15. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Italiens Plan geht (vorerst) auf: Libyen fängt Grossteil der Migranten ab“ · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: ,

NZZ | 15.08.2017

Die libysche Küstenwache dehnt ihren Einflussbereich auf 70 Seemeilen aus. Drei NGO stellen ihre Aktivitäten auf dem Mittelmeer derweil ein.

von Andrea Spalinger, Rom

Im Innenministerium in Rom verfolgt man mit Genugtuung, wie die libysche Küstenwache immer mehr Boote abfängt und kaum mehr Migranten nach Italien gebracht werden. Bereits im Juli war mit 11 459 Ankömmlingen ein klarer Rückgang zu verzeichnen (im Vorjahr waren es doppelt so viele gewesen). Im August sind erst 1717 Migranten an Land gegangen. Bisher waren es in diesem Jahr 96 930 – vier Prozent weniger als im selben Zeitraum 2016. Hält der Trend an, dürfte die Zahl der Migranten, die von Libyen nach Europa kommen, 2017 stark zurückgehen.

NGO ziehen sich zurück

Der harte Kurs von Innenminister Marco Minniti zahle sich aus, frohlocken Regierungsvertreter. Der Aussenminister brachte die Hoffnung in einem Interview mit «La Stampa» auf den Punkt. Man habe auf dem Mittelmeer endlich wieder ein Gleichgewicht gefunden, sagte Angelino Alfano. Vor zwei Wochen hatte das Kabinett grünes Licht für einen Marineeinsatz vor der libyschen Küste gegeben. Die Italiener unterstützen die Libyer seither aktiv dabei, die Migranten zu stoppen und in das nordafrikanische Land zurückzubringen.

Die acht privaten Organisationen, die im letzten Jahr rund 40 Prozent der Bootsflüchtlinge ausserhalb der 12-Meilen-Zone gerettet hatten, wurden zurückgepfiffen und mussten einen Verhaltenskodex unterschreiben, wenn sie weiter Migranten in italienische Häfen bringen wollten. Selbst jene fünf Organisationen, die dies taten, werden momentan allerdings von der sogenannten Such- und Rettungszone ferngehalten.

Ein Boot der spanischen NGO Proactiva Open Arms wurde letzte Woche gar von der libyschen Küstenwache mit Schüssen vertrieben. Die Retter befanden sich zwar ausserhalb der 12-Meilen-Zone und damit nicht in libyschen Hoheitsgewässern. Die Libyer erklärten nach dem Vorfall jedoch, sie hätten ihr Einsatzgebiet auf 70 Seemeilen ausgedehnt. Ohne eine ausdrückliche Bewilligung der Küstenwache dürften Rettungsschiffe in diese Gewässer nicht mehr eindringen. Jede Verletzung libyscher Souveränität werde schwere Konsequenzen nach sich ziehen, mahnten sie.

Médecins sans Frontières, Save the Children und die deutsche Organisation Sea Eye haben am Wochenende entschieden, ihre Aktivitäten auf dem Mittelmeer vorübergehend einzustellen. Filippo Ungaro von Save the Children sagte, der Einsatz sei wegen libyscher Aggressionen zu gefährlich geworden. Ausserdem seien so weit von der Küste entfernt sowieso kaum mehr Rettungsaktionen möglich.

Humanitäre Bedenken

Die libysche Küstenwache untersteht der Einheitsregierung von Fayez al-Sarraj, die nur ein kleines Gebiet rund um Tripolis kontrolliert. Bisher sind die meisten Flüchtlingsboote westlich und östlich von Tripolis in See gestochen. Dies dürfte sich laut Experten aber schnell ändern, wenn die Route «dicht» ist. 2017 sind schon über 2200 Migranten ertrunken, und es werden neue Tragödien befürchtet, wenn Boote aus anderen Küstenregionen kommen und keine Helfer vor Ort sind. Laut Minniti würden in diesem Fall Schiffe der EU-Missionen «Triton» und «Sofia» einspringen. Diese haben sich bisher aber weit weg von der heiklen Zone aufgehalten.

Noch grössere Sorgen bereitet Aktivisten, dass man Migranten in ein Land zurückschickt, in dem Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Männer, Frauen und Kinder würden in Libyen in Internierungslager gesteckt, in denen systematisch gefoltert und vergewaltigt werde, sagen sie warnend. Amnesty International hat im Juli einen Bericht veröffentlicht, in dem die schockierenden Bedingungen in Libyens Gefängnissen angeprangert werden. Die Migranten würden dort mit Zwangsarbeit ausgebeutet, verkauft und schwer misshandelt, heisst es. Es sei deshalb inakzeptabel, jemand nach Libyen zurückzuschicken.

Auch Oppositionspolitiker kritisieren Minnitis «inhumane» Lösung, und selbst innerhalb der Regierung gibt es warnende Stimmen. Mario Giro, Staatssekretär im Aussenministerium, hat in einem Interview beklagt, dass diese Menschen in die Hölle zurückgeschickt würden. Der für die Häfen zuständige Verkehrsminister, Graziano Delrio, wiederum hat die Politik der harten Hand gegenüber den NGO scharf verurteilt.

Ministerpräsident Paolo Gentiloni hat seinem Innenminister bisher jedoch den Rücken gestärkt, und der neue italienische Ansatz wird auch von Brüssel und Berlin gutgeheissen. Zu verlockend ist die Aussicht, das Problem auf diese Weise abschieben zu können – wie man es einst auf der Balkan-Route mit dem Abkommen mit der Türkei tat.

Um die humanitären Bedenken zu dämpfen, versucht die Regierung die Uno einzubeziehen. Das Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) oder andere Organisation könnten die Situation in Libyen überwachen, schlug Alfano vor. Angesichts der prekären Sicherheitslage scheint ein solches Engagement derzeit jedoch unmöglich. Sarraj kontrolliert nur einen winzigen Teil des Landes. Sein Gegenspieler Khalifa Haftar, der den Osten beherrscht, hat der italienischen Marine-Mission hingegen bereits mit Angriffen gedroht, und es gibt zahlreiche andere Milizenführer, die kein Interesse am Versiegen des einträglichen Schleppergeschäfts haben.

 

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