17. Dezember 2016 · Kommentare deaktiviert für „Angst vor Hetze, Staunen über Scheidungen: Was Flüchtlinge posten“ · Kategorien: Medien · Tags: ,

Quelle: derStandard | 16.12.2016

Facebook spielt vor, während und nach der Flucht eine große Rolle für Asylwerber, zeigen Berichte des UNHCR

FABIAN SCHMID

Es ist Zahltag – und die Flüchtlinge bekommen so viel Geld, dass sie große schwarze Müllsäcke zum Bankomaten mitgenommen haben, um ihre Mindestsicherung transportieren zu können. Mit diesem unzählige Male geteilten Foto schafften drei junge Asylwerber einen viralen Beitrag, der sowohl als Kommentar auf die Erwartungen der Familienmitglieder in Syrien und Irak als auch auf die Vorurteile mancher Europäer verstanden werden kann. Denn ihr Leben in Europa ist für die meisten Flüchtlinge nicht so, wie sie es sich vor dem Aufbruch erwartet haben.

Daher kritisierten auch einige aus der Community das Foto: Es könnte von manchen für bare Münze genommen werden. Doch das Bild vom „sagenhaften Europa“, in dem Flüchtlinge ohne große Probleme ein gutes Leben führen können, hat vor allem im arabischen Raum schon Risse bekommen. Das zeigen Berichte der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR, die ihre Ergebnisse Journalisten präsentiert hat.

Kleines Team beobachtet Facebook-Seiten

Seit rund zehn Monaten beobachtet ein kleines Team an UNHCR-Mitarbeitern, über welche Themen sich Flüchtlinge in sozialen Netzwerken unterhalten. Wöchentlich wird darüber ein kurzer Bericht verfasst, der eigentliche Zweck der Analyse hätte die Vorbereitung auf Kampagnen des UNHCR sein sollen: Die Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen hatte für ihre Informationsverbreitung schlicht und einfach ihre Zielgruppe besser kennenlernen wollen. Doch die wöchentlichen Social Media-Berichte erreichten so viel Aufmerksamkeit – unter anderem von Polizeiorganisationen, Migrationsbehörden und EU-Abteilungen– dass sie ein fixer Bestandteil der UNHCR-Arbeit wurden.

Soziale Medien spielen für Flüchtlinge eine enorm große Rolle. Primär wird Facebook genutzt, dazu kommen Messenger wie WhatsApp, Viber oder Telegram. Das UNHCR-Team beobachtet mehr als 200 Seiten und Gruppen auf Facebook, um aktuelle Diskussionsthemen und Trends unter Flüchtlingen zu identifizieren. Schon vor der Abreise informieren sich Syrer und Iraker etwa auf Facebook über unterschiedliche Schlepper. Diese werben offen in den sozialen Netzwerken. In Afghanistan, wo oft wenig Wissen über geographische und kulturelle Gegebenheiten in Europa besteht, führen Schlepper potenzielle Kunden bewusst in die Irre, sie sprechen etwa von „zu hundert Prozent legalen Diensten“ und davon, dass es „leicht“ sei, nach Europa zu gelangen.

Warnungen vor Schleppern

Im arabischsprachigen Raum ist man Schleppern gegenüber hingegen misstrauischer. Oftmals warnen sich Syrer und Iraker gegenseitig vor Schmugglern, mit denen sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Schlepper informieren ihre Kunden regelmäßig darüber, welche Leistungen Asylwerbern in den unterschiedlichen EU-Mitgliedsländern erwarten können. Aber auch Flüchtlinge selbst geben sich Ratschläge, wie sie sich etwa beim Interview mit Fremdenbehörden zu verhalten haben.

Staunen über Scheidungen

Nach der Ankunft im Zielland werden Facebook und Konsorten natürlich genutzt, um mit der Familie im Heimatland in Kontakt zu bleiben. Aber Flüchtlinge tauschen sich auch miteinander aus und sind erstaunt über manche Verhaltensweisen – etwa darüber, dass sich auch muslimische Paare in Europa in der Öffentlichkeit küssen. Überrascht zeigen sich viele Asylwerber auch darüber, dass sich Frauen von ihren Ehemännern scheiden lassen oder vor gewalttätigen Partnern in ein Frauenhaus flüchten können.

Rechte Hetze wird genau beobachtet

Genau registriert werden der Anstieg der Rechtsaußen-Parteien in Europa und xenophobe Übergriffe. Laut UNHCR sprachen viele syrische Flüchtlinge davon, sich aktiv in den Wahlkampf einbringen zu wollen. Außerdem arbeiten einige Asylwerber daran, das Bild von Flüchtlingen in der österreichischen Bevölkerung verbessern zu wollen. So kursieren etwa Vorschläge, Straßen zu reinigen oder andere Hilfsarbeiten auszuführen. In afghanischen Gruppen wurden etwa Bilder von Brandanschlägen geteilt, um vor einer ausländerfeindlichen Stimmung zu warnen.

Mehrheit der Syrer will zurück

„In sozialen Medien sind so viele Informationen frei abrufbar“, sagt UNHCR-Kommunikationsexpertin Melita Sunjic. Es sei erstaunlich, dass nationale Organisationen nicht stärker auf diese eingingen, so Sunjic, die auch nationale Kommunikationskampagnen für Flüchtlinge kritisierte. Denn die qualitativen Daten, die durch das Beobachten von Social Media entstünden, würden zuverlässig Trends identifizieren, die wichtig für politische Entscheidungsträger seien – und Auskunft über Probleme und Lebensziele von Flüchtlingen liefern. So schätze das Team etwa, dass eine überwiegende Mehrheit der Syrer gar nicht in Europa bleiben wolle – denn ständig kursieren Memes, die überfüllte Züge und Busse zeigen. Der Kommentar der User dazu: Das sind wir am Weg nach Syrien, sobald der Krieg vorbei ist. – derstandard.at/2000049219071/Angst-vor-Hetze-Staunen-ueber-Scheidungen-Was-Fluechtlinge-posten

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