13. Mai 2017 · Kommentare deaktiviert für Merkel und der Sommer der Migrationen · Kategorien: Lesetipps · Tags: , , ,

Lesehinweis:

Robin Alexander, Die Getriebenen. Merkel und die Flüchtlingspolitik: Report aus dem Innern der Macht, Siedler 2017

Die These von der „Autonomie der Migrationen“ erscheint in vielen Publikationen als Postulat, zugleich als Ausgangspunkt für durchaus interessante Untersuchungen über das Verhältnis von Migration und Grenzregime. Wir selbst haben versucht, die soziale Dynamik der Arabellion, wie Asef Bayat sie beschrieben hat, heran zu ziehen, um die Selbstorganisation der Migrant*innen im Sommer der Migrationen im Jahre 2015 auf der „Balkanroute“ besser verstehen zu lernen.

Das hier vorgestellte Buch kommt von einer ganz anderen Seite: ein Journalist der „Welt“, mit intimen Kontakten zu den Statthaltern der Macht und mit den Routinen der politischen Klasse vertraut, berichtet über den „Sommer der Migrationen“ aus der Sicht der „Entscheidungsträger“. Alexander möchte darstellen, „unter welchen Umständen und in welchen Zwängen die politisch Verantwortlichen handeln“ (S.8). Dass Alexander sich selbst zu den Gegnern der Grenzöffnung rechnet und das auch immer wieder durchklingen lässt, tut dem Informationswert seines Buchs keinen Abbruch. Dieses Buch gibt Anlass, die Hypothesen, die unserer Darstellung jenes Sommers bei Moving Europe zugrunde lagen, zu überprüfen und der These der „Autonomie“ eine weitere Facette hinzu zu fügen.

Alexander beginnt seine Darstellung nicht mit dem 4. September, sondern eine Woche später: am Tag der geplanten Schließung der österreichisch-deutschen Grenze für alle Menschen ohne gültige Papiere, „auch im Falle eines Asylgesuchs“. Am 12. September wurden 21 Hundertschaften der Bundespolizei in mehreren Wellen an die Grenze verlegt, der Einsatzbefehl war geschrieben, De Maizière hätte ihn nur noch abzeichnen müssen. Aber die Diskussion im Lagezentrum des Innenministeriums geriet ins Stocken: aufgrund juristischer Einwände – vor allem aber, weil sich zwischen De Maizière, Merkel und Gabriel ein Versteckspiel entwickelte. Die Grenzöffnung hatte Sympathiewellen ausgelöst, die Zurückweisung würde unschöne Bilder produzieren und bis sich der zu erwartende Dominoeffekt der Grenzschließungen bis nach Mazedonien ausgewirkt hätte, würde es vielleicht 3 Tage dauern. Zehntausende Migrant*innen würden sich an der Grenze sammeln. „Halten wir die Bilder aus?“ und „Was geschieht, wenn 500 Flüchtlinge mit Kindern auf dem Arm auf die Bundespolizisten zu laufen?“, das waren die entscheidenden Fragen (S.23). Die Bilder, wie sie später in Röszke und Idomeni Wirklichkeit wurden, wollten weder Merkel noch Gabriel mit ihrem Namen assoziiert sehen und De Maizière wollte sich nicht opfern. Die Bundespolizei stand bereit. Bundespolizeichef Romann hatte bereits seit dem Frühjahr vor den drohenden Flüchtlingsbewegungen gewarnt und hatte im Zusammenhang mit dem G7-Treffen in Elmenau eine Generalprobe der Grenzschließung durchgeführt. Die Frage allerdings, ob 2000 Beamt*innen den Ansturm von zehntausenden tatsächlich hätten aufhalten können, bleibt unbeantwortet. Wahrscheinlich wäre es zu einer diffusen Migration über die grünen Grenzen hinweg gekommen, die ohne Schießbefehl nicht hätte aufgehalten werden können. Schon in diesem Kapitel werden die Grenzen von Alexanders Schlüsselloch-Perspektive in die Hinterzimmer der Macht deutlich.

Das zweite Kapitel ist Merkels Politikstil gewidmet. Alexander beschreibt die Manöver der Selbstinszenierung und die Abhängigkeit von Umfrageergebnissen – wahrscheinlich unterschätzt er dabei aber den Einfluss der Politikberatung und die große Fähigkeit Merkels, die Gunst der Stunde abzuwarten, um fast schon epochale Veränderungen auch gegen die Stimmungen in der eigenen Partei durchzusetzen. Dass Migrant*innen das demographische Defizit ausgleichen und die Arbeitsmärkte beleben könnten, war ja schon seit den Ergebnissen der Süssmuth-Kommission aus dem Jahr 2001 Gemeingut und UNHCR hatte im Frühjahr die weit überdurchschnittliche Qualifikation der Flüchtigen aus Syrien beschrieben. Die Beschreibung der „Nacht, die Deutschland veränderte“, im 3. Kapitel, erscheint aus dieser Sicht zu sehr auf ein Ränkespiel zwischen Órban, Feymann und Merkel verkürzt zu sein – zumal ja die Schilderung der Ereignisse durch ungenannte Interview-Partner auch rechtfertigende Selbstdarstellungen enthält. Und auch wenn die Konflikte mit Òrban vielleicht richtig bewertet werden, macht sich an dieser Stelle der blinde Fleck hinsichtlich der Selbstartikulation der Migrant*innen, die im Buch allenfalls als Selfie-Produzent*inen vorkommen, nachteilig bemerktbar. Die Migrant*innen auf der Autobahn werden zur Manövriermasse für Òrbans Rachegelüste und der Aufbruch am Keleti-Bahnhof, der zu den großen Ereignissen dieses Jahrhunderts zählt, wird nicht einmal erwähnt.

Dem gegenüber erscheint die Beschreibung „Deutscher Rausch“ hinsichtlich der Willkommenskultur nicht unzutreffend. Man kann es kaum mehr glauben, wie sich Umfragen, Massenmedien und Industrieverbände gegenseitig aufschaukelten, und der Spiegel titelte „Das neue Deutschland“. Wahrscheinlich hatte Merkel wirklich Tränen in den Augen, als sie die Willkommensbilder aus München im Fernsehen sah, aber entscheidend war etwas anderes. Alexander beschreibt die Rolle der Meinungsumfragen bei Regierungsentscheidungen (S. 67 ff), und für mehr als 90% der Bevölkerung stand das Flüchtlingsthema ganz oben auf der Liste der wichtigsten Themen, mit einer breiten Mehrheit Pro Aufnahme. Mit ihrem „Wir schaffen das“ hatte Merkel bessere Umfragewerte denn je und sie entschied sich, auf dieser Welle eine Weile zu surfen. Wenn wir also nach der ungewöhnlichen Konstellation fragen, die das Sommermärchen 2015 möglich gemacht hat, so ist als erstes der Aufbruch der Migrant*innen zu nennen, deren Durchmarsch durch eine spezifische deutsch-österreichisch-ungarische Blockade begünstigt wurde, und als zweites die Willkommenskultur mit ihren medialen Rückkoppelungen, die eine Schließung der Grenzen quasi-plebizitär verhinderte. Zwei große soziale und mediale Strömungen, die Alexander nicht wirklich zum Thema macht, denn er schreibt ein Buch über Merkel, die es nicht riskieren wollte, unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Merkels hintergründige Offenheit für die Modernisierung Deutschlands mag ein drittes Element in dieser Konstellation gewesen sein.

Das 6. Kapitel beschreibt die Krise des Dublin-Systems, wobei es bereits im Mai 2015 eine Initiative der EU-Kommission für eine Verteilung der Flüchtigen nach einer Quote gab. Merkel, die über all die Jahre auf der Einhaltung der Dublin-Regeln bestanden hatte, schaltete im August, unter dem Eindruck steigender Flüchtlingszahlen, im Alleingang auf Unterstützung einer europäischen Quotenregelung um, wie sie in der EU Kommission schon vorher vorgestellt worden war. Die Kommission warb, hinter einem Schirm Merkel / Hollande, um Unterstützung auch bei den Visegrád-Staaten, und vor dem 5. September schien eine Lösung denkbar, sogar mit Unterstützung Órbans, der an einer Verteilung der in Ungarn gestrandeten 54 000 Migrant*innen Interesse hatte. Ein solches Arrangement war nach der Grenzöffnung hinfällig, der Einstieg in einen europäischen Verteilungsmechanismus erwies sich als Flop, und die Dysfunktionalität der ersten Hot Spots ist legendär. Von den zur Verteilung vorgesehenen 160 000 Menschen wurden bis Ende des Jahres 2015 nur 1500 umgesiedelt.

Relativ gut, trotz vieler Anfeindungen, funktionierte allerdings das Krisenmanagement innerhalb Deutschlands, das im 7. und 8. Kapitel beschrieben wird.. Die Abseitsstellung und Entmachtung De Maizières, der offenbar zu den Hauptquellen des Buchs gehört, wird im Detail ausgebreitet. Noch einmal wird die Symbiose von Merkel und der „Willkommenskultur“ deutlich. Die Deutschen würden Bilder wie in Calais in ihrem Land nicht ertragen, so Merkels Credo, und sie hält an dieser Linie bis zum Dirty Deal fest, freilich unter fieberhafter Vorbereitung desselben. „Was in Deutschland zu tun bleibt, ist genau betrachtet keine Flüchtlingspolitik mehr, sondern Flüchtlingsmanagement – der Zustrom wird als gegeben hingenommen und alle Energie ist darauf konzentriert, ihn effektiv zu kanalisieren. Es geht um die möglichst reibungslose Verteilung, Politik wird zum logistischen Kraftakt“. (S. 113)

Der Aufstieg Altmaiers zum Flüchtlingskoordinator, die direkte Koordination zwischen den Kanzleramtschefs in Berlin und Wien, die Effektivierung des Managements der Verteilung und „Integration“sind im 8. Kapitel beschrieben. Hier sind die Namen Hecker, Haber, Weise und mit ihm McKinsey wichtig, letztere mit einem Auftragsvolumen von bislang 15 Millionen. (S.123) „Der Staat wird zum gigantischen Logistikunternehmen“. Die nächsten 2 Kapitel widmen sich dann den Politikern Schäuble und Seehofer, aus deren Umfeld der Autor offenbar umfangreich Informationen abrufen konnte. Wir erfahren, dass Schäuble, der einen Plan zur Aufrüstung der Festung Europa in konzentrischen Kreisen der Kanzlerin schon im Sommer 2015 unterbreitet hatte, (S. 140 ff), die „schwarze Null“ im Haushalt propagandistisch aufgeben wollte, um die Willkommenskultur zu schwächen, und dass er den Grexit via „Flüchtlingsproblem“ doch noch durchsetzen wollte – gegen Merkels Widerstand. Auch Seehofer war ein Getriebener – wer sich dafür interessiert, möge das 10. Kapital lesen. In unserem Zusammenhang ist nur die „Ironie“ erwähnenswert, dass Bayern die „Flüchtlingskrise“ mit höchster Effizienz meistert und die Staatsregierung die Kommunen von ersten Tag an finanziell voll entlastet. „In der SPD-Bundestagsfraktion kursiert in dieser Zeit das Bonmot: Würde die Balkanroute in NRW enden, wären die Grenzen schon längst zu“. (S.156) Die folgenden 10 Seiten schildern die schwierige Synergie zwischen Merkel und Seehofer, und das 11. Kapitel ist den Anfeindungen und Widerständen gewidmet, die Merkel von Seiten ihrer eigenen Partei entgegenschlugen.

Die Strategie Merkels war es, auf der Welle der „Willkommenskultur“ so lange zu surfen, wie es nur ging, und dann in den Dirty Deal mit der Türkei zu flüchten: die unangenehmen Bilder wollte sie vom deutschen Publikum unbedingt fern halten und diese an die Außengrenzen verlagern. Will man es positiv interpretieren, steckte dahinter sehr wohl eine Erneuerungsstrategie für Deutschland. Natürlich war das eine Gleichung mit mehreren Unbekannten: wie würden sich die Migrationszahlen entwickeln? Wäre die Türkei in der Lage, die Ägäispassagen effektiv zu stoppen? Bereits am 7. September bot der türkische MP Davutoglu die Türkei „als Pufferzone“ an und Merkel bestätigte das Angebot. (12. Kapitel, S. 189) Schäuble hatte die Türkei bereits im Juli ins Spiel gebracht. Das 12. Kapitel beleuchtet die Beziehung Merkel – Erdogan recht ausführlich. Bereits am 16. September telefonierte sie mit Erdogan, am 8. Oktober triumphierte Erdogan in Brüssel, dann folgte Merkels „Kniefall Europas“ in Istanbul, (13. Kapitel, S.208) und im Januar 2016 schließlich folgte Altmaiers Reise nach Ankara. Der Dirty Deal war für Merkel eine Riesenblamage, aber letztlich doch ein erfolgreiches Kalkül; er wird in den folgenden Kapiteln noch ausführlich thematisiert.

Das Kapitel 14 ist der Kooperation der Bundesregierung mit Österreich gewidmet. Faymann betreibt bis Dezember „eine Jausenstation für Durchreisende“ und segelt in Merkels Windschatten. Ausführlicher wird der Aufstieg des Außenministers Kurz behandelt, Mag sein, dass die Besichtigung der griechisch-mazedonischen Grenze im August, nach dem Durchbruch von Gevgelija, eines seiner Schlüsselerlebnisse war, (S. 225) jedenfalls liefert sich Kurz von diesem Zeitpunkt an „ein Wettrennen mit der erfahrensten Politikerin Europas um die Lösung der Flüchtlingskrise: Merkel arbeitet am EU-Türkei-Abkommen, Kurz an der Schließung der Balkanroute.“ (S.226) Dabei holt er sich Unterstützung gegen Merkel erfolgreich auch bei der CSU und bei Teilen der CDU. Vor allem aber besucht er ab November wöchentlich alle Länder der Route und sondiert die Möglichkeit einer Grenzschließung mit kalkuliertem Domino-Effekt. (S.229) Die Widerstände der deutschen Regierungsspitzen, die überdies oft halbherzig erscheinen, schmelzen dahin. Das Argument, dass eine Grenzsperrung die Balkanländer destabilisieren könnte, erscheint immer mehr fragwürdig und wird von keinem der Staaten der Route gestützt. Der Frage, ob es nicht auf Ebene der Innenministerien und der Sicherheitsbehörden eine Zusammenarbeit im Sinne der österreichischem Politik gegeben hat, geht Alexander nicht weiter nach. Allein Griechenland und die Türkei sind noch die Verbündeten Merkels, (S. 231) denn beide bleiben im Kurz-Plan ausgespart. Merkel setzt auf eine Verzögerungstaktik auf europäischer Ebene, aber Kurz startet durch, mit der Westbalkan-Konferenz in Wien am 24. Februar – ohne Griechenland, ohne Deutschland und ohne die EU. Beschlossen wurde die Schließung der Grenze für die Non-SIA-Migrant*innen, ab sofort, vorbereitet durch eine Konferenz der Polizeibehörden eine Woche zuvor. Bis zum 9. März, dem Tag der vollständigen Schließung der Route, sind es nur noch 2 Wochen.

Wer jetzt noch Lust hat, kann sich im 15. Kapital über Merkels NATO-Streitmacht in der Ägäis informieren und im 16. Kapitel über Idomeni. Letztlich setzt Merkel den Schmutzigen Deal in Szene und rettet ihre Haut. Alexander bemerkt eins ums andere Mal, dass ihr Deal ohne die Schließung der Balkanroute wahrscheinlich nicht funktioniert hätte.

Wir kommen auf die eingangs gestellte Frage zurück: Welchen Anteil hatte die „Autonomie der Migrationen“ am Sommermärchen 2015? Ohne den Durchbruch von Gevgelija im August hätte sich die Migrationsbewegung in Griechenland zurückgestaut, mit nur schwer abzusehenden Folgen. Ohne den Aufbruch von Keleti wäre vielleicht ein europäischer Verteilungsmechanismus in Gang gekommen, aber die Zahl der nachrückenden Migrant*innen hätte diesen Mechanismus, wie auch immer er ausgelegt worden wäre, sehr schnell überfordert. Röszke und der Marsch nach Kroatien sind die weiteren Stationen. Ganz sicher sind diese Stationen der Ausgangspunkt des Sommers 2015. Aber sie treffen auf eine ganz ungewöhnliche Konstellation: Auf die deutsche (und die schwächere österreichische) Willkommenskultur, ohne die die Grenze schon nach einer Woche wieder geschlossen worden wäre – zu einem sehr hohen Preis. Und auf eine eigenwillige Kanzlerin, die nicht ohne Risiko ein Projekt der Erneuerung verfolgt, das spätestens zu Silvester definitiv ins Schlingern gerät. Das wussten wir auch vorher schon. Was Robin Alexander beiträgt, sind Innenansichten der Macht und Portraits einiger der beteiligten Politiker*innen. Was mir am meisten in Erinnerung bleiben wird, ist die Macht der quasi-plebiszitären Öffentlichkeit, die in Verbindung mit der Autonomie der Migrationen ein Wunder bewirkt hat – wenn auch nur einen Sommer lang.

W.B. 12.05.17

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