03. Juni 2017 · Kommentare deaktiviert für 20 Jahre „kein mensch ist illegal“ · Kategorien: Deutschland · Tags:

20 Jahre kein mensch ist illegal – Mehr als eine kleine Erfolgsgeschichte

Es war eine Wagnis in der Defensive, denn die Ausgangslage war 1997 mehr als prekär. Die massive Aushöhlung des Asylrechts von 1993 wirkte nach, die Zahl der neuen Asylantragstellungen sank beständig, die Abschiebezahlen waren bleibend hoch. Die Kriminalisierung der Illegalisierten sowie potentieller „FluchthelferInnen“ wurde ausgeweitet, und medial als auch in den sozialen Bewegungen war das Thema der undokumentierten Migration eher ein marginales. Zudem war der Ansatz einer autonomen antirassistischen Vernetzung, die sich Anfang der 90er Jahre entwickelt hatte, in Auflösung begriffen. Dennoch verabredeten sich einige unentwegt Aktive aus München, Hamburg und Berlin, aus Köln, Göttingen und Rhein-Main für Juni 1997, um den offensiven Schritt zu wagen. Nicht zufällig fiel die Wahl auf Kassel, denn „Cross the Border“, die damals aktive Gruppe aus München, hatte für mehrere Tage Räumlichkeiten innerhalb der Documenta X aufgetan.

Im sogenannten „Hybrid Space“ wurde eine temporäre Schnittstelle zwischen Kunst und Aktivismus eingerichtet, in dem – in dieser Zeit noch avantgardistisch – auch bereits Online zentrale Fragen zu Flucht und Migration offensiv thematisiert wurden: die Kämpfe der Sans Papiers in Paris und die Unterstützung von Selbstorganisationen, die Debatte um die „Autonomie der Migration“, die Notwendigkeit der medizinischen Versorgung für Illegalisierte wie auch weiterer „Projekte der Fluchthilfe“. In diesem inhaltlich-praktischen Rahmen entstand dann noch in Kassel der Aufruf „kein mensch ist illegal“, unterzeichnet von zunächst 30 und späterhin von bis zu 200 Gruppen und Organisationen aus dem antirassistischen, kirchlichen und gewerkschaftlichen Spektrum.

In den Monaten nach der Documenta folgten eine Reihe von lokalen Veranstaltungen und Pressekonferenzen, eine erste achtseitige TAZ- Beilage sowie eine Großanzeige in der Frankfurter Rundschau. Viel Energie wurde in die Erstellung des Logo gesteckt, doch niemand konnte sich zu dieser Zeit vorstellen, dass es einmal so großen Zuspruch gewinnen und in allen möglichen Übersetzungen quasi „um die Welt“ gehen würde. 1997 blieb „kein mensch ist illegal“ (kmii) zunächst nicht mehr als eine bundesweite „Initiative“. Doch das änderte sich schnell. Nach einem Jahr formulierten kmii-Aktive in einer ersten Bilanz: „Die Kampagne weitet sich aus, sehr ungleichzeitig und unterschiedlich zwar, mit Brüchen, Lücken und weißen Flecken – aber: im Ziel gegenseitiger Stärkung, der Bündelung bestehender und dem Aufbau neuer Initiativen ist kein mensch ist illegal erfolgreicher, als es selbst OptimistInnen vor einem Jahr zu hoffen wagten.“

1998 waren es dann kmii-AktivistInnen, die die Vorbereitung eines ersten „Grenzcamps“ (später dann „Noborder-Camp“) in Görlitz vorantrieben und die 1999 die „Deportation-Class“-Kampagne gegen die Abschiebungen mit Lufthansa starteten. kmii verbreitete sich in und durch diese praktischen Kampagnen, doch gleichzeitig bot es einen gemeinsamen Rahmen, in dem an vielen Orten konkrete Alltagsstrukturen zur Unterstützung der Illegalisierten aufgebaut und vernetzt wurden: in Beratungsstellen, in lokalen Bleiberechtskämpfen oder auch mit der Gründung der ersten Medi-Büros (medizinischen Beratungsstellen).

Besondere öffentliche Aufmerksamkeit erlangte das Wanderkirchenasyl in Köln, in dem kurdische Flüchtlinge, Kirchenaktive und kmii zusammenwirkten. „Die Flankierung der Selbstorganisierung“ war bereits mit dem offensiven Bezug auf die Sans Papiers in die Kampagne eingeschrieben und im Herbst 1998 ergab sich dafür eine weitere Gelegenheit. Denn die im gleichen Frühjahr entstandene „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen“ startete eine Bustour durch 40 Städte. „Wir haben keine Wahl aber eine Stimme“ lautete ihr Slogan zur anstehenden Bundestagswahl und lokale kmii-Gruppen boten vielerorts Unterstützung für diesen Ansatz.

Gleichzeitig spielten kmii-Aktive bei der Gründung des Noborder Netzwerks 1998 in Amsterdam eine Schlüsselrolle. Vor dem Hintergrund eines seit den 90er Jahren zunehmend europäisierten Grenzregime war die transnationale Zusammenarbeit von Beginn an ein Schwerpunkt bei kmii. Wie die „Deportation-Class“- Kampagne gegen Lufthansa die beispielhaften Imageverschmutzungsaktionen von niederländischen Gruppen gegen die Abschiebungen mit KLM aufgriff, so wurden die ersten Grenzcamps an der deutsch-polnischen Grenze zur Blaupause für unzählige Noborder Camps der kommenden Jahre quer durch Europa, von der polnisch-ukrainischen Grenze in 2000 über Lesvos in 2009 bis nach Thessaloniki in 2016…

Zurück in die Zukunft

Wie schon 2016 steht auch das Jahr 2017 weiter unter dem Vorzeichen des rassistischen Roll Backs: das Massensterben im Mittelmeer geht weiter, während zivile Seenotrettung denunziert und kriminalisiert wird. Dublin-Abschiebungen zurück nach Italien und quer durch Europa sind Alltag und sollen sogar wieder nach Griechenland aufgenommen werden. Mehrere Abschiebecharter starteten in den letzten Monaten aus Frankfurt und München Richtung Kabul, während das nächste Gesetz zur „besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ abgesegnet wurde.

Doch wie wir aus den letzten 25 Jahren des Kampfes um Asylrecht und Bewegungsfreiheit wissen: in den 90er Jahren waren rassistische Stimmungsmache und Angriffe in Deutschland noch krasser, Abschiebungen endeten bisweilen tödlich und massenhafte Abschiebehaft erschien als Normalzustand. 2008 fiel die Zahl derer, denen es überhaupt gelang, in Deutschland Asyl zu beantragen, unter 30.000 und bis Ende 2010 waren Dublin-Abschiebungen nach Griechenland an der Tagesordnung.

Aus einer migrationspolitischen Perspektive und in einem längerfristigen Rückblick mögen die Jahre 2011 bis 2015 für eine Phase des Aufbruchs stehen. Der arabische Frühling bereitete der Vorverlagerung der Abschottung in Nordafrika ein vorläufiges Ende. Es kam auch in Germany zu einer ganzen Reihe politisch-medialer Erfolgsmomente der Fluchtbewegungen – wie beispielsweise gegen die Residenzpflicht und mit dem Marsch von Würzburg nach Berlin, zu einigen wichtigen juristischen Verbesserungen – wie z.B. für Sozialleistungen entsprechend ALG II und die weitgehende Niederringung der Abschiebehaft, bis dann zum sensationellen Durchbruch auf der Balkanroute im September 2015. Dort wurde das EU-Grenzregime für einige Monate regelrecht überrannt und damit herausgefordert wie nie zuvor – der (vorläufige) Höhepunkt im Kampf um Bewegungsfreiheit.

Beachtlichen Niederschlag findet das bis heute in den amtlichen Statistiken. Über 430.000 Geflüchtete – die Mehrheit von ihnen war 2015 angekommen – haben sich in 2016 in Deutschland einen Aufenthaltsstatus erkämpft. Das übertrifft alle Zahlen der letzten 30 Jahre bei weitem und sollte auch in seiner perspektivischen Wirkung nicht unterschätzt werden. Mit diesem Schub hat sich die Fluchtmigration in neuer Dimension in den hiesigen sozialen Realitäten verankert. Und der Bleiberechtskampf tobt weiter, Zehntausende werden sich Rückschiebungen in andere EU-Länder oder die Abschiebung in ihre Herkunftsländer nicht gefallen lassen.

Daran können und müssen wir anknüpfen, auch wenn rassistische Gesetze und Hetze weiter auf dem Vormarsch erscheinen. Denn im Lokalen und Alltäglichen hat sich in den letzten drei Jahren das Netz von Selbstorganisierungs- und Unterstützungsinitiativen weiter verstetigt. Vielfältige Projekte gegen Abschiebungen und gegen soziale Ausgrenzung behaupten sich gegen die rassistische repressive Politik und die rechtspopulistische mediale Dominanz. Doch es fehlt bislang an einer entsprechenden überregionalen Sichtbarkeit und einer gemeinsamen öffentlichen politischen Artikulation. Und in diesem Kontext erhält eine aktuelle Mobilisierung ihre besondere Bedeutung.

„Get Together“, ein noch junges bundesweites Netzwerk der Antirassistischen Bewegung, hat eine groß angelegte Mobilisierung für September 2017 gestartet. Am 2.9. soll es mit vielen dezentralen Aktionen beginnen, die an den historischen Durchbruch gegen das Grenzregime zwei Jahre zuvor in Ungarn erinnern. Der March of Hope und das Refugee Welcome von 2015 werden zum offensiven Bezugspunkt, um Initiativen und Kämpfe entsprechend der lokalen Bedingungen für zwei Wochen in die Öffentlichkeit zu tragen und transnational zu verbinden. Im Anschluss, am 16.9. und damit eine Woche vor den Bundestagswahlen, soll Berlin zum zentralen Bündelungspunkt einer bundesweiten Mobilisierung werden. „We`ll Come United“ lautet der Slogan für die geplante Mischung aus Aktionstagen und und einer abschließenden Parade mit politischem Community Carneval in der Hauptstadt.

Flucht und Migration sind und bleiben absehbar ein zentrales gesellschaftliches Thema, an dem sich die gesellschaftliche Polarisierung aller Voraussicht nach weiter zuspitzen wird. Die hiesige AntiRa-Bewegung – gedacht in ihrer ganzen Breite von den Selbstorganisationen der Geflüchteten und Communities bis zu den beständigen Willkommensinitiativen, von Flüchtlingsräten bis zu Noborder-Gruppen – hat das Potential, in dieser Auseinandersetzung einen progressiven Pol auszubilden und zu einer gesellschaftlichen Mobilisierung für ein anderes, offenes Europa entscheidend beizutragen.

Für diese Entwicklungen und Dynamiken hatte kein mensch ist illegal vor 20 Jahren einen Grundstein gelegt und – auch wenn sich die Initiative als eigenständige Struktur in den 2000ern in neue Netzwerke auflöste – über die AntiRa-Bewegung hinaus zentrale Impulse gegeben. Von den Außengrenzen bis zu den Innenstädten, von der Seenotrettung bis zur Solidarischen Stadt – auf allen Ebenen haben sich beständige Kampagnen und Alltagsprojekte entwickelt, in denen sich der so einfache und gleichzeitig radikale Slogan wiederspiegelt und lebendig bleibt.

h., kein mensch ist illegal, Hanau (aktualisierte Version vom 4.6.2017)

Lesehinweise:
kein mensch ist illegal, Handbuch zu einer Kampagne (ID-Verlag 1999)
Ohne Papiere in Europa (Schwarze Risse 2000)

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