18. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Die Manager der Flüchtlingskrise“ · Kategorien: Deutschland

Quelle: FAZ

Auf allen staatlichen Ebenen wird wahnsinnig viel gearbeitet, um den Flüchtlingsstrom zu lenken. Die Organisation in den zuständigen Behörden klappt immer besser, der logistische Aufwand zur Versorgung hunderttausender Menschen ist riesig.

von Peter Carstens

Ein Mittwochmorgen im Advent. Seit sechs Uhr arbeiten im Innenministerium die ersten Mitarbeiter des Koordinierungsstabes. Ihre Kollegen von der Spätschicht haben das Ministerium gegen Mitternacht verlassen, danach hat das allgemeine Lagezentrum gewacht. In den vielen Büros rund um den zentralen Lagerraum mit seinen Karten und Computern wird telefoniert, werden Mails ausgedruckt, Tabellen ergänzt. Wolfgang Lohmann, der Stabsleiter, sorgt dann für die Verteilung der wichtigsten Informationen an Ministerien und Behörden, bundesweit.

Die Frühschicht analysiert die Flüchtlingszahlen der vergangenen Stunden, bereitet sie grafisch auf, verzeichnet besondere Vorkommnisse. An der Grenze zwischen Mazedonien und Griechenland bleibt die Lage angespannt, in Österreich roden Soldaten des Bundesheeres ein Waldstück, um einen Grenzzaun zu errichten. Im östlichen Mittelmeer bleibt die See rauh. Das Auswärtige Amt meldet dem Stab die Zahlen der Migranten, die sich aktuell auf der Westbalkanroute befinden: 17.300. Das Verkehrsministerium hat die Sonderzüge eingeteilt, mit denen heute Flüchtlinge von der Grenze ins Landesinnere transportiert werden.

Vom großen Durcheinander zur geschmeidigen Krisenmaschinerie

Es ist etwas ruhiger geworden um die Flüchtlingslage und Attribute wie Welle, Lawine, Ansturm oder gleich: das Flüchtlingschaos, der Untergang. Monatelang hat die Debatte alle Schlagzeilen dominiert, die Bundesregierung war zum realitätsfernen Raumschiff erklärt worden. Die Aufregung hat sich gelegt. Politik und Verwaltungen gelingt es immer besser, Ankunft, Verteilung und Unterbringung zu managen. Dabei ist die Situation unverändert geprägt von mehreren tausend Zuwanderern, die täglich über Österreich nach Deutschland kommen.

Was sich hingegen in den letzten Woche stark verbessert hat, ist die staatliche Organisation. Aus dem großen Durcheinander entlang der österreichisch-bayerischen Grenze, einem ächzenden Räderwerk verschiedenster Bürokratien und knirschendem Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen entsteht ganz allmählich eine geschmeidige Krisenmaschinerie. Gestützt auf Bundespolizei und Bundeswehr, aber auch auf Tausende Freiwillige und erprobte Hilfsorganisationen wie beispielsweise das Deutsche Rote Kreuz, beherrscht sie allmählich die Lage. Natürlich gibt es hässliche Ausnahmen, etwa in Berlin, wo am zuständigen Landesamt seit Monaten die eiskalte Unfähigkeit der Stadtverwaltung zur Schau gestellt wird. Wahrscheinlich kennt fast jeder weitere Beispiele. Dennoch: Im Großen und Ganzen funktioniert es.

Eine, die dafür Verantwortung trägt, ist Emily Haber. In ihrem Büro im Innenministerium bekommt die Staatssekretärin am Morgen die aktuellen Zahlen aus dem Koordinierungsstab: 3358 Personen haben seit gestern die Grenze nach Bayern überquert, ein Drittel davon kommt aus Syrien, fast die Hälfte inzwischen aus Afghanistan, wenige noch aus den Balkanstaaten. Emily Haber ist eine erfahrene Diplomatin aus dem Auswärtigen Amt, die nach der letzten Bundestagwahl eher zufällig ins Innenministerium geraten ist. Bei ihr laufen in diesen Tage viele Fäden zusammen, denn sie ist für den Minister Thomas de Maizière die Cheforganisatorin der Flüchtlings- und Asylbewerberaufnahme.

Habers Woche ist vollgestopft mit Konferenzen, Koordinierungsrunden, Abstimmungstreffen aller beteiligten Bundesministerien und Behörden. Einmal pro Woche leitet sie die Sitzungen des Lenkungsausschusses zur Flüchtlingslage, dem Staatssekretäre aus allen Ressorts der Bundesregierung angehören. Mittwochs ist sie dabei, wenn sich im Kanzleramt Ländervertreter, meist die Chefs der Staatskanzleien, mit Beamten aus den Bundesministerien treffen.

Es fehlen nach wie vor Hunderte Mitarbeiter

Haber hat im Innenministerium die praktische Arbeit auf Touren gebracht. Anders als ihr Minister, der im Sommer außerdem politisch und physisch schwächelte, musste sie sich nicht um Fernsehauftritte, Parteitage oder Höflichkeitsbesuche in Aufnahmeeinrichtungen kümmern. Haber konnte von früh bis spät im Ministerium schuften. Und das tat sie auch. An der Spitze ihres Stabes steht der bereits erwähnte Wolfgang Lohmann, Typ Fels in der Brandung, lächelnder Fels. Der gebürtige Niedersachse ist normalerweise Inspekteur der Bereitschaftspolizeien der Länder, ein Bundespolizist mit jahrzehntelanger Erfahrung in polizeilichen Großlagen und auch bei Katastrophen wie dem ICE-Unglück in Eschede 1998.

Lohmann, achtundfünfzig Jahre alt, gehört zu den kühlen Herzensmenschen, die in solchen Situationen nicht die Nerven verlieren. Leute seines Schlages, immer öfters auch Frauen, findet man in diesen Monaten bei fast allen Spitzenorganisationen des Bundes und der Länder – bei Polizei und Heer, in den Ministerialbürokratien, in Stadtverwaltungen, unter Landräten, beim Technischen Hilfswerk oder bei den Maltesern. Allerdings hat es eine Weile gedauert, ehe es gelungen ist, die vielen Kapazitäten und Begabungen zusammenzubringen.

Mancherorts, etwa beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf), fehlen nach wie vor Hunderte Mitarbeiter, trotz täglicher Neueinstellungen. Frank Weise organisiert seit Oktober das Amt neu. Gemessen an seiner bisherigen Behörde, der Bundesagentur für Arbeit mit über 100.000 Beschäftigten, ist das Bamf ein kleiner Laden. Allerdings einer mit Riesenproblemen. Um sie zu lösen, müssen alle zusammenarbeiten, auch die Computer. Ohne sie gibt es keine Ordnung, das schien lange keinem aufgefallen zu sein. Für Frank Weise ist es ein Glück, dass sein bisheriger IT-Spezialist neuerdings im Innenministerium arbeitet, als Staatssekretär für die Informationstechnologie. Der Druck ist enorm.

Denn in diesem Jahr ist viel Zeit verloren worden: Erst wurde die Situation unterschätzt, dann zur Willkommensfeier hochgejubelt. Später entstanden Chaos und Unruhe, Städte und Landkreise drohten in die Knie zu gehen. Es folgten Wochen des föderalen Hickhacks. Schlussendlich fanden alle zusammen. Bundeskanzlerin Merkel errichtete Anfang Oktober über Habers und de Maizières Bemühungen ein größeres organisatorisches Dach: Das Kanzleramt wurde zuständig. Nicht weil dort so viel praktische Kompetenz gebündelt wäre – im Gegenteil, das Amt ist mit rund sechshundert Mitarbeitern eher klein.

Merkel machte Altmaier zum Flüchtlingskoordinator

Allerdings hatte sich im Laufe des Spätsommers herausgestellt, dass dem Innenministerium bei der Bund-Länder-Zusammenarbeit und auch gegenüber anderen Ressorts das protokollarische Gewicht fehlte. Vielleicht mangelte es de Maizière auch am nötigen Quantum Charisma, um darüber hinwegzuregieren. Dazu kam: Die selbstbewussten Ministerpräsidenten hatten keine Lust, sich vom Bundesinnenminister koordinieren zu lassen. Dazu muss man wissen, dass ein Bundesinnenminister selbst bei den Treffen seiner Länderkollegen der Innenministerkonferenz nur Gast sein darf, quasi geduldet von den kleinen Prinzen aus den Fürstentümern. Die Flüchtlingslage war aus Sicht des Kanzleramtes nicht der rechte Zeitpunkt für Rangspielchen.

Also beauftragte Merkel Anfang Oktober Kanzleramtsminister Peter Altmaier damit, als Flüchtlingskoordinator die politische Schirmherrschaft zu übernehmen. Altmaier tat das gerne, denn die neue Position ermöglicht es dem geselligen Saarländer, wieder etwas häufiger aus der Rolle „grauen Eminenz“ zu treten. Altmaier ist ein erfahrener Abgeordneter. Er hatte als Geschäftsführer die Fraktion zusammenzuhalten und ordnete als Umweltminister die Energiepolitik. Davor war er zwischen 2005 und 2009 einige Jahre Parlamentarischer Staatssekretär im Innenministerium. Er kennt sich also aus.

Um seine Arbeit zu erleichtern und den Koordinierungsanspruch zu untermauern, hat Altmaier im Kanzleramt eine eigene Stabstelle errichtet, wo ihm Juristen, Offiziere und erfahrene Beamte den nötigen Überblick verschaffen. An die Spitze der Stabsstelle holte sich Altmaier den achtundvierzig Jahre alten Juristen Jan Hecker. Er kennt ihn seit seiner Zeit im Innenministerium. Hecker gehörte damals zu einer ambitionierten Jungbrigade, die inzwischen Karriere gemacht hat. Hecker ging für zwei Jahre zum Verfassungsschutz und war im Innenministerium Referatsleiter für Ausländerrecht. Dann wurde er, auch mit Altmaiers Unterstützung, vor vier Jahren Richter am Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Als Altmaier sich an Hecker wandte, musste er nicht lange bitten.

Die „G-Länder“ – der eigentlich starke Machtblock der Opposition

Im Kanzleramt arbeitet schon länger Helge Braun. Der CDU-Bundestagsabgeordnete und gelernte Arzt aus Gießen kam 2013 als Staatsminister zu Angela Merkel. Er ist für Bürokratieabbau und die Beziehungen zu den Ländern zuständig. Logisch, dass er nun im Rahmen einer Arbeitsgruppe mit den Chefs der Staatskanzleien oder anderen Entsandten politische Entscheidungen zur Flüchtlingslage koordiniert. Zu den Leuten, mit denen Braun viel zu tun hat, gehört auch der Grüne Volker Ratzmann, der unter dem etwas unscheinbaren Titel „Dienststellenleiter“ nicht nur die Berliner Landesbotschaft seines Ministerpräsidenten Kretschmann führt, sondern auch die „G-Länder“ koordiniert, Bundesländer mit grüner Regierungsbeteiligung.

Das sind derzeit neun, ein starker Machtblock der Opposition, eigentlich. Denn hier kommt gelegentlich Altmaier ins Spiel, der das Wörtchen „eigentlich“ mit Argumenten, Charme und manchmal auch Bundesgeldern zur Geltung bringt, indem er jeweils Grüne überzeugt, Vorhaben der großen Koalition im Bundesrat nicht zu blockieren. Dann hilft das Kanzleramt den Ländern umso lieber aus manchen Schwierigkeiten, mit vielen hundert Millionen Euro, aber auch ganz praktisch, etwa indem mehr als 110.000 Plätze in Bundesliegenschaften zur Verfügung gestellt wurden, obgleich Flüchtlingsunterbringung eigentlich Ländersache ist.

Es müssen weitere, noch größere Organisationsleistungen her

Für eine Beruhigung der Lage hat auch gesorgt, dass die Verteilung der Flüchtlinge aus Bayern heraus nicht mehr als eine Art permanenter telefonischer Bittebittedienst aus München organisiert wurde, sondern als „Koordinierungsstelle Flüchtlingsverteilung“ (KOST) in Bundesregie und seit November unter der Verantwortung des Verkehrsministeriums. Alleine über diese Stelle wurden in diesem Jahr bisher 325.000 Migranten mit Bussen und Sonderzügen in die Länder verteilt. An diesem Mittwoch sind es wieder vier Züge, etwas weniger als in den Hoch-Zeiten.

Einer davon, der IC 2943 mit etwa 400 Fahrgästen, wird München am Abend verlassen und am nächsten Morgen in Berlin-Schönefeld eintreffen. Ein anderer fährt nach Mannheim, ein dritter nach Nordrhein-Westfalen, das nach dem Verteilungsschlüssel die meisten Flüchtlinge aufnehmen muss, 21,72 Prozent, also ungefähr 200.000. Kleine Länder müssen weniger nehmen, Sachsen-Anhalt zum Beispiel 2,8 Prozent aller registrierten Flüchtlinge. Natürlich wachen Lohmann und seine Leute auch darüber, dass diese Quoten eingehalten werden. Er findet: Das klappt gut. Dahinter verbergen sich allerdings ungeheure Anstrengungen. Alleine für die Verpflegung: Auch an diesem Adventsmittwoch geben gegen Mittag viele Helfer in den Erstunterkünften zwischen Niebüll und Passau das Essen aus. Dreimal pro Tag werden in Turnhallen, Zeltdörfern, Wohnanlagen oder ehemaligen Kasernen Mahlzeiten für einige Hunderttausend Menschen ausgegeben, dreimal pro Tag, macht zusammen zig Millionen Essen pro Monat.

Im zweiten Jahr der großen Migrationsbewegung und Flüchtlingsankünfte in Deutschland scheint die Unterbringung und alltägliche Versorgung der allermeisten Neuankömmlinge immer besser zu gelingen. Das ist ein erster Erfolg. Jetzt wird es darauf ankommen, die Zahl der neu Eintreffenden zu verringern, Europa soll helfen. Und gleichzeitig müssen weitere, noch größere Organisationsleistungen her: schnellere Asylverfahren, konsequente Abschiebung der abgelehnten Bewerber, Sprachkurse, Aus- und Fortbildungsangebote, Bauprogramme für dauerhaftes Wohnen, die Integration in den Arbeitsmarkt – das sind einige der Aufgaben der nächsten Jahre. Da gibt es noch viel zu organisieren für die Logistiker der Flüchtlingslage.

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