14. August 2017 · Kommentare deaktiviert für „Nicht wir handeln illegal, sondern die libysche Regierung“ · Kategorien: Libyen · Tags: , ,

Welt | 14.08.2017

Die Organisation Ärzte ohne Grenzen beschuldigt die Regierung in Libyen, illegal gegen Seenotretter vorzugehen.

Von Adrian Arab, Philip Kuhn

Libyens Regierung handele illegal, wenn sie Rettungsaktionen in internationalen Gewässern mit Gewalt verhindern wolle.

Deutschlandchef Westerbarkey fürchtet, dass „mehr Menschen im Mittelmeer sterben, weil es weniger Schiffe vor Ort gibt“.

DIE WELT: Herr Westerbarkey, Ihre Organisation hat am Wochenende angekündigt, vorerst keine Rettungseinsätze mehr mit dem Schiff „Prudence“ im Mittelmeer zu fahren. Was ist geschehen?

Volker Westerbarkey: Am Freitag haben die libyschen Behörden die Einrichtung einer Such- und Rettungszone angekündigt und damit den Zugang für Schiffe von Hilfsorganisationen zu internationalen Gewässern vor der libyschen Küste eingeschränkt.

Unmittelbar danach warnte uns die Leitstelle für Seenotrettung in Rom (MRCC) vor den damit verbundenen Sicherheitsrisiken. Nach diesen zusätzlichen Beschränkungen und der zunehmenden Blockade von Geflüchteten in Libyen haben wir die Such- und Rettungshilfe unseres Schiffes „Prudence“ vorübergehend ausgesetzt.

DIE WELT: Worin liegt das Problem?

Westerbarkey: Wenn sich diese Erklärungen der libyschen Behörden bestätigten und die Anordnungen umgesetzt werden, sehen wir zwei gravierende Konsequenzen: Es werden mehr Menschen im Mittelmeer sterben, weil es weniger Schiffe vor Ort gibt, und es werden mehr Menschen in Libyen inhaftiert bleiben. Diejenigen, die nicht im Mittelmeer ertrinken, werden abgefangen und nach Libyen zurückgebracht.

Wir sehen bei unserer Arbeit in Libyen, dass es ein Ort der Gesetzlosigkeit, willkürlichen Inhaftierung und extremen Gewalt ist. Wir retten im Rahmen des geltenden Seenotrechts Menschen aus dem Wasser, die vor grausamen Zuständen in libyschen Internierungslagern fliehen. Nicht wir handeln illegal, sondern die libysche Regierung, wenn sie unseren Mitarbeitern droht, legale Rettungsaktionen in internationalen Gewässern mit Gewalt zu verhindern.

DIE WELT: Immer mehr Organisationen stimmen dem Verhaltenskodex zu, den die italienische Küstenwache zur Grundlage von Einsätzen auf dem Mittelmeer aufgesetzt hat. Der Kodex sieht unter anderem vor, dass bewaffnete Polizisten an Bord der Retter kommen dürfen. Sie haben nicht zugestimmt. Warum?

Westerbarkey: Der Kodex erwähnt vieles, was ohnehin rechtlich geregelt ist. Das ist in Ordnung – aber nicht die zusätzlichen Beschränkungen, die uns der Kodex auferlegen will. Damit möchte man offenbar die Kapazitäten der NGOs für die Rettung von Flüchtlingen begrenzen. Würden wir den Kodex unterschreiben, dürften wir zum Beispiel keine Flüchtlinge von kleineren auf größere Boote übergeben, obwohl das Seenotrecht genau das vorsieht.

Dass wir uns von bewaffneten Polizisten auf unseren eigenen Schiffen kontrollieren lassen müssen, verletzt ein Hauptprinzip der humanitären Hilfe – nämlich ohne Waffengewalt arbeiten zu können.

DIE WELT: Das klingt so, als sei Ihr Verhältnis zu den italienischen Behörden schlecht.

Westerbarkey: Wir sind uns in der Frage des Verhaltenskodex uneinig. Wir erkennen die großartige Arbeit an, die Italien geleistet hat und verstehen, dass sie frustriert sind. Die Zusammenarbeit mit den Behörden funktioniert. Auf politischer Ebene ist das natürlich komplizierter. Ein Staat alleine kann nicht die gesamte Last der Flüchtlingsversorgung leisten

Bezüglich der Berichte, dass es Ermittlungen gegen Ärzte ohne Grenzen gäbe: Der entsprechende Staatsanwalt hat uns nicht über entsprechende Ermittlungen informiert, obwohl wir den Kontakt suchen.

DIE WELT: Ein gängiger Vorwurf gegen Sie lautet, dass Sie das Geschäft der Schlepper unterstützen, wenn Sie Flüchtlinge über das Mittelmeer schleusen. Darf man Schleppern helfen, wenn es um Leben und Tod geht?

Westerbarkey: Ich schließe definitiv aus, dass unsere Mitarbeiter Kontakte zu Menschenschleppern in Libyen haben. Diese Anschuldigungen sind haltlos und sollen die Seenotrettung in Verruf bringen. Wenn ein Schlauchboot mit 100 Menschen untergeht, denke ich als Mensch und Arzt nur darüber nach, wie ich die Menschenleben rette. Alles andere ist in dem Moment nebensächlich. Sollten wir das Prinzip infrage stellen, würden wir unsere Werte aufs Spiel setzen.

DIE WELT: Wissen Sie eigentlich, was mit den Flüchtlingen geschieht, die nach Libyen zurückgeschickt werden?

Westerbarkey: Wir haben Zugang zu zehn Internierungslagern in Libyen. Wir reden dort mit den Menschen und wir sehen, dass es sich um schreckliche Lager handelt. Die Zustände sind unhaltbar. Viele Flüchtlinge sagen uns, dass sie es schon zwei Mal über das Mittelmeer versucht haben und nun wieder dort gelandet sind. In anderen Lagern, in denen wir keinen Zugang haben, herrschen laut Berichten, von denen wir hören, sklavenähnliche Zustände.

DIE WELT: In den nächsten Jahren wird das Problem der Migration noch zunehmen, davon gehen Experten aus. Was macht man mit den vielen Menschen, die aus Afrika zu uns kommen und sich zum Beispiel in Deutschland ein besseres Leben versprechen?

Westerbarkey: Wir wissen natürlich, dass viele Menschen aus ihren Heimatländern nicht nur vor Gewalt und Krieg fliehen. Spätestens wenn sie dann in Libyen sind, gibt es reale Fluchtgründe, weil die Lage dort unerträglich ist. Grundsätzlich gilt: Wir müssen nicht in die Zukunft schauen, es reicht der Blick in die Gegenwart. Weltweit gibt es eine riesige Anzahl an Flüchtlingen.

Die meisten davon wollen nicht nach Europa; es handelt sich um Menschen, die innerhalb Afrikas flüchten. Uganda hat 2016 mehr Flüchtlinge aufgenommen als die ganze EU. Wenn wir in Europa denken, dass wir eine große Katastrophe erleben, ignorieren wir die Realität in solchen Ländern.

DIE WELT: Auf welche Länder sollten wir noch schauen, wenn wir über große Flüchtlingskrisen reden?

Westerbarkey: Wir sollten zum Beispiel Eritrea im Blick haben. Es handelt sich um ein autokratisch regiertes Land, in dem die Menschen zur Armee zwangsverpflichtet werden und kein freies Leben führen können. Wir wissen von eritreischen Frauen, die sich vor Beginn der Flucht eine dreimonatige Verhütungsspritze geben lassen, weil sie davon ausgehen, auf der Flucht vergewaltigt zu werden.

Wer sich angesichts solcher Umstände auf die Flucht wagt, tut das nicht nur, um wirtschaftlich besser dazustehen. Wir sprechen auch zu wenig über die Situation im Südsudan. Dort gibt es über eine Million Flüchtlinge. Für diese Menschen kommt es gar nicht in Betracht, nach Europa zu fliehen, weil ihnen dazu die finanziellen Mittel fehlen. Die Menschen fliehen dann innerhalb des Landes oder maximal nach Äthiopien.

DIE WELT: Ist Ihre Arbeit in den letzten Jahren gefährlicher geworden?

Westerbarkey: Das kann man sagen. Eine unsere Kliniken in Afghanistan wurde in Schutt und Asche gelegt. Dabei kamen Dutzende Menschen ums Leben. Unsere Einrichtungen werden angegriffen, egal ob in Syrien oder Afghanistan.

Das ist eine unsere größten Herausforderungen. Früher dachte man, dass wenigstens Menschen in Krankenhäusern sicher sind, so wie es das Völkerrecht ja auch regelt. Aber diese Abkommen sind kaum noch das Papier wert, auf dem sie stehen.

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