28. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Weniger Flüchtlinge aus Libyen: Warum die ‚Brigade 48‘ Migranten stoppt“ · Kategorien: Italien, Libyen, Mittelmeerroute · Tags:

Spiegel Online | 28.08.2017

In Italien kommen derzeit kaum noch Flüchtlinge an. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Zahlen im August um knapp 90 Prozent zurückgegangen. Für die europäischen Regierungschefs, von denen sich einige am Nachmittag zum Gipfel in Paris treffen, sind das willkommene Nachrichten. Sie wollen eine Verschärfung der Flüchtlingskrise unbedingt verhindern – aus Angst vor einem weiteren Erstarken rechtspopulistischer Parteien.

Die libysche Küstenwache und die europäische Grenzschutzagentur Frontex verkaufen die sinkenden Zahlen als ihren Erfolg, die Kontrollen seien effektiver geworden. Doch tatsächlich ist ein wesentlicher Grund für die Entwicklung an der libyschen Küste zu finden: Eine Miliz soll die Seiten gewechselt haben – und jetzt aktiv gegen Schleuser kämpfen.

Der Rückgang müsse „damit zu tun haben, dass weniger Flüchtlinge von der libyschen Küste ablegen“, sagt Christine Petré, Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für Libyen. Dafür spreche, dass die Zahlen der Flüchtlinge, die in libyschen Gewässern von der Küstenwache aufgegriffen und zurückgebracht worden seien, im Juli stark zurückgegangen seien.

Einer der Hauptausgangspunkte der Flüchtlinge in Libyen ist die Kleinstadt Sabratha. Sie liegt rund 70 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis in Richtung der tunesischen Grenze. Italien und Europa sind hier besonders nah.

„Seit einiger Zeit gibt es eine neue bewaffnete Gruppe in der Stadt, die offenbar dafür sorgt, dass die Schmuggler nicht mehr ablegen“, sagt Mattia Toaldo, Libyenexperte des European Council for Foreign Relations (ECFR), einem europäischen Thinktank. Es gebe Hinweise darauf, dass ein mächtiger Schmugglerchef die Seiten gewechselt habe, so Toaldo. „Vielleicht hofft er, mehr Einfluss zu bekommen, wenn er dafür sorgt, dass die Flüchtlinge nicht mehr ablegen.“

Laut Berichten der Nachrichtenagentur Reuters und der „taz“ trägt die Miliz den Namen „Brigade 48“. Die Gruppe soll Schmugglerboote mit Waffengewalt am Ablegen Richtung Italien hindern – und ist dabei laut Reuters an Land und auf dem Meer aktiv. Der Miliz sollen mehrere Hundert Zivilisten, Polizisten und Soldaten angehören.

Anführer der Brigade ist laut „taz“ Ahmed Dabashi, bis vor wenigen Wochen einer der einflussreichsten Schmugglerchefs zwischen Tripolis und der tunesischen Grenze. Was steckt hinter dem Seitenwechsel? Möglich ist, dass Dabashi Angst davor habe, auf einer Kriegsverbrecherliste zu stehen, zitiert die „taz“ einen Experten aus Tripolis. Indem der Milizenchef der libyschen Übergangsregierung und den italienischen Behörden hilft, Flüchtlinge an der Fahrt über das Mittelmeer zu hindern, könnte er versuchen, sich reinzuwaschen.

Für die Flüchtlinge bedeutet das Auftauchen der Miliz indes eine weitere Verschärfung ihres Leids. Nach übereinstimmenden Berichten verschiedener Beobachter herrschen in den libyschen Lagern katastrophale Zustände: Es gibt Fälle von sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder sowie Vorwürfe, dass Männer zur Sklavenarbeit verdammt und bei Gegenwehr erschlagen werden.

:::::

Welt | 28.08.2017

Was hinter dem starken Rückgang der Flüchtlingszahlen steckt

An der italienischen Küste kommen im Vergleich zum Vorjahr kaum noch Flüchtlinge an. Migrationsexperten zweifeln an einem Erfolg der Behörden – und nennen eine ganz andere Ursache.

Das Mittelmeer liegt ruhig in diesen Sommertagen, es gibt kaum Wellen zwischen der libyschen Küste und Italien. Die Wetterlage ist stabil. Normalerweise müssten jetzt täglich überfüllte Gummiboote mit Migranten ablegen – aber in Italien kommen derzeit kaum Flüchtlinge an. Im Vergleich zum Vorjahr sind die Zahlen im August um knapp 90 Prozent zurückgegangen.

Während die libysche Küstenwache und die europäische Grenzschutzagentur Frontex die Zahlen vor allem als Erfolg der Behörden auf See verkaufen, sehen Experten die Gründe an der libyschen Küste selbst: Eine neue Miliz soll die Seiten gewechselt haben. Über die Gründe und die Rolle Italiens wird spekuliert.

„Wir wissen aktuell nicht, was die Gründe für den Rückgang sind“, sagt Christine Petré, Sprecherin der Internationalen Organisation für Migration (IOM) für Libyen. Aber vor allem im Juli seien die Zahlen derjenigen Flüchtlinge, die in libyschen Gewässern von der Küstenwache aufgegriffen und zurückgebracht worden seien, stark zurückgegangen. „Es muss damit zu tun haben, dass weniger Flüchtlinge von der libyschen Küste ablegen.“

Die Kleinstadt Sabratha ist einer der Hauptausgangspunkte für Flüchtlinge in Libyen. Die Stadt liegt rund 70 Kilometer westlich der Hauptstadt Tripolis in Richtung der tunesischen Grenze. Italien und Europa sind hier besonders nah. Die Kulisse eines monumentalen, antiken Theaters prägt die Küstenlinie.

„Seit einiger Zeit gibt es eine neue bewaffnete Gruppe in der Stadt, die offenbar dafür sorgt, dass die Schmuggler nicht mehr ablegen“, sagt Mattia Toaldo, Libyenexperte des European Council for Foreign Relations (ECFR), einer europäischen Denkfabrik. Es gebe Hinweise darauf, dass ein in der Region mächtiger Milizen- und Schmuggelchef die Seiten gewechselt habe, sagt Toaldo. „Vielleicht hofft er, mehr Einfluss zu bekommen, wenn er dafür sorgt, dass die Flüchtlinge nicht mehr ablegen.“

Ähnliche Entwicklungen gab es im vergangenen Jahr bereits in Sabrathas Nachbarstadt Suwara, als eine Art Bürgermiliz die Kontrolle übernahm und die Stadt so weit es ging von Menschenschmugglern befreite.

In Italien freut sich die sozialdemokratische Regierung über die aktuellen Zahlen – auch vor dem Hintergrund, dass bis spätestens im kommenden Frühjahr gewählt werden muss. Und Migration ist dabei das Topthema, das rechten und ausländerfeindlichen Parteien Zulauf bringt. „Wir sind noch in einem langen Tunnel. Aber zum ersten Mal habe ich begonnen, Licht am Ende des Tunnels zu sehen“, sagte Innenminister Marco Minniti Mitte August. Er warnte jedoch zugleich, dass das „epochale“ Migrationsphänomen nicht gelöst sei.

Der Rückgang der Flüchtlingszahlen wird auch auf das Engagement Italiens an Land zurückgeführt. Es sei sehr wichtig gewesen, auf „der anderen Seite“ des Mittelmeers zu intervenieren, sagte Minniti. „Wir haben uns auf Libyen konzentriert, es schien sehr schwierig, aber heute scheint es, als würde sich etwas bewegen.“

Unter anderem unterstützt Italien libysche Kommunen. Immer wieder werden in Rom Delegationen mit Bürgermeistern und lokalen Politikern aus allen Regionen Libyens empfangen. Auch Minniti war deshalb schon in Libyen. Den Kommunen soll mehr finanzielle Hilfe zukommen. Man wolle vor dem Hintergrund von Schlepperei Alternativen für Wachstum und Entwicklung bieten, hieß es jetzt in einer Erklärung.

Vor einigen Tagen berichtete der Gemeinderat der Küstenstadt Sabratha stolz über neue Hilfslieferungen aus Italien. Ein C-130-Transporter der Luftwaffe stand mit geöffneter Ladeluke auf einem Flugfeld in Libyen, davor Vertreter des Gemeinderates. In der Ladeluke stapelten sich Kartons, in denen Medikamente für das Krankenhaus sein sollen. Auch der Fernsehsender der Nachbarstadt Suwara berichtete vor einigen Tagen über neue Hilfslieferungen aus Italien.

„Das ist schon länger die Strategie Italiens, die Kommunen dadurch zu unterstützen“, sagt Libyen-Experte Mattia Toaldo vom ECFR. „Traditionell hat Italien gute Geheimdienstnetzwerke in Libyen mit guten Kontakten zu Bürgermeistern.“ Wenn das bedeute, dass weniger Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, halte er diese Strategie für sinnvoll. „Die Frage ist aber, was mit den Schmugglern passiert und ob sie nicht – wie schon einmal – andere Startpunkte suchen.“

Die Entwicklung bedeutet aber auch, dass die Migranten im Chaos des Bürgerkriegslandes und in teils unmenschlichen Zuständen festsitzen. Zwei Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen (UN) schlugen angesichts der Entwicklungen kürzlich Alarm: „Die Lösung kann nicht sein, den Zugang zu internationalen Gewässern zu verhindern“, kritisierten Felipe González Morales und Nils Melzer in einem Bericht. Die beiden Sonderberichterstatter drückten ihre Sorgen aus, dass die EU versuche, die europäischen Grenzen nach Libyen zu verlagern.

„Italien muss offenlegen, ob es Milizen unterstützt“

Ein Expertengremium des UN-Sicherheitsrats legte ebenfalls vor Kurzem einen fast 300 Seiten starken Bericht vor und zeigte darin auch die Verwicklungen zwischen Milizen, Schmugglern und der von europäischen Staaten unterstützten libyschen Küstenwache auf.

„Italien und die EU dürfen sich an Menschenrechtsverletzungen nicht mitschuldig machen“, sagt die Fraktionsvorsitzende und migrationspolitische Sprecherin der Grünen im Europäischen Parlament, Ska Keller. „Italien muss offenlegen, ob es Milizen unterstützt, die das Auslaufen von Flüchtlingsbooten verhindern, und ob EU-Gelder dabei im Spiel sind.“

Angesichts des Chaos in Libyen und Hunderter rivalisierender Milizen fragen sich sowohl Experten als auch EU-Institutionen, wie lange die Überfahrten Richtung Europa noch auf solch einem niedrigen Stand bleiben.

Kommentare geschlossen.