21. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für Draußen bleiben! – Libyens Sperrung der “Such- und Rettungszone” für NGO-Rettungsschiffe als Verstoß gegen das Völkerrecht · Kategorien: Europa, Libyen, Mittelmeer · Tags: , ,

Netzwerk Flüchtlingsforschung | 29.09.2017

Libyen nutzt die Errichtung einer Such- und Rettungszone (SRZ) vor der Küste als Vorwand, um unter dem Deckmantel der Erfüllung internationaler Verpflichtungen private Seenotrettung zu verbannen. Dieses Vorgehen wird von der Europäischen Union nicht nur toleriert, sondern explizit gefördert und erleichtert. Die Errichtung der SRZ vor der Küste Libyens ist hierbei lediglich der Beginn einer sich abzeichnenden Entwicklung hin zu noch intensiverer Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und nordafrikanischen Staaten.

Lena Riemer

Verstärkte Kooperationen mit Herkunfts- und Transitländern sowie die Verlagerung von Grenzkontrollen außerhalb des Staatsgebietes – die sogenannte Externalisierung – ist zu einem wesentlichen Bestandteil europäischer Grenzpolitik und Praxis geworden. WissenschaftlerInnen wie Thomas Gammeltoft-Hansen untersuchen diesen Externalisierungstrend bereits seit Jahren und warnen, dass diese Entwicklungen sowie die Beteiligung privater Akteure als „Teil eines Globalisierungsprozesses gesehen werden können, bei dem die Migrationskontrolle gleichzeitig territorial und personell ausgelagert (offshored and outsourced) wird“ (Gammeltoft-Hansen, S. 2).

Für lange Zeit stellten die Gewässer vor der libyschen Küste mangels eines funktionierenden Such- und Rettungsdienstes eine gefährliche Schutzlücke für Bootsflüchtlinge dar. Seit Anfang 2016 wurde diese Lücke durch Einsätze der italienischen Küstenwache sowie privater NGOs ausgefüllt. Vor kurzem hat nun Libyen eine Such- und Rettungszone (SRZ) vor ihrer Küste errichtet, welche sich über 74 Seemeilen in das Meeresinnere hinein erstreckt.

Die Errichtung der Rettungszone ist jedoch aus Sicht Geflüchteter nicht als positive Entwicklung zu werten, sondern als Missbrauch des Rettungsregimes unter dem Deckmantel der Erfüllung internationaler Verpflichtungen. Berichte zur Lage der Menschenrechte in Libyen beweisen, dass Libyen alles andere als ein sicherer Ort für Gerettete ist.

Diese Entwicklungen werden von der Europäischen Union (EU) geduldet und gefördert, da die Proklamation der libyschen SRZ – ganz im Sinne europäischer Migrationspolitik – das Ziel verfolgt, die Zahl der Asylsuchenden und Migrant_innen, welche europäische Hoheitsgewässer erreichen, zu verringern. Hierin kann der Beginn eines beunruhigenden Trends gesehen werden, in dessen Zuge die Verantwortung für Rettungseinsätze an Drittländer übertragen wird, um Verpflichtungen wie das Verbot der Kollektivausweisung oder das Non-Refoulement Prinzip zu umgehen (vgl. Gammeltoft-Hansen, S. 69).

Diese perfide Strategie scheint aufzugehen: Hilfsorganisationen wie Médecins Sans Frontières und Save the Children haben aus Sicherheitsbedenken die vorübergehende Einstellung ihrer Rettungseinsätze in der SRZ vor Libyens Küste verkündet.

Warum Libyen? Um Migrationsströme aufzuhalten!

Kooperationen zwischen der EU und Drittstaaten im Bereich Migration haben eine lange Geschichte. Bereits in der Vergangenheit hat die EU mit Staaten kooperiert, welche große Defizite im Bereich Menschenrechte aufwiesen – was die EU jedoch bisher nicht von solch einer Zusammenarbeit abgehalten hätte. Solange die Zahl der ankommenden Asylsuchenden und Migrant_innen in Europa gesenkt wird, werden Defizite im Bereich Menschenrechte in Kauf genommen.

Der Grund für das Interesse der EU an einer Kooperation mit Libyen ist offensichtlich – fast 90% der Ausreisen im Jahr 2015 aus Afrika nach Europa hatten hier ihren Ursprung. Um die hohe Zahl von Ankommenden an europäischen Küsten zu verringern, legten die EU-Mitgliedsstaaten eine Reihe konkreter Ziele für eine Kooperation mit Libyen in der sogenannten Malta-Erklärung von 2017 fest. Kurzum, die EU versprach Libyen finanzielle Unterstützung, Ausbildung der Küstenwache sowie technische Unterstützung als Gegenleistung für die Verhinderung von Ausreisen von Asylsuchenden und Migrant_innen nach Europa.

Gemäß kürzlich veröffentlichten Statistiken ist die Anzahl registrierter Ankünfte an europäischen Küsten in letzten Monaten stark gesunken. Dieser ‚Erfolg‘ scheint jedoch lediglich von kurzer Dauer zu sein. Medien berichteten kurz nach Veröffentlichung dieser Zahlen, dass innerhalb von einer Woche mehr als 5.000 Asylsuchende und Migrant_innen im Gebiet zwischen Libyen und Italien aufgefunden wurden. Es bleibt abzuwarten, wie sich diese Zahlen entwickeln werden. Eines kann aber bereits jetzt mit Sicherheit gesagt werden: Die EU und Libyen werden ihre Bemühungen, die ‚Festung Europa‘ weiterhin hermetisch abzuriegeln, verstärken, damit Europa für so wenige Menschen wie möglich erreichbar ist.

Die SRZ: Eine weitere Maßnahme, um den Zugang zur EU zu verhindern

Seit der Umsetzung der Malta-Erklärung Anfang 2017 scheinen sich die Ereignisse und Zwischenfälle im Mittelmeer wöchentlich zu überschlagen.

Medien und NGOs berichteten über gewalttätige Angriffe und Drohungen gegenüber Asylsuchenden und Rettungsorganisationen sowie von Schießereien in Haftlagern in Libyen, um Platz für Neuankömmlinge zu schaffen. Zur gleichen Zeit drohte Italien, seine Häfen für jedes ankommende Rettungsschiff zu schließen, welches sich weigerte einen Verhaltenskodex für private Seenotretter zu unterzeichnen – ein Vorgehen, welches der wissenschaftliche Dienst des Bundestags als völkerrechtswidrig deklarierte.

Das Völkergewohnheitsrecht sieht vor, dass Schiffe, die in Not geraten sind, Hilfe leisten müssen und dass Gerettete an einen „Ort der Sicherheit“ zu bringen sind – d.h. ein Ort, an dem ihr Leben und ihre Sicherheit garantiert sind und wo ihre Grundbedürfnisse erfüllt werden. Diese Regelungen werden durch das 1979 verabschiedete internationale Übereinkommen über Seenotrettung (Convention on Maritime Search and Rescue, SAR-Konvention) ergänzt, welchem Libyen im Jahr 2016 beigetreten ist.

Im Rahmen dieses Übereinkommens werden Zuständigkeiten für Such- und Rettungsmaßnahmen nach Zonen unter den Vertragsstaaten aufgeteilt. Rettungsmissionen vor der libyschen Küste sollen dadurch erleichtert werden. Für die Errichtung einer SRZ bedarf es lediglich einer Vereinbarung zwischen den Parteien und eine Mitteilung an den Generalsekretär der Vereinten Nationen (SAR, Anhang 2.1.4). Die Verbannung von privaten Seenotrettern oder die Verringerung der Ausreisezahlen sind jedoch eindeutig keine Ziele, welche das Übereinkommen vorsieht.

Um die Rechtmäßigkeit der Verbannung privater Seenotrettungsmissionen aus der SRZ beurteilen zu können, sind neben der SAR-Konvention auch das UN Seerechtsübereinkommen (United Nations Convention on the Law of the Sea, SRÜ) sowie allgemeinen Regeln des internationalen Seerechts heranzuziehen. Das SRÜ legt eine Reihe von Meereszonen fest, welche sich von der Küste auf die Hohe See erstrecken: das Küstenmeer, die Anschlusszone, die ausschließliche Wirtschaftszone und die Hohe See. Je nach Zone nehmen die den Küstenstaaten zustehende Kompetenzen ab. Die wichtigsten Bestimmungen des SRÜ spiegeln Völkergewohnheitsrecht wider, weswegen sie auch im Falle Libyens – welche das SRÜ nicht ratifiziert hat – Anwendung finden.

Private Seenotretter und das Seerecht: Recht auf friedliche Durchfahrt und Freiheit der Schifffahrt

Innerhalb des Küstenmeeres, welches sich auf 12 Seemeilen von der Basislinie der Küste in das offene Meer hinein erstreckt, wird die Souveränität des Küstenstaates durch das Recht auf friedliche Durchfahrt begrenzt (Art. 17, 21 und 24 SRÜ). Die Durchfahrt gilt als friedlich, solange die Sicherheit des Küstenstaates durch die Durchfahrt nicht beeinträchtigt wird (Art. 19 (1) SRÜ). Im vorliegenden Fall ist nicht ersichtlich, wie die Rettungseinsätze privater Seenotrettungsmissionen die Sicherheit Libyens gefährden könnten. Darüber hinaus ist es gewohnheitsrechtlich anerkannt, dass privaten Schiffen im Falle eines Rettungseinsatzes die Durchfahrt für die Rettung unterbrechen dürfen. (ebenfalls in Art. 98 SRÜ kodifiziert).

Konkret bedeutet dies, solange ein privates Seerettungsschiff durch libysche Hoheitsgewässer fährt, ohne die Sicherheit des Küstenstaates zu gefährden, und seine Pflicht erfüllt, Menschen in Seenot zu retten, genießt es das Recht auf friedliche Durchfahrt. Ergo, Libyen darf die Durchfahrt in solch einem Fall nicht verbieten und insbesondere nicht mit Waffengewalt oder Drohungen gegen die Besatzung vorgehen. Im Gegenteil, Libyen ist sogar verpflichtet, solch eine friedliche Durchfahrt nicht zu behindern (Art. 24 (1) (a) SRÜ). Indem Libyen pauschal private Seenotrettungsmissionen aus seinem Küstenmeer verbannt und verbal und körperlich Senotretter_innen bedroht und angreift, verletzt das Land seine völkerrechtlichen Pflichten.

Ähnlich ist die Lage in den an das Küstenmeer angrenzenden Meereszonen. Hier gilt die Freiheit der Schifffahrt (Art. 58 Abs. 1, 87 Abs. 1 Buchst. A, 90 SRÜ). Rettungsschiffe dürfen hier ohne Einschränkungen auf der Suche nach Booten in Seenot patrouillieren. Lediglich in der Anschlusszone, welche sich über 24 Seemeilen erstreckt (Art. 33 (2) SRÜ) hat der Küstenstaat zusätzlich das Recht erforderliche Kontrollen durchzuführen, um unter anderem Verstöße gegen seine Einreisevorschriften, welche im Küstenmeer oder an Land begangen wurden, festzustellen. (Art. 33 (1) SRÜ). Unter der Voraussetzung, dass weder ein Anlass für einen solchen Verstoß vorliegt noch ein solcher Verstoß selbst, dürfen auch hier private Seenotrettungsmissionen ungestört patrouillieren.

Seenotrettung in den Such und Rettungszonen: wer zuerst kommt, malt zuerst

Einsätze privater Seenotretter sind von immenser Bedeutung für Asylsuchende und Migrant_innen, da ihr künftiger Aufenthaltsort und damit teilweise auch ihr Überleben davon abhängt, von welchen Rettungskräften sie an Bord genommen werden. Ist es die libyschen Küstenwachen, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass sie in einem libyschen Haftlager enden, wo ihnen Folter, Vergewaltigung und anderen Menschenrechtsverletzungen drohen. Werden sie von privaten Seenotretter_innen aufgenommen, ist die Chance, dass sie in einen EU-Hafen gebracht werden, deutlich größer.

Der Grund hierfür ist in den Bestimmungen der SAR-Konvention zu finden. Grundsätzlich übernimmt die zuerst an einem Einsatzort eintreffende Einheit die Verantwortlichkeit, um jegliche zeitliche Verzögerungen zu verhindern. Dies gilt bis zu dem Zeitpunkt zu dem der Küstenstaat einen vor Ort anwesenden Verantwortlichen bestimmt hat (Annex zur SAR-Konvention 5.7.1-3).

Aufgrund dieses ‚first come, first serve‘-Prinzips entwickeln sich Rettungseinsätze zu einem Wettlauf gegen die Zeit – bei dem Ressourcen und Kapazitäten der Rettenden von besonderer Bedeutung sind. Auch hier spielt der Einfluss der EU eine signifikante Rolle. Denn solange Libyen kein eigenes Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) hat, organisiert und koordiniert das in Rom ansässige MRCC alle Rettungseinsätze. Dies hat zur Folge, dass im Falle eines Einsatzes des libyschen SAR-Dienstes den Geretteten die Rückführung an einen unsicheren Ort – unter Verletzung internationaler Rettungspflichten – und unter schweren Menschenrechtsverletzungen droht.

Zwar setzt Libyen mit der Errichtung der SRZ ihre internationalen Verpflichtungen gemäß der SAR-Konvention um; mit dem generellen Verbot aller Rettungseinsätze durch private Seenotrettungsorganisationen überschreitet Libyen jedoch ihre Kompetenzen und verletzt damit geltendes Völkerrecht. Die konkrete Umsetzung der SRZ verfehlt damit nicht nur ihr Ziel die Rettung von Menschen in Seenot zu erleichtern, sondern ist darüber hinaus als Vorwand für die Verbannung privater Rettungsschiffe in diesem Bereich zu werten.

Die Errichtung von Such- und Rettungszonen: Eine unaufhaltsame Entwicklung?

Bedenkt man die von der EU in einem aktuellen Aktionsplan genannten Forderungen gegenüber nordafrikanischen Staaten, wird deutlich, dass die Errichtung der SRZ vor der Küste Libyens nur der Anfang einer neuen Entwicklung ist. In diesem Aktionsplan vom Juli 2017 ruft die EU auch Tunesien und Ägypten dazu auf, das Gebiet vor ihren Küsten zu Such- und Rettungszonen zu erklären.

In diesem Kontext ist auch die Bereitstellung von Informationen aus den EUROSUR Überwachungssystem durch mehrerer EU-Mitgliedstaaten an Libyen von großer Relevanz. Mehrere Staaten, welche das satellitengestützte Seahorse-Mediterranean Network betreiben, erleichtern damit der libyschen Küstenwache die Durchführung von ‚Rettungsmissionen‘ außerhalb ihrer Hoheitsgewässer. Dieser Informationsaustausch garantiert der libyschen Küstenwache einen unschlagbaren Vorteil beim Wettlauf um die Rettungseinsätze.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Libyen durch ihre pauschale Verbannung von privaten Rettungsschiffen in ihrer Such- und Rettungszone gegen völkerrechtlichen Verpflichtungen verstößt. Libyen nutzt dabei den Deckmantel ihrer aus der SAR-Konventionen entstehenden Pflicht zur Errichtung einer SRZ aus, um die Rettungseinsätze zu verbieten. Der Umstand, dass Libyen das SRÜ nicht ratifiziert hat, ist vorliegend nicht von Belang, da das Recht auf friedliche Durchfahrt und die Freiheit der Schifffahrt für Libyen als völkergewohnheitsrechtliche Regelungen verbindlich sind.

Weiterhin ist zu beobachten, dass die Errichtung von SRZ Teil eines größeren, auf Kooperation ausgelegten Plans zwischen der EU und nordafrikanischen Staaten ist. Die EU drängt und lockt Drittstaaten mit Druck und finanziellen Versprechungen dazu, Maßnahmen zur Verhinderung von Ausreisen zu ergreifen. Die Errichtung der SRZ in Libyen ist nur der Anfang.

Die Errichtung der SRZ, Drohungen und Angriffe auf Rettungsmissionen sowie der Austausch von Überwachungsdaten stellen eine beunruhigende Entwicklung dar, welche für die für die betroffenen Migrant_innen und Asylsuchenden katastrophale Folgen haben. Durch die Verlagerung der Verantwortlichkeit bei der Kontrolle von Migrationsströmen auf Libyen – wo die Situation für Asylsuchende als „Menschenrechtskrise“ bezeichnet werden muss – gelingt es der EU sich ihre Hände nicht schmutzig zu machen und kann gleichzeitig vorgeben ihre Menschenrechtsverpflichtungen zu wahren.

Ein kleiner Hoffnungsschimmer bleibt jedoch – am 27.09.2017 hat die Europäische Kommission in einer Erklärung bekannt gegeben, dass sie 500 Millionen Euro für den Aufbau von Umsiedlungsprogramme zur Verfügung stellen wird, was unter anderem die Unterstützung von UNHCR beim Aufbau eines Evakuierungsplanes aus Libyen umfassen soll.

Der Beitrag wurde auch auf English veröffentlicht.

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