwicklungshilfe angekommen. Für das Konzept des CWA steht ein Projekt Pate, das 2011 vom BMZ gestartet wurde: Der „Africa Agricultural Trade Investment Fonds“ (AATIF). Offiziell dient auch dieses Projekt dem Ziel, Armut durch Investitionen zu verringern.
Es lohnt sich also, einen genaueren Blick auf seine Konstruktion und die Resultate zu werfen. Auch im AATIF spielen Finanzinvestoren die zentrale Rolle. Der Fonds ist so konstruiert, dass eventuelle Verluste als erstes bei den vom BMZ eingebrachten öffentlichen Mitteln anfallen. Die Finanzinvestoren partizipieren an den Gewinnen. Seinen Sitz hat der Fonds im Finanzparadies Luxemburg, weil er als strukturierter Fonds mit unterschiedlichen Risikoklassen in Deutschland gar nicht erlaubt wäre.
Wie die Menschenrechtsorganisation FIAN recherchierte, wurden bis jetzt 79 Prozent der Fonds-Gelder an Firmen vergeben, die von Finanzparadiesen aus agieren. „Entwicklungshilfe von Finanzparadies zu Finanzparadies“ kommentieren die Autoren der FIAN-Studie lakonisch.
Was treibt dieser Fonds nun in Afrika? Die erste Mittelvergabe ging an den Finanzinvestor Agrivision Africa mit Sitz im Finanzparadies Mauritius. Agrivision kaufte mit dem Geld in Sambia 18.000 Hektar Land, um Soja, Weizen und Mais im industriellen Stil für den Export anzubauen. Für dieses Projekt wurden – nach Recherchen von FIAN – Kleinbauern der lokalen Gemeinden von ihrem Land vertrieben. Häuser und Produktionsanlagen wurden entschädigungslos zerstört. Betroffene verloren ihre Existenzgrundlage. Als Arbeitskräfte werden sie bei Agrivision nicht gebraucht.
Den Machern des „Compact with Africa“ schweben nun vor allem große Infrastrukturprojekte in wirtschaftlich schon relativ entwickelten afrikanischen Ländern vor, weil die für die avisierten Investoren die beste Rendite versprechen. Großstaudämme beispielsweise, und eine Autobahn zwischen den Metropolen Nairobi und Mombasa. Für die Autobahn gibt es nun bereits konkrete Pläne. Sie offenbaren, welche Interessen der Westen bei der Fluchtursachenbekämpfung in Afrika tatsächlich verfolgt. Erstmals seit langem kommt hier mit dem US-Bauunternehmen Bechtel wieder ein westlicher Konzern bei einem Großprojekt in Afrika zum Zuge, nachdem lange Zeit chinesische Firmen diesen Markt abgeräumt haben.
Der Westen verabschiedet sich von den Menschenrechten
Auch dort, wo es vordergründig um die Bekämpfung von Fluchtursachen geht, stehen eigene wirtschaftliche Interessen im Vordergrund – die Suche nach renditeträchtigen Projekten für Finanzinvestoren und das Interesse, China als globalen Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen.
Mit dem CWA wurde zudem ein neues Instrument geschaffen, um einen „Reformdruck“ im Sinne neoliberaler Strukturreformen auszuüben und Afrika noch stärker als bisher zur Beute von Finanzinvestoren zu machen. Am Ende bleiben hochverschuldete afrikanische Staaten zurück, die sich erneut zu Sparprogrammen gezwungen sehen, und Großstaudämme, für deren Bau wieder viele Menschen aus ihren Lebensräumen vertrieben wurden.
Die Orientierung auf finanzstarke Investoren folgt einem Entwicklungsmodell, das westlichen Konzernen möglicherweise Gewinne bringt, das in Afrika aber längst gescheitert und zu einer Quelle von Verelendungsprozessen geworden ist.
Ein Ergebnis dieses Entwicklungsmodells ist beispielsweise der massive Ansturm von internationalen Investoren auf Ackerland, der in Afrika bereits Millionen Kleinbauern um ihre Existenzgrundlagen gebracht hat. Meist haben die Kleinbauern keine verbrieften Eigentumsrechte für das Land, das sie seit Generationen bewirtschaften, und können sich gegen den grassierenden Landraub nicht wehren. Sie sind aber diejenigen, die die Nahrungsmittel für den einheimischen Bedarf produzieren.
Seit dem Jahr 2000 waren in Afrika 38 Millionen Hektar Land von solchen Agrardeals betroffen. Allein in Äthiopien wurden über eine Million Kleinbauern durch Landgrabbing-Projekte von ihrem Land vertrieben. In seinem Dokumentarfilm „Das grüne Gold“ hat der schwedische Filmemacher Joakim Demmer sehr eindrucksvoll das Schicksal von äthiopischen Kleinbauern nachgezeichnet, die ihr Land zugunsten eines saudi-arabischen Investors verlassen mussten.
Aus dem „guten Leben‘“, das sie als Bauern nach eigener Einschätzung hatten, landeten sie im Elend, abhängig von Lebensmittelspenden, und in Flüchtlingslagern im Südsudan. Im Lauf der sechs Jahre, in denen Demmer für den Film recherchierte, entwickelte sich daraus ein bewaffneter Konflikt, der eine ganze Region betrifft.
Es ist diese Art von „Entwicklung“, die in Afrika über alle Wachstums- und Modernisierungsschübe hinweg immer wieder extreme Armut reproduziert. Weltweit ist extreme Armut in den vergangenen Jahren spürbar zurückgegangen, vor allem durch die rasante Entwicklung in China. Im subsaharischen Afrika war das nicht der Fall, obwohl es in den 2000er Jahren auch hier ein hohes Wirtschaftswachstum gegeben hat, das deutlich über dem Bevölkerungswachstum lag.
Extreme Armut ist nicht nur für die Betroffenen selbst eine Katastrophe. Sie behindert auch die Entwicklung eines Binnenmarktes und sozialer Strukturen, die es den verschiedenen sozialen Gruppen ermöglichen, ihre Interessen wirksam zu vertreten und die Regierungspolitik zu kontrollieren. Damit fehlt die Basis für eine stabile und selbsttragende ökonomische Entwicklung, die auch den jungen Mittelschichten in den Städten neue Perspektiven bringen könnte. Sie sind diejenigen, die als erstes nach Europa aufbrechen, wenn die wirtschaftliche Entwicklung ins Stocken gerät.
Oft wird der Eindruck erweckt, es sei eine äußerst schwierige und sehr langfristige Aufgabe, Fluchtursachen in Afrika zu bekämpfen. Das stimmt nicht. Für die europäischen Staaten wäre es zum Beispiel ein Leichtes, ihren Einfluss zu nutzen, um in Afrika „günstige Rahmenbedingungen“ zu schaffen, nicht für Investoren, sondern für soziale Reformen, zum Beispiel für Agrarreformen und ländliche Entwicklung. Sie könnten darauf hinwirken, dass mehr Geld in die Strukturen der Gesundheitsversorgung und der Bildung fließt.
Ergänzend zu solchen sozialen Reformen gibt es ein sehr einfaches und schnell wirksames Mittel gegen extreme Armut: Geld. Durch direkte Geldzuflüsse an die Betroffenen lässt sich extreme Armut effektiv und in kurzer Zeit beseitigen. Das haben verschiedene Pilotprojekte mit einem Basiseinkommen in sehr bescheidener Höhe durchweg bestätigt, zum Beispiel im namibischen Dorf Otjivero und in einer Reihe besonders von extremer Armut betroffener Dörfer Zentralindiens.
Innerhalb kurzer Zeit verbesserten sich Ernährungssituation, Gesundheit und Schulbildung grundlegend. Viele, die sich vorher als Tagelöhner verdingen mussten, gründeten eigene, erfolgreiche Geschäfte. Die lokale, an den Lebensbedürfnissen orientierte Wirtschaft blühte auf.
EU und USA boykottieren im UN-Menschenrechtsrat verhandeltes Abkommen
Ein entscheidender Punkt bei der Bekämpfung von Fluchtursachen ist aber, die Menschen im globalen Süden in die Lage zu versetzen, ihre Menschenrechte gegenüber kruden Wachstumsstrategien und der Profitorientierung internationaler Konzerne zu verteidigen. Das Asylrecht wird zurzeit ja deshalb so sehr strapaziert, weil die Flüchtenden keine andere Möglichkeit sehen, ihr Recht auf Leben, auf ein menschenwürdiges Existenzminimum, auf Gesundheitsversorgung und Zugang zu Bildung zu schützen. Das zu ändern, ist in Zeiten einer globalisierten Welt eine internationale Aufgabe.
Ein erster Schritt in diese Richtung wird zurzeit im UN-Menschenrechtsrat diskutiert. Global agierende Unternehmen, so der Plan, sollen verbindlich zur Einhaltung der Menschenrechte in ihrem Handeln verpflichtet werden („Binding UN-Treaty“). Die Initiative dazu ging nicht von den europäischen Regierungen aus, sondern von den Vertretern Ecuadors und Südafrikas. Betroffene, deren Menschenrechte verletzt wurden, etwa die Textilarbeiterinnen in Bangladesch oder die Opfer der Giftschlammkatastrophe in Brasilien, sollen die rechtlichen Möglichkeiten und die praktischen Instrumente in die Hand bekommen, um die verantwortlichen multinationalen Konzerne direkt verklagen zu können. Außerdem soll durch das Abkommen sichergestellt werden, dass die UN-Menschenrechtspakte Vorrang vor Freihandels- und Investitionsschutzabkommen haben.
Der Vorschlag wurde im UN-Menschenrechtsrat mit den Stimmen der Mehrheit der dort vertretenen Entwicklungsländer sowie Chinas und Russlands angenommen. Die Vertreter der westlichen Staaten, unter ihnen Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und die USA, stimmten durch die Bank gegen das Projekt und versuchen bis heute, es zu boykottieren.
Der Westen scheint sich von den Menschenrechten zu verabschieden. Wenn es um internationale Reformen geht, die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Menschenrechte stärken und die Ellbogenfreiheit der internationalen Konzerne einschränken könnten, überlässt er es ausgerechnet Staaten wie China und Russland, an der Seite des globalen Südens die internationale Menschenrechtspolitik voranzubringen.
Die EU hat zurzeit andere Prioritäten. Sie will vor allem ihre Vorstellungen von Freihandels- und Investitionsschutzabkommen weltweit durchsetzen. Dabei sollen die Konzerne mehr Rechte bekommen und ihre „legitimen Gewinnerwartungen“ mit Hilfe von Schiedsgerichten und Schadensersatzforderungen gegenüber der Politik absichern können. Die UN-Menschenrechtspakte, die solche Durchsetzungsmechanismen bis jetzt nicht haben, werden dadurch weiter geschwächt.
So trägt Europa in der internationalen Wirtschaftspolitik ebenso wie in der Flüchtlingspolitik zur Verschlechterung der Menschenrechtssituation und damit zur Verstärkung von Fluchtursachen bei, auch dort, wo es vorgeblich darum geht, diese zu bekämpfen. Hier offenbart sich ein Zynismus des Untergangs, eine Politik, die längst nicht mehr ernsthaft nach Lösungen für die großen globalen Probleme sucht, sondern darauf setzt, die eigene Machtposition zu verteidigen und möglichst lange möglichst viel für die eigenen Interessen herauszuholen. Solange sich das nicht ändert, haben wir allen Grund, uns vor dem, was auf uns zukommt, zu fürchten.