12. Mai 2017 · Kommentare deaktiviert für Sea-Watch fordert unabhängige Untersuchung der illegalen Rückführung eines vollbesetzten Holzbootes · Kategorien: Italien, Libyen · Tags: , , ,

Sea Watch | 11.05.2017

Am 10.5. wurde Sea-Watch erneut Zeuge einer illegalen Rückführung von mehreren hundert Flüchtenden in libysche Gewässer. Der Kapitän hatte von der Rettungsleitstelle in Rom ein Mandat erhalten, den Insassen des Holzbootes zur Hilfe zu kommen. Bei Ankunft eines Patrouillenschiffs aus Libyen zog sich die Rettungscrew auf dem Schnellboot zurück und beobachtete das Geschehen. „Wir fragen uns, inwieweit europäische Behörden in die fragwürdige Operation am Mittwoch involviert waren. Wenn tatsächlich die EU die libysche Küstenwache zu illegalen Aktionen anstiftet, ist das ein Skandal“, sagt Geschäftsführer Axel Grafmanns.

#1 Hat das Manöver in Libyschen Hoheitsgewässern stattgefunden?

Ganz klar: Nein. Unsere Position war 33°08.9’N 012°28.9’E. Das sind rund 20 Seemeilen vor der Küste, also weit entfernt von den 12 Seemeilen, in denen Libyen Hoheitsrechte hat. Wir fragen uns, welche Ausbildung die libyschen Marineoffiziere im Seerecht erhalten. An die Hoheitsgewässer grenzt die sogenannte Anschlusszone oder 24-Seemeilen-Zone, in der ein Staat die erforderliche Kontrolle ausüben darf, um Verstöße gegen seine Zoll-, Gesundheits-, und Einreisevorschriften zu verhindern. Da weder wir noch die Flüchtenden dort gefischt oder Öl geschmuggelt haben, gelten dieselben Regeln wie in internationalen Gewässern: Eine Rückführung in Territorialgewässer ist laut dem völkerrechtlich verankerten non-refoulement Prinzip illegal.

#2 War die Rückführung rechtmäßig?

Die libysche Marine hat kein Recht dazu, aus der 24-Seemeilen Zone Menschen zurück in ihr Territorialgewässer zu schleppen (s. #1). Im Seerecht ist außerdem verankert, dass Schiffbrüchige in den nächsten sicheren Hafen gebracht werden müssen. Das Bürgerkriegsland Libyen ist von der EU nicht als sicher eingestuft. Deutschland hat aus Sicherheitsgründen dort nicht einmal eine Vertretung, viele Hilfsorganisationen haben sich aus denselben Gründen aus Libyen zurückgezogen. Gerettete haben uns erst letztes Wochenende davon erzählt, unter welchen Bedingungen sie dort gelebt haben. Justine, 25, aus Nigeria wurde jeden Tag von Milizen aufgesucht, die sie vergewaltigt haben. Libyen ist für Migrant*innen kein sicherer Ort.

#3 Wer hat hier wen gefährdet?

Auf hoher See gibt es genauso Vorfahrtsregeln wie im Straßenverkehr. Rechts vor links klingt auf Seemännisch so: Kreuzen sich die Kurse zweier Schiffe, weicht dasjenige aus, das das andere an Steuerbord hat (Regel 15 KVR). Das war in diesem Fall das libysche Patrouillenboot 206, das deutlich schneller als die Sea-Watch 2 unterwegs war. Sea-Watch Kapitän Ruben Lampart konnte kein Manöver des letzten Augenblicks durchführen, weil die Crew zu diesem Zeitpunkt mit dem Kran das zweite Rettungsboot ins Wasser ließ. Auf der Überwachungskamera sieht man einen Teil der Crew beim Kranen auf dem oberen Deck.

#4 Wer hat hier wen gestört?

Die Rettungsleitstelle in Rom hatte uns um 07.42 Uhr morgens per Email das Mandat geschickt, ein Holzboot in der Nähe zu retten: „Please divert your course and proceed toward the mentioned position to render assistance.” Später erreichte uns die Nachricht, die Libysche Küstenwache würde den on-scene command der Rettung übernehmen. Deshalb funkte unser Kapitän Ruben Lampart das Patrouillenschiff 206 an, um Anweisungen zur gemeinsamen Rettung zu erhalten – vergeblich. Wir holten unser Rettungsboot mit den Schwimmwesten zurück zum Mutterschiff und beobachteten aus einiger Entfernung die Operation. Zu keinem Zeitpunkt versuchten wir, einzugreifen oder gar vorsätzlich den Transfer zu behindern, wie Sprecher Ajub Kassem jetzt behauptet. Vielmehr gefährdete das Patrouillenschiff mit dem waghalsigen Manöver die Sea-Watch 2 und ihre Crew.

#5 Wie genau nimmt die Libysche Küstenwache Zahlen und Fakten?

Schon am frühen Morgen wurde unser Kapitän stutzig, als auf dem Radar der Öltanker „Sovereign M” auftauchte und plötzlich sehr schnell auf uns zukam. Mit dem Fernglas war klar zu erkennen, dass das AIS Signal gefälscht war: Es war kein Öltanker im Anmarsch, sondern ein Kriegsschiff aus Libyen. Nach der Ankunft in Tripolis erhielten wir eine Email, in der von 350 Migrant*innen die Rede war. Die Information über die Ankunft in Tripolis ging auch die Rettungsleitstelle und an Frontex und die Operation Sophia Headquarters, was ein Interesse der EU an dieser illegalen Rückführung vermuten lässt. In späteren Interviews war plötzlich die Rede von 497 Migrant*innen – eine Zahl, die schon eher an die Wirklichkeit herankommen könnte.

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