10. Oktober 2017 · Kommentare deaktiviert für Calais: Sie sind immer noch da · Kategorien: Frankreich, Großbritannien, Schengen Migration · Tags:

der Freitag | Ausgabe 34/2017

Die Stadt am Ärmelkanal bleibt Brückenkopf für Flüchtende. Sie kämpft dagegen mit Brutalität und Chic

Tobias Müller

Mick Jagger, Elizabeth II. und Alfred Hitchcock stehen am Strand von Calais. Es ist Freitagabend, eigentlich beinahe Nacht, doch so früh im Sommer liegt ganz im Westen des europäischen Festlands, am äußersten Zipfel Frankreichs, noch ein letztes Stück Dämmerung über dem Meer. Die drei britischen Ikonen könnten sich fragen, was sie hier eigentlich machen, am Rand dieser unscheinbaren französischen Hafenstadt, vis-à-vis den White Cliffs of Dover, die man morgens manchmal vom Strand aus sieht. Und was zum Teufel dieser rote Londoner Doppeldecker-Bus ein paar Meter weiter soll?

Doch Jagger, die Queen und Hitchcock schweigen. Was unter anderem daran liegt, dass sie lediglich als Kunstwerke die Promenade zieren. Gemeinsam mit anderen Symbolen des Vereinigten Königreichs wurden sie von Fotografen und Designern abgebildet, „auf humorvolle Weise“, wie ein Hinweisschild erklärt. Die Tafeln mit ihren Konterfeis ziehen sich am Strand entlang, eine Ausstellung, die offenbar Touristen unterhalten soll. Nebenan, im Bus, liegt eine Union-Jack-Flagge. Durchs Fenster sieht man Broschüren für Besucher, von denen eine „Calais Celebrates Summer“ heißt.

Was ist passiert, Calais? Kunst am Strand, was für ein Willkommen ist das? Riecht der Duft, den du aufgetragen hast, etwa nach Sommerfrische? Bin ich hier in einer Postkarte gelandet? Das letzte Mal trugst du ein beißendes Aroma von verbranntem Plastik und Holz, das einem tagelang in der Nase blieb, und noch das Abendrot hier an diesem Strand erinnerte mich an das Flammenmeer, in dem in diesen Tagen im Herbst 2016 der Jungle versunken war. Das größte inoffizielle Flüchtlingslager Europas, draußen in den Dünen, wo kurz zuvor noch mehr als 10.000 Menschen gelebt hatten.

Das ganze Elendscamp wollte hinüber nach England. Und jetzt, im ersten Sommer, nachdem es geräumt und planiert wurde, nachdem mehr als die Hälfte seiner Bewohner in sogenannte Willkommenslager über ganz Frankreich verteilt wurden und die anderen sich aus dem Staub machten, um weiter nach einem Weg über den Kanal zu suchen, jetzt willst du, Calais, also die Engländer hierherlocken. Mit ein paar allzu vertrauten Symbolen. Eben, bei der Einfahrt in die Stadt, passierten wir in einem Kreisverkehr nachgebaute Beefeaters-Figuren. Alles hier, scheint es, läuft auf England hinaus. „London Calling“, das war nicht umsonst das berühmteste Graffito an der Autobahnbrücke beim Jungle.

Auf dem Weg vom Strand in die Stadt kommen Bilder von damals zurück. Das Pressezelt fällt mir ein, das man uns eingerichtet hatte, Hunderten Journalisten aus aller Welt, von dessen eingezäuntem Vorplatz aus man die abfahrenden Busse der Migranten beobachten konnte. Eine Präfektin taucht auf. Mitten im Schlamm und Rauch lief sie eines Vormittags auf einmal ein paar Meter von mir entfernt durch den brennenden Jungle. Dass dort noch Hunderte Menschen ausharrten, muss sie auch gesehen haben. Trotzdem trat sie kurz darauf vor die Medien und verkündete, der Jungle sei leer. Das Pressezelt wurde geschlossen. Die meisten Journalisten fuhren nach Hause. Jetzt, ein Dreivierteljahr später, bin ich zurück an dem Ort, den ich seit zehn Jahren immer wieder aufsuche, um die Entwicklung der Transmigration zu dokumentieren – also einer Form des Wanderns, bei der der Wechsel zwischen verschiedenen Lebensorten zum Normalzustand wird. Viele Menschen erstaunt mein Besuch in Calais. „Calais, was wollt ihr da? Das ist doch vorbei“, sagen sie.

Nichts ist vorbei

„Vorbei“ – das signalisieren auch die geschmackvollen Sessel, die in der lauen Nacht vor den Bars stehen und in denen Gäste Drinks schlürfen. Schluss mit der Migrantenkrise am Kanal! Calais, das hässliche Entlein an der windigen Küste Nordfrankreichs, mit seiner abgewickelten Textilindustrie und den rissigen blassroten Trottoirs, sucht optisch Anschluss an ein urbaneres Nachtleben. Wer will es ihm verdenken? Einige Etablissements im Ausgehviertel zwischen Zentrum und Hafen haben renoviert, andere sind neu eröffnet. Vor einem Laden spielen Besucher Bier-Ping-Pong auf langen Tischen. Aus der No-Comment-Bar dringen Beats.

Vorbei mit „vorbei“, bezeugen freilich drei Gestalten, die, wie aus einer fernen Vergangenheit kommend, ein paar Blöcke weiter über die Place d’Armes schlendern. Drei Männer, einer kahl und kräftig und schon jenseits der 30, einer Mitte 20 mit schwarzen Haaren, Schirmmütze und Jogginghose, der dritte noch ein Teenager mit roten Turnschuhen. Sie sind auf der Suche nach jemandem, der ein wenig Geld hat für etwas zu essen. Oder sollen sie gleich hungrig hinüber zur Brücke am Kanal laufen und sich darunter zum Schlafen hinlegen?

Reza, Abdul und Fitim, nennen wir sie so, sind drei von etwa 600 Migranten, die seit dem Winter nach Calais zurückgekehrt sind. Reza, der Älteste, ist ein Kurde aus dem Nordirak. Abdul, der in der Jogginghose, ein afghanischer Paschtune. Paschtunen bilden seit jeher einen großen Teil derer, die von „Calas“, wie sie die Stadt früher nannten, nach England gelangen wollen. Der Jüngste, Fitim, ist erst 16. Am Tag zuvor kam er aus Albanien hier an. Er will auf der anderen Seite des Kanals arbeiten und Geld für seine Familie verdienen. Die erste Nacht, sagt er, verbrachte er vor dem Casino. Die Polizei hielt ihn für einen Obdachlosen und ließ ihn schlafen.

Drei Migranten, drei Biografien, ein Ziel: England. Da kein anderer Ort des europäischen Festlands dessen Küste so nahe ist und nirgends anders jede Stunde Fähren ablegen, kommen sie, die sich dort ein besseres Leben erhoffen, immer wieder nach Calais. Im Frühjahr 2015 räumten die Behörden alle migrantischen Unterschlüpfe in leer stehenden Fabrikgeländen oder den „Jungles“ genannten Wäldchen, und stellten den Migranten ein Stück Brachland zur Verfügung, fernab der Stadt, hinter der Zone Industrielle des Dunes. Innerhalb weniger Monate wuchs es rasant an. Trotz mehr oder weniger fester Behausungen behielt es den Namen „Jungle“ und wurde zum Symbol der Flüchtlingskrise am Ärmelkanal.

Tränengas zum Frühstück

Jetzt scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Erneut sieht man Migrantengrüppchen im Straßenbild, sie sitzen in den Parks herum, bis sie verstohlen irgendwo ihr Nachtlager aufschlagen. Im Rathaus will man um jeden Preis verhindern, dass sich wieder permanente Niederlassungen bilden. Also beziehen Reza, Fitim und Abdul ihren Platz unter der Brücke jede Nacht neu. Morgens, gegen sieben oder acht, wird ihr Schlaf abrupt beendet. Wenn die Polizei kommt, gibt es zum Aufwachen Tritte oder Tränengas, mit dem Beamte der Bereitschaftspolizei Compagnies Républicaines de Sécurité (CRS) am Kanal traditionell Migranten vertreiben.

Und wie sieht das mit England aus? „Sehr, sehr schwierig“, versichert Reza. „In letzter Zeit ist es keinem mehr gelungen. Trotzdem versuchen wir es jeden Tag. Nachts gibt es zu viel Polizei.“ Der Ort, den sie dafür ansteuern, ist nicht mehr wie früher der Hafen mit seinen fünf Meter hohen, engmaschigen Zäunen samt ihrer Krone, die mit rasierklingenscharfem NATO-Draht bewehrt ist. Auch nicht die schwer gesicherte Autobahn beim früheren Jungle oder das Gelände um den Eurotunnel-Eingang, ein paar Kilometer vor der Stadt. Stattdessen laufen sie anderthalb Stunden nach Marck, ein Städtchen östlich von Calais. „Wenn die Fahrer dort vor der Überfahrt etwas einkaufen, versuchen wir an Bord zu kommen.“ Reza, Abdul und Fitim empfehlen sich in Richtung Brücke. Am Morgen wollen sie früh aufbrechen.

Marck, rund 10.000 Einwohner, liegt nahe der Autobahn zu Hafen und Tunnel. Ein wenig außerhalb befindet sich so etwas wie das logistische Zentrum des Frachtverkehrs am Ärmelkanal. Man wähnt sich auf einem Archipel von Lagerhäusern, Kreisverkehren und Parkplätzen. Neu aussehende Zäune durchziehen die Felder – ein sicheres Zeichen dafür, dass Marck einen Platz einnimmt auf der sich ständig ändernden Karte der Transmigration.

Ein weiterer Hinweis ist die Polizeipräsenz. Nur ein paar Minuten beobachten wir am nächsten Mittag von einem Kreisverkehr aus, wie ein englischer Fahrer die Unterseite seines Lkw absucht, schon nähert sich ein Bus der Polizei CRS. Zu viert stellen sie sich um uns herum auf und lassen sich grimmigen Blicks die Presseausweise geben. Erst als das Stichwort Berlin fällt, entspannt sich die Situation. Drei Mal war er schon da, sagt einer der Polizisten. Seine Miene hellt sich auf. Er erwähnt den Club „Berghain“ – und macht eine Bemerkung über strenge Türsteher. Ende der Kontrolle.

Am Rand des Truck-Archipels sieht man ab und an gebückte Silhouetten zu zweit oder dritt entlang eines Feldsaums laufen, auf der Suche nach einer Chance zum Mitfahren. Diese aber sind auch hier immer schwieriger zu finden. Außerhalb deklarierter Parkplätze werden alle Fahrzeuge abgeschleppt, steht auf einem Aushang an der Schiebetür zur örtlichen Filiale der Kette „All4Trucks“. Dahinter liegen ein Restaurant, Duschen und Aufenthaltsräume, 14 Diesel-Zapfsäulen und ein mit Elektrozaun gesicherter Parkplatz, auf dem Hunderte von Lkw stehen.

Irgendwo zwischen ihnen verbringt ein litauischer Fahrer, der sich als Eddy vorstellt und in England wohnt, die Zeit bis zur Überfahrt. Er trägt einen dunklen Jogginganzug und hat adrett frisierte, kurze Haare. Angst macht ihm der Job nicht, den er erst seit einigen Monaten hat, obwohl er Teile davon einen Albtraum nennt. Selbst tagsüber, klagt er, versuchten Migranten, in oder unter seinen Lkw zu gelangen, oder in den Zwischenraum zwischen Spoiler und Kabine. „Sobald man hier vom Parkplatz fährt und sich das Tor öffnet, sind sie da.“ Eddy weist auf die schwarze Plane seines Fahrzeugs. An beiden Seiten finden sich lange Schnitte, durch die sich blinde Passagiere zwängen wollten.

In diesem Sommer hat die Anspannung noch zugenommen. Nach zahlreichen Migranten, die in den letzten Jahren auf der Autobahn starben, gab es im Juni das erste Opfer unter den Fahrern. Wieder einmal hatten Migranten nachts die Autobahn 16 mit Ästen blockiert, ein verzweifelter, lebensgefährlicher Versuch, die Lkw zum Bremsen zu zwingen. Beinahe vier Uhr war es, als der Fahrer eines polnischen Transporters zu spät reagierte: Er prallte auf den bremsenden Truck vor ihm. Sein Fahrzeug ging in Flammen auf. „Manchmal setzen Migranten die Straßensperren in Brand“, sagt Eddy. „Man sieht noch die geschwärzte Asphaltdecke.“

Ob er die Migranten verstehen kann? Schließlich kam auch er vor Jahren auf der Suche nach einem besseren Leben nach England. „Hmmm“, überlegt er, „eigentlich nicht. Na ja, vielleicht. Jedenfalls will ich nicht mit ihnen kämpfen. Wenn sie mich am Rastplatz um eine Zigarette fragen, gebe ich ihnen natürlich eine.“ Unter dem Strich aber stehen die 2.000 Pfund Strafe, die Eddy und seinen Kollegen drohen, sollten sie mit einem klandestinen Passagier in der Fracht entdeckt werden.

Flucht vor der Religionspolizei

Je länger Eddy erzählt, desto deutlicher wird: Fahrer und Flüchtlinge sind in einen bizarren Stellvertreterkrieg verwickelt. Das gemeinsame Ziel England bringt sie einander unfreiwillig ins Gehege. Aber es gibt viele Parallelen – etwa wenn Eddy sagt: „wir Trucker helfen einander“. Auch die Migranten sind hier selbstverständlich aufeinander angewiesen. Und wenn man kleine Grüppchen von Fahrern mit ihren Vorräten in Plastiktüten schlurfenden Schritts vom Discount-Supermarkt kommen sieht, kann man sie von fluchtbereiten Afghanen oder Eritreern kaum unterscheiden.

Um die Entwicklung in Calais in diesem Jahr zu verstehen, muss man zurück an den Ort, von dem sie im letzten Herbst ausging: in den Jungle. Wer das Gelände hinter der Zone Industrielle des Dunes nun nachts besucht, wundert sich, das nicht einmal mehr oben an der Autobahnbrücke das Blaulicht des CRS-Wagens flackert, der dort immer Position hielt. Kommt man tagsüber, landet man in einem Standbild. Auf den ersten Blick erinnert nichts an die Zelte und Hütten und die Menschen, die sich auf den wenigen asphaltierten Wegen drängten. Stattdessen hat satte Vegetation die Brache überzogen. Dazwischen blüht es gelb, rot und lila, und statt der einst allgegenwärtigen Generatoren hört man nur Vögel. Fast kann man sich das Naturgebiet vorstellen, das die Stadt hier plant. ACCÈS INTERDIT, verkündet ein großes Schild in Weiß auf Rot, Zutritt verboten. Auch jenseits davon finden sich nur noch wenige Relikte der Vergangenheit: Holzstückchen, Plastikreste, Zeltstangen, Nägel. Allein die heulenden Lkw-Motoren rasen auf der Autobahn dem Kanal entgegen, hinter einem Doppelzaun, der in der Sonne grell leuchtet.

Nur selten begegnet man hier jemandem. An diesem Nachmittag ist die Ausnahme ein Auto mit englischem Kennzeichen. Darin sitzen Joanna Strickland, eine Geschäftsfrau aus Folkestone, die anderthalb Jahre lang jede Woche als Helferin hierherkam. Sie ist mit ihrem iranischen Freund gekommen. Als konvertierter Christ floh er vor der Religionspolizei der Mullahs, die ihn hängen wollte. Seine Calais-Erfahrung in Kurzform: acht Monate im Jungle, zwei gebrochene Beine durch Stürze von Lkw, eine gebrochene Hand dank der Schlagstöcke der CRS. Letzten Sommer schaffte er es nach drüben, wo man ihm Asyl gewährte.

Der Konvertit hat Glück gehabt. Auch mit Hilfe seiner Freundin konnte er die ersten eigenen Schritte in England gehen, er studiert und baut sich ein Leben auf. Doch viele, die es in den letzten Jahren nach zahllosen Versuchen hinüberschafften, landen in trostlosen Städten, ohne Arbeit, anfällig für Depression, erzählt Joanna Strickland. „Sie haben das Paradies erreicht, und dann sehen sie, dass das Paradies scheiße ist.“ Auf einem Wochenend-Ausflug nach Belgien legt Strickland einen Zwischenstopp ein, an dem Ort, an dem sie sich trafen. Für den Iraner ist es das erste Mal, dass er hierhin zurückkehrt. „Ich denke an all die Schwierigkeiten. An viele gute Freunde, die ich hier hatte. Und an alle, die ich kenne, die noch hier sind.”

Zelte werden zerstört

Letztere haben nun mit erschwerten Bedingungen zu tun: So harsch die Verhältnisse im Jungle waren, es gab es dort immerhin ein Minimum an Infrastruktur und Hilfe durch zahlreiche Freiwillige. Im Frühjahr 2017 dagegen verbot Natacha Bouchart, Calais‘ republikanische Bürgermeisterin, Essen an Transmigranten zu verteilen. Also taten die Hilfsorganisationen es im Verborgenen. Natürlich weiß man im Rathaus davon. Mal tolerierte man es, mal verjagte man die Migranten. Eine Art von Elendsverwaltung, die typisch für Calais ist: Man bekämpft die Symptome einer Krise, die mit Baggern und Verboten nicht zu bewältigen ist.

Statt des Jungle gibt es nun wieder kleine Nischen, in denen sich das Geschehen abspielt. Eine davon ist der Parc Saint Pierre gegenüber dem Rathaus. An einem kühlen Mittag Anfang Juli haben sich dort etwa 20 Migranten eingefunden, darunter auch einige Kinder, und ein paar Freiwillige, die in einer Ecke Baguettes, Bananen und Tee austeilen. Sie tragen die knallgelben Windjacken der „Association Salam“, die seit anderthalb Jahrzehnten am Kanal Migranten unterstützt. Salam begann, lange bevor 2009 das erste No-Border-Camp des gleichnamigen antirassistischen Netzwerks in Calais stattfand. Und noch viel länger vor der europäischen Flüchtlingskrise, die Tausende meist britische Volunteers in den Jungle brachte. Seit acht Jahren ist auch die Generalsekretärin Claire Millot dabei, eine pensionierte Französisch-Lehrerin mit kurzen, grauen Haaren. Was die aktuelle Situation ausmacht? „Zum ersten Mal, seit es hier Migranten gibt, dürfen sie keine Zelte haben. Wenn sie doch welche findet, zerstört die Polizei sie. Und jede Nacht nehmen sie Schlafenden ihre Decken weg.“

Claire Millot stammt aus Calais’ humanistischem Bildungsbürgertum. Bekannt freilich ist die Stadt als Arbeiterhochburg mit einer langen, linken Tradition, die noch bis 2008 einen kommunistischen Bürgermeister hatte. In den letzten Jahren jedoch hat sie sich zu einer Front-National- Bastion gewandelt. Die Gründe dafür überschneiden sich zum Teil mit denen, die Didier Eribon in Reims vorfand. Doch dazu kommt, dass Calais in der gleichen Periode europaweit zu einem Symbol der Flüchtlingskrise wurde. Das Elend im Jungle, die Kämpfe zwischen Migrantengruppen und die Autobahnblockaden passten hervorragend in die identitäre Propaganda. Waren dies nicht plastische Beispiele einer näherkommenden Bedrohung? Claire Millot hat gesehen, wie sich ihre Stadt in der jüngsten Vergangenheit änderte. Früher, sagt sie, war Calais gastfreundlich, und viele Menschen halfen den Migranten.

Zur Zeit fühlt sich die Direktorin „leicht entmutigt“. Im Frühjahr stiegen die Besuchszahlen leicht an. Es gab Wochenenden, an denen alle Betten belegt waren. Doch just zu Beginn der Hauptsaison passierte diese Sache mit dem polnischen Fahrer! „Und dann gab es vor ein paar Tagen einen Kampf zwischen zwei Migranten- Gruppen.“ Gegen solche Schlagzeilen, weiß sie, sind alle Busse, Tower Bridges und Discount-Gutscheine machtlos.

Gewaltausbrüche zwischen Migranten sind in Calais ein sicheres Zeichen dafür, dass sich die Lage verschärft. Meist geht es um Konkurrenzkämpfe um das Wenige, was es zu verteilen gibt: Zugang zu Rastplätzen oder Lkw. In diesem Fall entluden sich Spannungen zwischen Äthiopiern und Eritreern in Form zweier Schlägereien. Lokale Zeitungen schreiben, 100 bis 200 Migranten hätten teilgenommen. Ein Amateurvideo von Anwohnern zeigt Gruppen, die schreiend und zum Teil steinewerfend aufeinander losgehen. Auch Stöcke kommen zum Einsatz. 16 Menschen wurden verletzt, einer von ihnen schwer. Der Schauplatz war in der Nähe des Industriegebiets, hinter dem der Jungle lag. Ein Wäldchen dort dient zahlreichen Migranten als provisorischer Unterschlupf.

Auf dem Feld, das dem Wäldchen vorgelagert ist, lassen sich wenige Tage später die Folgen der Gewalt noch sehen. Über den Boden verstreut sitzen kleine Gruppen meist afrikanischer Männer, auch einige Frauen sind dabei. Manche haben sich auf Felsbrocken niedergelassen, andere liegen unter niedrigen Bäumen, die Schatten spenden. Ein junger Mann ohne T-Shirt trägt einen Verband um die Taille, ein älterer einen am Fuß. Neben ihm auf dem Boden liegt eine Krücke. In mehreren Gesichtern und an Armen sieht man Verletzungen. Ein weißes Pulsband markiert jene, die im Krankenhaus behandelt wurden.

Der Eritreer Filimon, den wir in der Stadt kennenlernten, hat uns mit hierher genommen. Auf einem Trampelpfad betreten wir das Wäldchen, das, wie in Calais üblich, längst Jungle genannt wird. Der Pfad schlängelt sich zwischen Laubbäumen hindurch. Abfall liegt auf dem Boden, auch ein paar Kleidungsstücke, aber keinerlei Zeichen von Behausungen. Dabei sagt Filimon, dass hier überall Menschen schlafen. Bis zu 400 sollen es sein, womit das Wäldchen aktuell die größte Lagerstatt ist. Ihre Existenz ist bekannt, nicht erst seit der Schlägerei. Auf einem nahen Parkplatz am Rand des Industriegebiets verteilen Freiwillige abends Essen. Die CRS sind mit zwei Mannschaftswagen präsent, halten sich aber im Hintergrund.

Nach einem Zickzack-Kurs durch den Wald endet der Pfad auf einer Anhöhe. Dahinter türmen sich zwischen Strommasten Hügel aus Sand auf, durchmischt mit schwarzem Quarz oder Granit. Hoch oben stehen einige Dutzend Männer dicht beieinander, verwickelt in ein reges Gespräch. Filimon hält uns zurück, sie dürften nun nicht gestört werden. Nach einiger Zeit ist die Versammlung beendet. Die Männer kehren zurück nach unten, gehen nickend an uns vorbei und verschwinden im Wald. In den Gesichtern steht Erleichterung. „No more fighting“, sagt Filimon. Der Kampf ist vorbei, auf den Hügeln wurde Frieden geschlossen.

Rasieren im Wäldchen

Auf dem Feld vor dem Wäldchen fährt wenig später ein gelber Pick-up vor. Darin sitzen zwei Mitglieder der englischen Organisation „Help Refugees“, die schon in den letzten Jahren in Calais engagiert war. Zuerst holen sie ein ganzes Knäuel an Verlängerungskabeln mit jeweils sechs Steckdosen hervor. Sie werfen einen Generator an, und sogleich liegt das altbekannte Brummen über der Szenerie. Der neue Jungle nähert sich akustisch dem alten an. Mobiltelefone werden aufgeladen.

Dann zieht einer der Helfer einen Schlauch von der Ladefläche. Aus einem massiven Wassertank füllen die Bewohner des Wäldchens ihre Flaschen, dann beginnt auf dem Feld ein Zähneputzen, Haarewaschen und Rasieren. Die Szene erinnert an den Hydranten in ein paar hundert Metern Entfernung, der vor einigen Jahren einer früheren Generation von Transitmigranten, die in einem anderen Wäldchen schliefen, als Wasserquelle diente. Für Calais im Sommer 2017 ist sie symptomatisch: Obwohl die Stadt jede Infrastruktur unterbinden will, gibt es erste Anzeichen einer Grundversorgung. Gerade wegen der strengen Haltung der Behörden aber ist sie örtlich mobil und zeitlich beschränkt.

Noch etwas anderes zeigt, dass sich die Dynamik der Transmigration wieder in Gang gesetzt hat. Menschen wie Luke Bontrager, ein Medizinstudent, der hinten auf der Ladefläche sitzt und nun Zahnbürsten, Rasierschaum und Einmalrasierer austeilt. Neben ihm steht ein Karton mit Pappbechern. Luke Bontrager ist 22 Jahre alt und für zwei Monate aus Kansas hierher gekommen. Von Calais hatte er noch nie zuvor gehört, doch als ein Bekannter von der Flüchtlingskrise in Griechenland erzählte, begann er sich zu informieren. So erfuhr er von der Situation am Ärmelkanal.

Täglich kommt Luke Bontrager hier heraus, um Wasser und Hygieneartikel auszugeben – oder er hilft in der Lagerhalle in einem anderen Industriegebiet, in der Hilfsgüter gesammelt werden. Als Volunteer arbeitete er zuvor in der Dominikanischen Republik. Den alten Jungle hat er nie gesehen, doch macht er sich so seine Gedanken: „Es scheint hier eine gewisse Art zu geben, die Dinge unter den Teppich kehren zu wollen. Man hört also, das Camp sei aufgelöst und sie wollten die Sache aus der Stadt halten. Aber nur, weil sie einen Ort zerstören, wo Menschen lebten, heißt das nicht, dass sie das Problem gelöst haben.“

Die Konsequenz davon sind Odysseen wie die von Abdul, dem Afghanen, den wir nachts auf der Place d’Armes trafen. Dabei fiel uns auf, dass er ein blaues Plastikband am Handgelenk trug, auf dem „Dunkerque“ stand. Ein solches bekam jeder Bewohner des Hütten-Camps im Vorort Grande-Synthe, das von den Ärzten ohne Grenzen errichtet wurde. Im Frühjahr brannte es nach einem Streit zwischen afghanischen und kurdischen Bewohnern ab. Über tausend Personen verloren ihre Behausung. Das 40 Kilometer entfernte Calais war für viele eine naheliegende Option.

Am Kanal treffen wir Abdul eines Mittags wieder. Die Mission in Marck war erfolglos, auch Reza und Fitim sitzen dort auf einem Grasstreifen. Abdul hat soeben seine Schale mit Reis und Gemüse geleert, die Freiwillige an einem weißen Bus verteilen. Im Hintergrund ragt der Belfried des Rathauses empor, ein Wahrzeichen der Stadt. Abdul, der aus Jalalabad stammt und schon als Kind mit seinen Eltern vor den Taliban vorübergehend nach Pakistan floh, kam im Herbst 2016 erstmals nach Calais – kurz bevor das andere Wahrzeichen, der Jungle, geräumt wurde.

Schützen und misshandeln

Wie etwa 6.000 andere Bewohner verbrachte Abdul den Winter in einem der Willkommenszentren. Er ging nach Toulouse. Im Frühjahr, als das Zentrum schloss, kehrte er mit dem Zug an den Kanal zurück. Erst Dunkerque, dann Calais. Inzwischen hat er einen Asylantrag in Frankreich gestellt. Er zieht ein gefaltetes Dokument aus der Tasche. Es weist ihm einen Termin zu, in Lille seine Fingerabdrücke zu geben. Warum er trotzdem noch nach England will? Er spricht die Sprache, sagt er. Und er hat einen Bruder dort. „Jeder ist doch glücklich, wenn er bei seiner Familie ist!“

Manche Menschen in Calais wiederum sind mit der Rückkehr der Migranten alles andere als glücklich. Wovon die Nase eines etwas älteren Mannes zeugt, der noch über seiner Mahlzeit sitzt. Der Somalier, der sich als Mohamed vorstellt, trägt ein Pflaster mitten im Gesicht. Darunter ist eine Wunde von der letzten Nacht. „Mehrere Männer riefen mich ‚Nigger‘ und griffen mich an. Die Polizei rettete mich. Dann zogen sie mich vom Boden hoch und sprühten mir eine Ladung Tränengas ins Gesicht.“ Erst beschützen, dann missbrauchen – das Vorgehen dieser Polizisten ist bezeichnend. Die Gewalt, das Tränengas, die Schlagstöcke, sie sind nicht nur seit Jahren bekannte Phänomene am Kanal, sondern zugleich vollkommen hilflos. Kein Element aus dem Arsenal der Repression hat Transitmigranten je abgehalten, nach Calais zu kommen. Vielleicht muss man sich in ein Gewerbegebiet begeben, um zu sehen, wie sich dieser Kreislauf wiederholt: Räumung und Vertreibung, Rückkehr und Wiederbelebung des Szenarios, das sind die Stadien der immergleichen Geschichte hier. Ein Rhythmus, beständig wie Ebbe und Flut, und dadurch so verstörend.

Das Gewerbegebiet liegt beim Stadion. Die Alkoholdiscountmärkte hier sind auf britische Kundschaft ausgerichtet, die sich palettenweise Wein in den Kofferraum lädt, wenn sie sich denn noch hierhertraut. Vom alten Jungle aus ist es genau eine Autobahnausfahrt. Doch während dort alles ruhig ist, spielen sich hier, drei Kilometer weiter, die altbekannten Szenen ab.

In der Dämmerung laufen kleine Gruppen von Migranten am Zubringer entlang, manche bleiben im Hintergrund, andere setzen sich plötzlich in Richtung geparkter oder langsam passierender Lkw in Bewegung. Von Mannschaftswagen aus jagen ihnen die dunkelblauen Uniformen der CRS hinterher und versuchen sie auseinanderzutreiben. Man muss höllisch aufpassen, dass einem niemand vors Auto springt. Ständig verlagert sich das Geschehen von einem Kreisverkehr zum nächsten, wogt hinein ins Gewerbegebiet und sogleich wieder hinaus. Zwei Stunden später, als die Dunkelheit sich gelegt hat, das gleiche Bild. Über der Autobahn flackert Blaulicht. Eine weitere Nacht von Calais hat gerade erst begonnen.

 

 

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