Quelle: Zeit Online
Auf Lesbos hat sich Europa entschieden, Ausländer einzusperren. Darin zeigt sich das schwierige Verhältnis von nationalen Bürgerrechten und globalen Menschenrechten.
Von Lenz Jacobsen, Lesbos
Um die Menschen zu begrüßen, die jetzt kommen ohne dass Europa sie eingeladen hat, muss man wie im Zoo seine Finger durch den Zaun stecken. Zwei oder drei Finger nur, die ganze Hand passt nicht zwischen die engen Maschen rund um das Gefängnislager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. So kann man den Menschen auf der anderen Seite kurz berühren, ihm in die Augen blicken und sich dann schämen dafür, dass der andere ein Gefangener ist und man selbst so frei.
Europa hat sich durch seine gewählten Vertreter entschieden, diese Ausländer einzusperren. Das ist einerseits eine legitime demokratische Entscheidung, andererseits eine Absage an den Anspruch, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben. Wenn die Scham sich gelegt hat, lohnt es sich, darüber nachzudenken, warum das so ist.
Der Widerspruch, der hier am Zaun auf Lesbos so offensichtlich wird, ist ein grundsätzlicher, unauflösbarer: nationales Wahlrecht gegen weltweite Menschenrechte. Die türkisch-amerikanische Philosophin Seyla Benhabib formuliert es so: „Während die Menschenrechte unbegrenzt gültig sein sollen, setzt die Souveränität des Volks ein begrenztes demos voraus, das selbstbestimmt handelt.“ Dass die Politik sich vor allem um die eigenen Bürger zu kümmern hat, ist nicht nur Gerede ängstlicher Fremdenfeinde, sondern in allen politischen Gebilden unvermeidbar, die noch Grenzen haben – seien es nationale oder europäische. Ohne Außen kann es kein Innen geben, ohne ein Gegenüber keine Souveränität. Der Soziologe Pierre Bourdieu sagte über diese – auch sprachlichen – Abgrenzungen sinngemäß: Gruppen sind in den Bezeichnungen gefangen, die ihnen gegeben wurden. Muslime müssen Muslime bleiben und Flüchtlinge eben Flüchtlinge.
Sollte man also den ungeheuren Anspruch an grenzenlose Rechte besser aufgeben?
Ja, sagen die Nationalisten weltweit. Die deutschen neuen Rechten begründen das besonders gern unter Berufung auf den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt. Der hält die Trennung zwischen Freund und Feind, zwischen innerer Volksgemeinschaft und dem abzulehnenden Außen für das notwendige Wesen jedes Staates. „Politisch ist alles, was die Lebensfragen eines Volkes als eines einheitlichen Ganzen betrifft“, schreibt er. Wer nicht dazu gehört, hat auch keinen Anspruch auf politischen Schutz und Rechte.
Moralisch lässt sich das kaum begründen. Zumindest, wenn man als Erbe der Aufklärung auch den Anspruch versteht, Menschen eben nicht mehr aufgrund ihrer (oft unverschuldeten) Gruppenzugehörigkeiten zu beurteilen. Der Soziologe Emile Durkheim nannte das den Übergang von der „mechanischen Solidarität“ innerhalb starrer Gruppen (Clans, Stände, Religionsgemeinschaften, Völker) zur „organischen Solidarität“ unter den einzelnen Menschen.
Auch Angehörige eines Staates bilden letztlich eine starre Gruppe, die sich nach außen abschließt. Warum aber verlaufen Grenzen an einer bestimmten Stelle und nicht anderswo? Das ist historischer Zufall – unberechenbar und Folge ungeplanter Ereignisse. Deshalb muss der Ungleichheit der Geburt die Gleichheit der Rechte über die Grenzen hinweg entgegengesetzt werden. Das ist der große, vermessene Anspruch.
Das beste Beispiel dafür ist ausgerechnet jenes Europa, das jetzt auf seinen Inseln Ausländer einsperrt. Sein großes Versprechen ist ja: Grenzen einzureißen und einen gemeinsamen „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ zu schaffen. Dieser Anspruch reichte sogar weiter. Die EU versucht eine „werteorientierte Außenpolitik“, bemühte sich auch in anderen Ländern darum, Menschenrechten zur Geltung zu verhelfen.
„Postnationale Solidarität“
Nun erleben die Europäer angesichts der Lage auf den griechischen Inseln deutlicher als je zuvor, dass die EU nicht einmal in ihren eigenen Grenzen diese Rechte einhält. Das ist der Grund für die Scham am Zaun von Moria. Auch die Reichweite der eigentlich globalen Menschenrechte beschränkt Europa, wenn es innenpolitisch nötig scheint. Die Abschiebung in die Türkei drängt die illegalen Migranten noch weiter hinaus in die Peripherie der europäischen Politik – dorthin, wo die EU trotz ihrer Beteuerungen weniger tun kann für ihre Lebensbedingungen, für ihre Rechte. Wo sie auch weniger verantwortlich ist.
Sie hat Gründe dafür. Familie, Nachbarn, Mitbürger, das eigene Land – zu ihnen ist die Bindung in der Regel enger als zu fremden Migranten irgendwo in der Türkei. Auch wenn das für Universalisten bitter klingt. Benhabib schreibt: „Als Bewohner der Spätmoderne sind wir in einem permanenten Tauziehen zwischen universellen Ideen und partikularen Bindungen befangen.“
Der EU-Türkei-Deal ist nur die neueste Runde in diesem Kampf, das Gefängnis auf Lesbos der prominente Schauplatz. Die Migranten sind hier im doppelten Sinne Grenzfälle. Geographisch, wenn sie die Linie überschreiten, die Europa für sein Gebiet und damit die formale Reichweite seiner Rechte festgelegt hat. Und politisch, weil Europa an ihnen verhandeln muss, welche Privilegien sie diesen Anderen vorenthält und welche globalen Rechte sie ihnen zugesteht.
Benhabib war 2004, als ihr Buch Die Rechte der Anderen erstmals erschien, optimistisch. Sie hoffte, dass die exklusiven nationalen Rechte irgendwann in einem „Weltbürgerrecht“ aufgehen würden, das „alle Menschen allein aufgrund ihres Menschseins“ zusteht. So wie es sich Immanuel Kant einst ausgemalt hatte. Als Vorbild für diese fortschreitende „postnationale Solidarität“ nannte Benhabib, natürlich, Europa.
Doch es gibt kein Gesetz des linearen Fortschritts hin zu einer immer liberaleren, universelleren Politik. Auch wenn man das in den vergangenen Jahrzehnten in Europa vergessen konnte: Grenzen können wieder hochgezogen, theoretisch längst gewährte Rechte in der Praxis verwehrt werden – so wie jetzt in Idomeni und auf den griechischen Inseln.
Das ist für Universalisten kein Grund zur Panik. Man muss die aktuellen Ereignisse nicht gleich als Schubumkehr deuten im von Benhabib beschriebenen Kampf zwischen begrenzten politischen Souveränitätsgemeinschaften und unbegrenzten Rechten. Diese eine Runde geht an die Begrenzer. Doch es werden viele weitere folgen. Ihr Ausgang ist offen.