05. April 2016 · Kommentare deaktiviert für „Abschiebungen in der Ostägäis: Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei stockt“ · Kategorien: Europa, Griechenland, Türkei · Tags: ,

Quelle: Spiegel Online

Kaum begonnen, hakt es bei der Rückführung von Flüchtlingen in die Türkei. An den Häfen auf den griechischen Inseln ist es ruhig. Migranten sind nicht mehr auffindbar oder haben einen Asylantrag gestellt.

220 Migranten und Flüchtlinge sind am Montag von Griechenland in die Türkei gebracht worden – wie schlecht die weiteren geplanten Rückführungen organisiert sind, zeigt sich aber schon einen Tag später: An diesem Dienstag soll von Lesbos aus kein Flüchtling in die Türkei gebracht werden. SPIEGEL ONLINE-Reporter berichten von Lesbos, dass die Lage an den Häfen ruhig sei. Auch die Behörden haben bestätigt, dass an diesem Tag von der Insel aus keine Rückführungen starten sollen. Anders als geplant, werden wohl auch von der Insel Chios aus keine Boote mit Migranten in Richtung Türkei ablegen.

Offenbar gibt es Probleme, weil ein Großteil der Migranten und Flüchtlinge, die für die Rückbringung ausgewählt wurden, inzwischen einen Asylantrag gestellt hat und diese erst geprüft werden müssten – oder weil die Migranten, die auf den Abschiebelisten stehen, nicht mehr auffindbar sind.

Die Regionalgouverneurin der Inseln im Norden der Ägäis, Christiana Kalogirou, sagte im Staatsfernsehen ERT: Zuvor hätten die Menschen meist nur nach Mitteleuropa weiterreisen wollen und auf Asylanträge verzichtet. Nun werde es mehrere Tage dauern, bis die Asylanträge im Schnellverfahren bearbeitet seien, sagte Kalogirou. Erst dann könnten Menschen, deren Anträge abgelehnt wurden, in die Türkei ausgewiesen werden. Zudem fehlten weiterhin Asylentscheider, hieß es.

Flüchtlinge sollen zur Rückkehr in Hotspots bewegt werden

Ähnlich äußert sich laut Bericht der Zeitung „Politis“ ein Polizeibeamter auf Chios. Es sei eine Liste von 250 Personen zusammengestellt worden, die von Montag bis Mittwoch von der Insel in die Türkei gebracht werden sollten. Viele dieser Migranten hielten sich nicht mehr in den Hotspots auf oder hätten einen Asylantrag gestellt – das sei der Grund dafür, dass Frontex die Schifffahrten mit Flüchtlingen in die Türkei aufgeschoben habe.

Am Dienstagmittag soll es ein Krisentreffen der Behörden mit Nichtregierungsorganisationen geben. Ziel ist es, die Migranten dazu zu bewegen, in die Hotspots zurückzukehren. Ein Reporter von „Politis“ formuliert es so: „Sie können ja nicht einfach jeden, der in einem Schlafsack liegt, fragen, ob er auf der Liste ist.“

Die Polizei auf Chios dementierte aber einen Bericht, wonach die Flüchtlinge regelrecht untergetaucht seien und sich vor den Behörden versteckten.

Die 202 Migranten, die am Montag im Rahmen des EU-Türkei-Flüchtlingspakts von den beiden griechischen Ostägäisinseln in die Türkei gebracht worden waren, hatten nach griechischen Regierungsangaben keinen Asylantrag gestellt. Auch bei der Auswahl der Rückkehrer vom Montag hatte es Probleme gegeben – trotzdem war die Aktion friedlich abgelaufen.

Griechische Regierung will Flüchtlingslager räumen

Die Rückführungen am Montag sollten zeigen, dass der von Kanzlerin Angela Merkel vorangetriebene und von der EU beschlossene Deal mit dem türkischen Präsidenten mit Entschiedenheit beginnt. In der Theorie geht der Plan so: Für jeden aus Griechenland abgeschobenen Flüchtling soll ein anderer von der Türkei nach Europa verteilt werden – bis die Zahl 72.000 erreicht ist.

Aber die Aktion war von vornherein hastig und schlecht vorbereitet auf griechischer und türkischer Seite. Von den 4000 angekündigten EU-Beamten ist gerade mal ein Bruchteil auf der Insel.

Auf dem Festland will die griechische Regierung hart gegen Flüchtlinge, die am Hafen von Piräus und bei Idomeni an der Grenze zu Mazedonien campieren, vorgehen. Die beiden großen improvisierten Flüchtlingslager sollen bis zum Wochenende geräumt werden. Die Migranten würden in arabischer Sprache aufgefordert, mit bereitgestellten Bussen in die offiziellen Auffanglager zu fahren, meldete das Staatsfernsehen.

Im Überseehafen Piräus leben 5000, in Idomeni 12.000 Migranten. Bisher sind nur wenige bereit, sich innerhalb Griechenlands umsiedeln zu lassen. Aktivisten und Helfer kleinerer Hilfsorganisationen bestärken sie darin. Als Grund nennen einige Aktivisten, nur wenn die Migranten zusammen blieben und die Welt ihr Elend sehe, könnten sie nach Mitteleuropa weiterreisen.

Hunderte neue Flüchtlinge kommen derweil weiterhin aus der Türkei auf den griechischen Inseln an. Innerhalb von 24 Stunden hätten 225 neue Asylsuchende vom türkischen Festland auf Ägäis-Inseln übergesetzt, teilte der griechische Stab für die Flüchtlingskrise mit. Am Vortag waren 339 gekommen.

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siehe auch: Zeit Online

Lesbos: Warum die Fähren stillstehen

Die schnelle Abschiebung der Flüchtlinge stockt, die Asylanträge stauen sich. Bislang löst der EU-Türkei-Flüchtlingsdeal die Probleme nicht, sondern schafft neue.

Von Lenz Jacobsen, Lesbos

Schon an Tag zwei ist es wieder ruhig im Hafen von Mytilini auf Lesbos. Kein Journalisten- und Kamerapulk mehr, und vor allem: keine Fähren mehr, auf die Flüchtlinge Richtung Türkei verladen werden. Nicht von Lesbos und auch nicht von Chios. Die sogenannte Rückführung illegaler Migranten, das Kernstück des EU-Türkei-Deals, stockt schon kurz nach Beginn.

Die symbolisch wichtigen Bilder der Richtung Türkei ablegenden Fähre sind jetzt um die Welt gegangen. Doch über die 136 Menschen auf diesen Booten, die meisten Pakistani, die anscheinend gar nicht erst Asyl beantragt hatten, sagte selbst die Frontex-Sprecherin im Hafen von Lesbos: „Ich hasse es, das zu sagen, aber das waren die einfachen Fälle.“

Der schwere Teil beginnt erst jetzt.

Denn mittlerweile haben nach Auskunft des Flüchtlingshilfswerks UNHCR von 3.353 auf Lesbos registrierten Flüchtlingen mindestens 2.860 ihrem Wunsch nach Asyl in Griechenland Ausdruck verliehen. Die allermeisten von ihnen haben bisher nur eine Art Wartenummer erhalten, einen kleinen Zettel mit einer vierstelligen Zahl. Tatsächlich begonnen hat erst ein Bruchteil der Asylverfahren.

Bisher hatten die allerwenigsten Flüchtlinge auf den griechischen Inseln um Asyl gebeten, sie wollten lieber unregistriert weiterziehen in andere europäische Länder. Nun ist das erstens wegen der geschlossenen Grenze zu Mazedonien und der Umwidmung der Lager auf den Inseln zu Gefängnissen nahezu unmöglich geworden. Und zweitens scheinen die allermeisten in diesen Gefängnissen nun verstanden zu haben, dass ein Asylantrag in Griechenland momentan ihre beste Chance ist, die Abschiebung zurück in die Türkei zumindest zu verzögern.

Raus aus Europa, so will es die EU

Dazu haben auch die Aktivisten auf der Insel beigetragen: Einige waren am Montag, nachdem die ersten Fähren abgelegt hatten, hinaufgelaufen zum Gefängniscamp Moria, hatten die Insassen an die Zäune gerufen und auf sie eingeredet, um Asyl zu bitten.

Nun, nach diesen Tausenden neuen Anträgen, ist Maria Stavrapoulou am Zug. Sie ist die Leiterin der griechischen Asylbehörde. Ihre Mitarbeiter sollen jedes einzelne Asylverfahren auf den griechischen Inseln eigentlich nach maximal zwei Wochen abgeschlossen haben – und zwar möglichst mit einem negativen Bescheid. Damit Menschen zurück auf die Fähren in die Türkei gesetzt werden können. Raus aus Europa. So will es die EU.

Das Problem aber ist: Maria Stavrapoulou hat dafür nur 295 Mitarbeiter im ganzen Land. Bisher dauern die Verfahren nicht wenige Tage, sondern drei Monate. Eigentlich, sagte sie schon am Freitag, bräuchte sie nun 20-mal mehr Mitarbeiter. Da sie die nicht hat, soll Europa aushelfen. 150 Polizisten aus anderen Ländern arbeiten mittlerweile unter Frontex-Koordination auf der Insel. Darunter zum Beispiel deutsche Bundespolizisten, die im Schichtdienst das sogenannte Screening übernehmen, also das erste Gespräch mit den Asylbewerbern. Hinzu kommen Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Davon sind aber erst zwölf überhaupt im Land, wovon wiederum acht erst seit Sonntag in Griechenland im Eilverfahren zusammen mit internationalen Kollegen geschult werden, bevor sie am Mittwoch nach Lesbos kommen. Das alles ist ziemlich weit weg von Stavrapoulous geforderter Verzwanzigfachung.

Das Problem ist aber nicht nur der Mangel an Mitarbeitern. Die gesamteuropäische Kraftanstrengung auf den griechischen Inseln hat auch Koordinationsprobleme. Denn so gern sehen es die griechischen Beamten nicht, dass nun Kollegen aus anderen Ländern dabei mitreden, welche Menschen in Griechenland bleiben dürfen und welche nicht. Das ist schließlich eine hoheitliche Aufgabe, weswegen die deutschen und all die anderen den Griechen nur zuarbeiten dürfen. Diese Zusammenarbeit scheint, das ist aus dem Camp Moria zu hören, noch nicht wirklich gut zu klappen.

Schiebt die Türkei nach Syrien ab?

Chefin Stavrapoulou wehrt sich außerdem gegen politischen Druck aus anderen Ländern. „Es kann nicht darum gehen, dass ein anderer EU-Staat uns seine niedrigen Standards und Regeln aufdrückt“, sagte sie der amerikanischen Nachrichtenseite Daily Beast. „Wir sind unter Druck, das zu tun – restriktive Praktiken umzusetzen, die wir in anderen Zeiten schlechte Praktiken nennen würden.“

Nun könnte man eigentlich denken, dass die Verfahren einfach und schnell zu entscheiden sind. Schließlich kommen alle Flüchtlinge über die Türkei nach Lesbos. Wenn die Türkei für die Flüchtlinge also sicher ist, können sie auch da bleiben und Asyl beantragen.

Doch so einfach ist es nicht. Denn die EU hat sich entsprechend der eigenen Gesetze darauf festgelegt, dass jeder Fall einzeln geprüft werden muss: Keine „Kollektivabschiebungen“, das war das Versprechen von Brüssel. In der Praxis heißt dass, das jeder einzelne Einwände gegen seine Abschiebung in die Türkei vorbringen kann. Zum Beispiel, wenn er dort von der Polizei geschlagen oder bestohlen wurde, wie gleich mehrere Flüchtlinge am Zaun des Lagers erzählen. Oder wenn er oder sie als Kurde sich nicht mehr sicher fühlt in dem Land. Und gegen eine negative Asylentscheidung muss jeder einzelne wiederum Einspruch einlegen können.

Noch immer täglich neue Flüchtlinge

Unklar ist auch, was der Bericht von Amnesty International für die Rückführungspraxis bedeutet, nach dem die Türkei täglich Hunderte Syrer zurück in ihr Bürgerkriegsland abgeschoben hat. Eine Praxis, die internationalem Recht widerspräche und in der Konsequenz die Abschiebung von Syrern in die Türkei unrechtmäßig machte. Es ist kein Zufall, dass auf den beiden Abschiebefähren am Montag nur zwei Syrer saßen und sich die griechischen Behörden beeilten zu versichern, diese beiden hätten von sich aus und aus familiären Gründen um die Rückkehr dorthin gebeten.

Unterdessen kommen noch immer jeden Tag neue Menschen aus der Türkei auf den griechischen Inseln an. 339 zählten die Behörden zuletzt innerhalb von 24 Stunden. Deutlich mehr also als die zurückgeschickten 200. Während am Montag am einen Ende des Hafens von Lesbos Menschen auf Fähren verladen wurden, brachte nur ein paar Meter weiter die griechische Küstenwache einmal mehr Flüchtlinge an Land, die sie auf offener See aufgefangen hatte. Die Abschreckung funktioniert bisher nicht.

Das also ist die Situation auf den griechischen Inseln an Tag zwei dieser entscheidenden Phase in der Umsetzung des EU-Türkei-Deals: Die Fähren legen nicht mehr ab, die Asylverfahren stauen sich, und die Gefängnislager auf den Inseln werden immer voller.

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