Quelle: Frankfurter Rundschau
Viele minderjährige Flüchtlinge vom Horn von Afrika wollen weiter zu ihren Familien in Nordeuropa. Sie stranden im Norden Italiens, weil sie nicht über die Schweizer Grenze kommen.
Von Regina Kerner
Reisende, die mit dem Zug im norditalienischen Urlaubsort Como ankommen, finden sich derzeit in einem Flüchtlingscamp wieder. Rund um dem Bahnhof S.Giovanni, gar nicht weit vom Ufer des Comer Sees mit seinen schicken Villen, schlafen hunderte Menschen dicht an dicht auf Decken am Boden, ihre Kleider hängen über Metallgeländern und auf Wäscheleinen, die im kleinen Park gegenüber zwischen den Bäumen gespannt sind.
Am Bahnhof von Como herrscht Ausnahmezustand, wie auf Fernsehbildern zu sehen ist. Etwa 500 Flüchtlinge campieren inzwischen dort, vor zwei Wochen waren es noch halb so viele. Sie sind per Boot in Italien gelandet und wollen weiter nach Nordeuropa. Die Schweizer Kontrollposten am nahen Grenzübergang Chiasso lassen aber nur noch wenige passieren.
Nicht nur in Como, auch in Mailand und im ligurischen Ventimiglia stranden immer mehr Migranten, für die es in die Schweiz, nach Österreich und nach Frankreich kein Durchkommen gibt. In Italien steigt der Druck. Mehr als 94 000 Bootsflüchtlinge sind dieses Jahr bisher angekommen, davon fast 24 000 im Juli.
„Fast alle Flüchtlinge hier stammen vom Horn von Afrika“, sagt Roberto Bernasconi am Telefon. Er ist Leiter des katholischen Hilfswerks Caritas in Como, das sich gemeinsam mit Rotem Kreuz und 300 freiwilligen Helfern aus der Stadt und dem benachbarten Schweizer Kanton Tessin um die Menschen kümmert. Sie sorgen dafür, dass die Eritreer, Somalier, Äthiopier und Sudanesen mit Essen und frischer Wäsche versorgt werden und in einer katholischen Schule duschen können.
40 Prozent Minderjährige
Die meisten seien sehr jung, sagt Bernasconi, „etwa 40 Prozent von ihnen sind minderjährig“. Auch Frauen mit Kindern sind darunter. Sie wollen nicht in Italien bleiben, sondern Angehörige erreichen, die in Deutschland, Holland oder Schweden Zuflucht gefunden haben. Viele haben schon mehrfach versucht, über die Schweizer Grenze zu kommen, im Zug, im Bus oder zu Fuß – „wie Fliegen, die wieder und wieder gegen eine Scheibe fliegen“, sagt Caritas-Chef Bernasconi. Aber immer wieder schaffe es doch jemand, und so geben die anderen nicht auf.
Amnesty International hat von den Schweizer Behörden Klarheit gefordert, ob sie Kindern auf dem Weg zu den Eltern die Einreise verwehrten. Angesichts der prekären Lebensbedingungen für Flüchtlinge in Norditalien sei es inakzeptabel, besonders verletzliche Menschen abzuweisen, kritisiert die Menschenrechtsorganisation. Seit Anfang Juli wollten 7500 Migranten die Grenze überqueren, die Schweizer Zöllner ließen nur etwa ein Drittel passieren, die übrigen mussten umkehren. Und das 90 000-Einwohner zählende Como hat schon 700 reguläre Asylbewerber aufgenommen, die Unterkünfte der Stadt sind voll.
Ähnlich wie in Como sieht es am Hauptbahnhof von Mailand aus. In der Metropole sind 3300 Flüchtlinge hängengeblieben. Auch dort gibt es keine Plätze in den Unterkünften mehr.
Bürgermeister Giuseppe Sala lässt Zelte als Zwischenlösung aufbauen und eine leer stehende Kaserne herrichten.
Früher war Mailand für die meisten Migranten Zwischenstation auf dem Weg über den Brenner nach Norden. Seit Österreich damit drohte, einen Grenzzaun zu bauen, verhindert die italienische Polizei, dass Flüchtlinge überhaupt bis zum Brenner kommen. Trotzdem müssten inzwischen wieder täglich etwa 50 Migranten von dort zurückgeschickt werden, erklärten die österreichischen Behörden. Der Nordtiroler Landeshauptmann Günther Platter sieht Anlass zu Sorge. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis Italien am Ende seiner Kapazitäten angelangt sei.
In Ventimiglia an der Riviera hatten Ende vergangener Woche 200 Migranten verzweifelt versucht, die Polizeisperren an der französischen Grenze zu durchbrechen, viele schwammen hinüber und wurden zurückgeschickt. Das Aufnahmelager des Roten Kreuzes in dem Badeort ist seit Monaten überfüllt. Seit Mittwoch nun lässt die italienische Regierung die Flüchtlinge in Bussen Richtung Süditalien abtransportieren. Sie sollen abgeschoben werden. „Ventimiglia wird nicht unser Calais werden“, versicherte Innenminister Angelino Alfano.