11. April 2016 · Kommentare deaktiviert für „Wer nach Deutschland will, muss türkische Lotterie spielen“ · Kategorien: Deutschland, Europa, Türkei · Tags:

Quelle: Die Welt

32 Flüchtlinge hat Deutschland legal aus der Türkei einfliegen lassen. Jeder einzelne musste ein strenges Auswahlverfahren durchlaufen. Aber wer genau sucht eigentlich wen aus – und warum?

Nie-der-sach-sen. Schon wieder so ein komisches deutsches Wort. Was soll das sein? Müde und ein bisschen ängstlich blicken die syrischen Familien drein, als sie in Friedland aus dem Bus steigen. Frauen in Kopftüchern und Sneakern, etwas unsicher auf den Beinen, ein Mädchen klammert sich an ein aufblasbares Plastikflugzeug.

Es gab eine Zeit in ihren Leben, da spielten seltsam klingende deutsche Wörter noch keine Rolle. Da wohnten sie alle noch in Damaskus, Aleppo oder Homs, hatten einen Friseursalon, kümmerten sich um die Kinder oder studierten. Dann kamen der Krieg, die Bomben, die abenteuerliche Flucht in die Türkei. Doch in der Lotterie des Krieges, in der um Leben und Tod gespielt wird, haben die Menschen, die hier aus dem Bus steigen, das große Los gezogen. Ein Los mit der Aufschrift „Niedersachsen“. Sie mussten nicht in ein seeuntüchtiges Schlauchboot steigen, das sie (vielleicht) nach Griechenland und damit in die EU tragen würde, sondern in eine Linienmaschine in Istanbul mit dem Ziel Hannover-Langenhagen.

Seit drei Wochen gilt ein Abkommen mit Ankara. Jeder Flüchtling, der illegal in Griechenland einreist, soll zurück in die Türkei geschickt werden. Im Gegenzug wird die Europäische Union für jeden der abgeschobenen Flüchtlinge einem anderen die Einreise in ein EU-Land ermöglichen. Die Flüchtlinge sollen dadurch animiert werden, die legale und vor allem sichere Einreise in die EU zu wählen und nicht ihr Leben und das ihrer Familien auf türkischen Seelenverkäufern zu riskieren.

Noch zeitigt die Regelung keinen allzu durchschlagenden Erfolg: Mehr als 140.000 Flüchtlinge landeten seit Anfang des Jahres auf den griechischen Inseln. Es kommen fast täglich neue hinzu, aber immerhin: nicht mehr so viele wie noch vor Kurzem. Am Freitag und Samstag setzten lediglich 120 Menschen zu den griechischen Inseln über, wie der Flüchtlings-Krisenstab in Athen mitteilte. Die meisten Menschen erreichten die Ägäis-Insel Lesbos.

Insgesamt sind die Zahlen im Vergleich zum Vormonat stark zurückgegangen; im Februar kamen dem UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) zufolge im Schnitt noch täglich mehr als 900 Flüchtlinge und Migranten an griechischen Ufern an. Die EU-Grenzschutzbehörde Frontex berichtet, dass seit Inkrafttreten des Abkommens am 20. März rund 80 Prozent weniger Flüchtlinge versuchen, nach Griechenland zu gelangen.

Diejenigen, die es dennoch versuchen, riskieren weiterhin ihr Leben: Am Samstag waren zum ersten Mal seit drei Wochen wieder Flüchtlinge in der Ägäis ertrunken. Ein Boot kenterte in rauer See vor der Insel Samos, wie die griechische Küstenwache mitteilte. Vier Frauen und ein Kind kamen ums Leben.

Solche Nachrichten sollen künftig ausbleiben. Die Menschen sollen legal und sicher von der Türkei aus per Flugzeug nach Europa gelangen. Aber das gilt nur für sehr wenige und läuft sehr schleppend – wie sich auch in Friedland zeigt. Zwei Familien aus Damaskus sind unter den 32 Glücklichen, die nun nach Deutschland geflogen wurden. Eine kommt aus Homs, und eine wohnte dicht an der Grenze zu Israel. Was sie jetzt wollen? „Gesund werden“, vor allem das. „Und Deutsch lernen. So schnell es geht.“

Sie haben ein langes und nicht sehr transparentes Auswahlverfahren hinter sich, gewissermaßen haben sie eine türkische „Castingshow“ überstanden. Denn die EU-Aufnahmeländer wählen letztlich Kandidaten aus, die von türkischer Seite „angeboten“ werden. Das UNHCR ist an der Erstauswahl gar nicht beteiligt, bestätigte Selin Ünal, Sprecherin des UNHCR-Büros in Ankara. Allerdings stelle das UNHCR die individuelle Schutzbedürftigkeit einzelner Flüchtlinge fest.

„Die syrischen Flüchtlinge in der Türkei werden nicht vom UNCHR, sondern von der türkischen Regierung registriert“, so Ünal. „Die Behörden übermitteln uns Akten von Flüchtlingen, die sie für die Umsiedlung als geeignet ansehen. Wir untersuchen diese Fälle, sprechen mit den Flüchtlingen und schlagen sie den EU-Staaten als Aufnahmekandidaten vor.“ Aus Kreisen der Bundesregierung heißt es, dass das Verfahren noch nicht optimal laufe. Dies gelte vor allem für die Überprüfung der Kandidaten durch deutsche Behörden.

Im Einzelnen läuft das „Flüchtlingscasting“ folgendermaßen ab: Zunächst erstellt die türkische Migrationsbehörde DGMM Listen mit geeigneten „Kandidaten“ und übermittelt sie an das UNHCR. Das Hilfswerk prüft die Listen der Türken genauer und gibt anschließend Dossiers zu den ausgewählten Personen an das jeweilige EU-Land weiter, wo die dortigen nationalen Behörden endgültig entscheiden, wer Aufnahme findet und wer nicht.

Wunschbild – Junge christliche Syrerin mit Studium

Kriterien für die Auswahl sind neben der Schutzbedürftigkeit die Integrationsfähigkeit der Betroffenen und „familiäre oder sonstige integrationsförderliche Bindungen“ in ein bestimmtes EU-Land. Wer nach Deutschland kommt, muss außerdem vorher ein Visumverfahren durchlaufen – einschließlich Identitätsabgleich und Sicherheitsüberprüfung. Konkret erfolgt ein Abgleich mit den nationalen Strafregistern und Fahndungslisten.

Deutschland will zunächst 1600 Syrer auf diesem Weg aufnehmen – als Beitrag zum EU-weiten Programm, das helfen soll, Schutzbedürftige aus Flüchtlingscamps außerhalb Europas in die EU umzusiedeln.

Die besten Chancen, in Deutschland gemäß der Aufnahmeanordnung des Bundes aufgenommen zu werden, hätte eine junge christliche Syrerin, die ein Universitätsstudium abgeschlossen und bereits im erlernten Beruf gearbeitet hat, mindestens eine Fremdsprache spricht und Verwandte in Deutschland hat. Ein Profil, dem niemand der ersten 32 Flüchtlinge in Friedland entspricht.

Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl kritisiert das Prozedere. Geschäftsführer Günter Burkhardt erklärte: „Es ist völlig nebulös, wie die Türkei die Flüchtlinge auswählt.“ Die Auswahl von einigen Tausend Menschen aus gut 2,5 Millionen syrischen Flüchtlingen gleiche einem „Lotteriespiel“.

 

siehe auch: Das 5-Schritte-Auswahlverfahren für Flüchtlinge

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