30. August 2016 · Kommentare deaktiviert für „Flüchtlingsroute über die Schweiz: Einmal in Sicherheit bitte, einfache Fahrt“ · Kategorien: Italien, Mittelmeerroute, Schweiz, Video

Quelle: Spiegel Online

Abrehet und Joel haben es durch die Sahara geschafft und über das Mittelmeer nach Italien. Nun wollen sie in die Schweiz, das einzige Tor nach Norden. Die Fahrt dauert nur fünf Minuten – für sie eine Ewigkeit.

Aus Como, Italien, und Chiasso, Schweiz, berichten Hasnain Kazim, Janita Hämäläinen und Robert Ackermann (Video)

„Ein Ticket! Wir brauchen ein Bahnticket!“, sagt Joel zu Abrehet. Der kramt in der Tasche seiner zerschlissenen Jeans und holt ein paar Münzen hervor. Die Fahrt von Como, Italien, nach Chiasso, Schweiz, kostet pro Person 1,40 Euro. Macht 2,80 Euro für die beiden. „Two one way tickets to Chiasso“, sagt Abrehet zu dem Mann im Kiosk, der auch die Fahrkarten verkauft. Wortlos druckt der zwei Billets aus und reicht sie Abrehet.

Die Männer, beide Anfang zwanzig, grinsen. Wieder einen Schritt Richtung Zukunft geschafft! Sie hätten auch ohne Ticket fahren können, wahrscheinlich hätte sie niemand aufgehalten. „Wir sind doch korrekte Menschen“, sagt Joel. Und bei den vielen Tausend Euro, die sie ihre Flucht bisher gekostet hat, macht das auch nichts mehr aus.

Die Tickets, ihre Handys – die Verbindung zur Familie in der Heimat und zu anderen Flüchtlingen -, die Kleidung, die sie gerade tragen und jeweils ein Rucksack mit Ersatzkleidung, einer Flasche Wasser und Zahnbürste sind alles, was sie besitzen. Abrehet und Joel sind Freunde aus Eritrea. Joel ist der körperlich Kräftigere, während Abrehet der Ordentlichere ist. Sie passen aufeinander auf, jeder auf seine Weise. Gemeinsam sind sie stark.

Video über minderjährige Flüchtlinge: „Ich versuche es wieder“

Vor einem Jahr sind sie in ihrem Heimatland gestartet, im Osten Afrikas, wo Krieg herrscht und eine Willkürherrschaft. Eritrea steht auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 180 von 180. Kritiker der Regierung landen im Gefängnis, wo nach Angaben der Vereinten Nationen „lebensbedrohliche Zustände“ herrschen. Schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen, willkürliche Verhaftungen und Tötungen, das Verschwindenlassen von Gefangenen und Folter seien in Eritrea üblich, heißt es in einem Uno-Report.

Abrehet und Joel, die nahe der Hauptstadt Asmara als Automechaniker gearbeitet haben, sind vor der Armee geflohen. „Die wollte uns einberufen“, sagt Joel. „Eritrea führt Krieg gegen Äthiopien.“ Sie wollten nicht sinnlos sterben, „for nothing and nothing“, wie er es formuliert.

In den Nachrichten sahen sie, dass damals, im September 2015, gerade Hunderttausende Menschen aus aller Welt unterwegs waren Richtung Europa. Also machten sie sich auch auf den Weg. Sie kratzten ihre Ersparnisse zusammen, schlugen sich zu Fuß und mithilfe von Schleppern durch den Sudan, „ein sehr gefährliches Land“. Von dort gingen sie nach Libyen, weil ein Freund schon dort war und ihnen Jobs auf Baustellen versprach. „Da haben wir gearbeitet und Geld gespart, um jemanden zu bezahlen, der uns über das Meer bringt“, erzählt Abrehet.

„No France, no Austria“

„Vor dem Wasser hatten wir Angst“, sagt Abrehet. „Aber zurück nach Eritrea konnten wir nicht, da würden wir als Deserteure eingesperrt. Und in Libyen wollten wir auch nicht bleiben, da herrscht ja auch Krieg.“ Also stiegen sie ins Boot.

Vor vier Wochen erreichten sie Italien und schlugen sich durch. Sizilien, Neapel, Rom, Florenz, Mailand, weiter zum Grenzort Como. Andere Flüchtlinge hatten ihnen erzählt, dass dies der einzig freie Weg Richtung Norden ist. „No France, no Austria“, sagt Abrehet.

Der Zug fährt auf Gleis drei am Bahnhof von Como ein, einer kleinen Station, wo normalerweise Touristen ankommen, um am ein paar Hundert Meter entfernten Comer See Urlaub zu machen. Jetzt liegen hier Flüchtlinge auf dem Bahnsteig, auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Auch Abrehet und Joel haben mehrere Tage hier an den Gleisen verbracht. Sie wissen, dass die Schweiz viele Flüchtlinge abweist und zurück nach Italien schickt. Sie wissen auch, dass sie ihr wahres Ziel, nämlich Berlin, nicht nennen dürfen. Sie dürfen nicht erzählen, dass in Berlin schon im vergangenen Jahr Freunde angekommen sind, die ihnen versprochen haben, ihnen zu helfen. „Wir sind gezwungen zu lügen“, sagt Joel. „What can we do?“

„Wir wollen kein Transitland werden“, hat die Schweizer Justizministerin Simonetta Sommaruga kürzlich gesagt. Eine Chance, in Chiasso nicht abgewiesen zu werden, haben Abrehet und Joel nur, wenn sie sagen, dass sie in der Schweiz um Asyl bitten wollen.

Im Video: Wildes Flüchtlingscamp in Como – Das Ende der Mittelmeerroute

An der Tür der Bahn steht „Senza frontiere“, „ohne Grenzen“. Abrehet und Joel warten unten in der Gleisunterführung, bis das Quietschen der Bremsen aufgehört hat. Etwa 45 Sekunden hält der Zug hier nur, das haben sie in den vergangenen Tagen beobachtet. Kaum steht er, huschen sie die Treppe hoch, auf den Bahnsteig, in der Hoffnung, nicht von einem italienischen Grenzbeamten zurückgehalten zu werden, die hier oft in Gruppen patrouillieren. Kein Beamter zu sehen. Sie springen in den Zug, hinter ihnen schlägt die Tür zu. Die Treni Regionali Ticinio Lombardia setzt sich in Bewegung.

Nur fünf Minuten dauert die Fahrt von Como nach Chiasso, von der Lombardei ins Tessin, von Italien in die Schweiz. Die meiste Zeit im Dunkeln, durch einen Tunnel in einem Berg. Alle halbe Stunde fährt die Regionalbahn diese Strecke, von sechs Uhr morgens bis Mitternacht. Abrehet und Joel haben einen Zug um 17 Uhr gewählt, in der Hoffnung, zusammen mit den Pendlern durchzukommen. Jetzt halten sie ihre Rucksäcke auf dem Schoß umklammert. Sie sind die einzigen Schwarzen im Zug. Manchmal versuchen Dutzende ihr Glück. Manche mehrmals, weil sie immer wieder zurück nach Como zurückgeschickt werden. In den vergangenen Monaten sind mehrere Tausend Flüchtlinge in der Schweiz angekommen.

Der Zug rollt in Chiasso ein. Auf dem Bahngleis stehen schon die Uniformierten, dunkelblaue Hose, hellblaues T-Shirt, am Gürtel einen Schlagstock, Pistole, Taschenlampe, Funkgerät. „Grenzwachtkorps“ steht auf ihren Rücken, auf Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Schweiz hat Einheiten, die der Zollverwaltung unterstehen, aus anderen Landesteilen abgezogen und hierher versetzt – wie viele genau, darüber schweigt die Regierung. Viele Pendler gehen achtlos an den Beamten vorbei. Abrehet und Joel stolpern fast über ihre eigenen Füße, Joel kratzt sich ständig am Kopf, Abrehet knetet seine Hände.

„Wirklich? Sie wollen nicht nach Deutschland?“

„Buongiorno“, begrüßt ein Polizist sie und stellt sich ihnen in den Weg. Die beiden Männer bleiben stehen. „Haben Sie Papiere?“, fragt der Beamte. Abrehet und Joel schütteln den Kopf. Weitere Uniformierte steigen in den Zug und gehen durch alle Abteile, auf der Suche nach weiteren Flüchtlingen. „Das war’s!“, ruft eine Polizistin ihren Kollegen zu. Abrehet und Joel werden aufgefordert, den Beamten zu folgen.

Im Bahnhofsgebäude geben sie ihre Fingerabdrücke ab, beantworten Fragen, wie heißt ihr, woher kommt ihr. Die beiden sagen, dass sie in der Schweiz bleiben und einen Asylantrag stellen wollen. Die Beamten schauen sie misstrauisch an. „Wirklich? Sie wollen nicht nach Deutschland?“ Sie verneinen.

Formulare werden ausgefüllt, dann bringt sie jemand in ein nahegelegenes Erstaufnahmezentrum. Abrehet und Joel haben Glück: Sie werden nicht zurück über die Grenze geschickt wie etwa zwei Drittel aller hier ankommenden Flüchtlinge. Vielleicht werden sie längere Zeit in Chiasso bleiben, wahrscheinlich werden sie aus Platzgründen woanders hingebracht. Aber sie genießen Bewegungsfreiheit. Es bestehe keine gesetzliche Grundlage, um die Bewegungsfreiheit der Asylsuchenden einzuschränken, teilt das zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) mit.

Abrehet und Joel können also weiter Richtung Norden ziehen. „Unkontrollierte Abreisen“ nennt die Schweiz das. Allein in diesem Jahr habe es bis Anfang August etwa 5000 „unkontrollierte Abreisen“ gegeben, die meisten nach Deutschland, heißt es beim SEM. Die beiden jungen Männer aus Eritrea werden in diese Statistik eingehen.

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