02. August 2017 · Kommentare deaktiviert für Gutachten Seenotrettung: Völkerrecht statt „Verhaltenskodex“ · Kategorien: Deutschland, Italien, Libyen · Tags: ,

Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag zur Seenotrettung im Mittelmeer | 02.08.2017

Gutachten belegt: Völkerrecht steht über aufgezwungenem „Verhaltenskodex“ für Rettungsmissionen

„Der italienische ‚Verhaltenskodex‘ für Rettungsmissionen im Mittelmeer ist eine politische Kampfansage, juristisch ist er aber bedeutungslos. Denn immer noch gilt das unverbrüchliche Völkerrecht. In den meisten Fällen können Geflüchtete auf den Rettungsschiffen nicht medizinisch behandelt werden. Dann greift beispielsweise das Nothafenrecht“, kommentiert der europapolitische Sprecher der Linksfraktion anlässlich eines Gutachtens des Wissenschaftlichen Dienstes im Bundestag zur Seenotrettung im Mittelmeer.

Italien drängt Rettungsmissionen im Mittelmeer zum Unterschreiben eines „Verhaltenskodex“. Geflüchtete dürften nicht mehr an größere Schiffe übergeben, sondern müssten in Häfen nach Italien gebracht werden. Dort sollen die HelferInnen Befragungen der Behörden erdulden. Schließlich zwingt der „Verhaltenskodex“ auch zur Einwilligung, die Polizei mitfahren zu lassen.

Andrej Hunko weiter:

„Wenn der Vertrag nicht unterschrieben wird, entsteht auch keine rechtliche Bindung. Es gelten wie üblich das Völkerrecht, die SAR-Konvention und das UN-Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See. Ich befürchte, dass sowohl Italien als auch die Europäische Union trotzdem weiter an der Gängelung der Retter arbeiten. Soweit bekannt, haben die Europäische Kommission und die Grenzagentur Frontex den ‚Verhaltenskodex‘ anerkannt. Wir müssen deshalb mit allen Mitteln verhindern, dass die dort enthaltenen Forderungen in Ratsschlussfolgerungen münden.

Ich freue mich, dass die meisten Nichtregierungsorganisationen ihre Unterschrift verweigern. Allerdings ist es auch bedauerlich, dass der „Verhaltenskodex“ für eine Spaltung der Organisationen führt. Vielleicht war dies auch beabsichtigt.

Die Spannungen auf dem Mittelmeer verschärfen sich, weil eine ultrarechte Studentengruppe mit einem eigenen Schiff die Rettungsmissionen behindern will. Die Gruppe droht, Geflüchtete an Bord zu nehmen und nach Libyen zu bringen. Dies würde gegen das Zurückweisungsverbot von Schutzsuchenden (Non-refoulment) verstoßen.

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Osnabrücker Zeitung | 03.08.2017

Rettung von Bootsflüchtlingen: Bundestags-Gutachten stärkt Hilfsorganisationen den Rücken

Osnabrück. Mehr als 40 Prozent der geretteten Bootsflüchtlinge im Mittelmeer werden von privaten Hilfsorganisationen aufgenommen und meist in italienische Häfen gebracht. Italien will die Helfer kontrollieren und verlangt, dass Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen einen Verhaltenskodex unterzeichnen – sonst werde ihnen die Einfahrt in den Hafen verweigert. Die wissenschaftlichen Dienste des Bundestags halten das für völkerrechtswidrig.

Der Versuch Italiens, Hilfsorganisationen bei der Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer zu behindern, läuft juristisch ins Leere und verstößt gegen Völkerrecht. Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages, das unserer Redaktion vorliegt. Darin unterstreicht der Dienst die völkerrechtliche Pflicht der EU-Staaten, bei der Rettung von Menschen aus Seenot zusammenzuarbeiten und auch Hilfe leistenden zivilen Schiffen einen Nothafen anzubieten. Der italienische Staat hat damit gedroht, privaten Seenotrettern den Zugang zum Hafen zu verweigern, wenn sie einen umstrittenen Verhaltenskodex nicht unterzeichnen.

Verbot widerspricht Völkerrecht

Der Wissenschaftliche Dienst schreibt, die EU-Mitgliedstaaten hätten zwar einen Ermessensspielraum, aber dieser dürfe nicht dazu führen, dass „die Koordinierung [von Rettungsaktionen] blockiert wird oder aus anderem Grund ins Leere läuft“, heißt es in dem Papier.

Die Dienste kommen zu dem Ergebnis, dass das im Kodex vorgesehene Verbot, Flüchtlinge auf größere Schiffe wie Frachter oder Containerschiffe zu übergeben, internationalen Abkommen widerspricht. Jeder Staat müsse dafür sorgen, dass der Kapitän des Hilfe leistenden Schiffes so schnell wie möglich die Geretteten absetzen und „seinen ursprünglichen Kurs ohne größere Umwege wideraufnehmen kann“, heißt es in dem Papier.

Der Kodex, den die meisten Hilfsorganisationen nicht unterzeichnen wollen, ist zudem nicht rechtsverbindlich, betont das Gutachten.

Nach Schätzungen werden derzeit mehr als 40 Prozent der geretteten Bootsflüchtlinge im Mittelmeer von privaten Hilfsorganisationen aufgenommen.

Linke kritisieren „EU-Abschottungswahn“

Die innenpolitische Sprecherin der Linken im Bundestag, Ulla Jelpke, kritisierte Italien und nannte den Verhaltenskodex einen „völkerrechtswidrigen Knebelvertrag“. Jelpke sagte: „Es geht offensichtlich nur darum, mutige Aktivisten beim Retten von Schutzsuchenden zu behindern. Menschenleben werden hier eiskalt dem EU-Abschottungswahn geopfert.“ Die EU nehme nicht nur „Völkerrechtsbrüche, sondern auch Tote in Kauf. Die Linken-Abgeordnete forderte von den EU-Staaten, Menschen in Not sichere Fluchtwege zu eröffnen.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen hat massive Bedenken am Vorgehen der EU-Partner in der Migrationskrise geäußert. Der Verhaltenskodex schränke die ohnehin unzureichenden Hilfskapazitäten auf dem Mittelmeer weiter ein und könne im schlimmsten Fall dazu führen, dass mehr Menschen ertrinken, teilte die Organisation mit. […]

 

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