06. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Wie Europa auf Lesbos versagt“ – Teil 2 · Kategorien: Europa, Griechenland · Tags:

Quelle: Telepolis

Hunderte Menschen starben in diesem Jahr vor der Küste von Lesbos

von Fabian Köhler

Die Wärme, die Europa an diesem Abend spendet, stammt von einem Haufen brennender Schwimmwesten. Ahmad und ein paar andere Flüchtlinge hatten sie angezündet, noch bevor die fremden Männer und Frauen in Neoprenanzügen kamen und Wärmeschutzdecken brachten. Vor drei Monaten entschloss sich der 17-jährige Ahmad zur Flucht aus seiner afghanischen Heimatstadt Razni. Nun sitzt er am Ufer von Lesbos, eingehüllt in eine goldene Folie, die auch kaum etwas gegen die Kälte seiner nassen Klamotten ausrichten kann.

Die Insel, der im Reiseprospekt als „Wohlfühlinsel zum Wohlfühlpreis“ beschrieben wird, ist zum Symbol von Europas Krise mit den Flüchtlingen geworden. Und zu einem der vielen Schauplätze für die Krise hunderttausender Flüchtlinge mit Europa. Über eine halbe Million Menschen haben in diesem Jahr die Überfahrt von der Türkei auf eine der griechischen Inseln gewagt. Im Oktober kamen über 100.000 Flüchtlinge – allein nach Lesbos.

Wo Ahmad und die 40 anderen irakischen, syrischen, afghanischen und iranischen Flüchtlinge aus seinem Boot jetzt zittern, lagen vor ein paar Wochen noch türkische und deutsche Urlauber. Berge aus Schwimmwesten stapeln sich im Sand. Die Wasserkante säumt ein Band aus den Überresten jener schwarzer Gummiboote, die tausenden Menschen ein neues Leben versprachen. Kilometerlang geht das so.

Freiwillige aus Spanien übernehmen den Job der griechischen Küstenwache

Lucia heißt eine der Frauen in Neoprenanzug, die Ahmad und die anderen in Empfang nehmen. Für die 29-jährige Spanierin ist es irgendeines der zwischen 10 und 15 Boote an diesem Abend. So genau weiß sie das nicht mehr. Auch nicht, wie viele blasse Kinder sie schon in Rettungsdecken eingewickelt hat. Normalerweise bringt Lucia Kindern in Barcelona das Schwimmen bei.

„Eigentlich arbeiten wir als professionelle Rettungsschwimmer an den Stränden von Barcelona“, erzählt ihr Kollege Oriol. Als im September Medien voll waren mit Bildern von ertrinkenden Menschen, habe ihr Chef sie gefragt, ob sie bereit wären, auf Lesbos zu arbeiten. Ohne Bezahlung und in ihrer Urlaubszeit. „Wir haben alle ja gesagt“, sagt Oriol.

Hunderte Menschenleben haben allein die Rettungsschwimmer der spanischen Rettungsschwimmer-NGO „ProActiva Open Arms“ gerettet. „Vor drei Wochen hatten wir gleichzeitig 300 Menschen im Wasser“, erinnert sich Oriol. Vier Stunden lang hätten sie mit ihren Jet Skis immer neue halb erfrorene Menschen aus dem Meer gezogen. Am nächsten Morgen lagen dennoch dutzende Leichen an den Stränden.

Mindestens 500 Menschen sind laut der „International Organisation of Migration“ vor der Küste von Lesbos in diesem Jahr gestorben. Es wären wahrscheinlich noch viel mehr ohne die rund 100 Freiwilligen, die Flüchtlinge auf Lesbos retten: vor dem Ertrinken, dem Erfrieren, dem Verdursten und der Verzweiflung. Und vor der Tatenlosigkeit europäischer und griechischer Behörden.

Am nächsten Tag liegen dennoch die Kinderleichen am Strand

„Früher irrten die Flüchtlinge oft stundenlang mit nassen Klamotten durch die Nacht“, erzählt Mika. Die 25-jährige Holländerin steht hinter einem Tisch mit Marmeladenbrot-Scheiben, Wasserflaschen und Falafel-Bällchen. Sie ist eine der Freiwilligen im Camp „Oxi“. So heißt das größte von drei provisorischen Flüchtlingslagern entlang der 20 Kilometer langen Küste, die die beiden griechischen Orte Molyvos und Skala Sikamineas verbindet. Keines der Camps wurde von lokalen Behörden genehmigt, geschweige denn betrieben.

„Wir haben Oxi einfach gebaut“, erzählt Mika. Die NGO dazu entstand erst später. „Starfish“ ist von rund 20 Organisationen, die sich im Norden von Lesbos um Flüchtlinge kümmern. Andere sind die israelischen Ärzte von IsraAid, die norwegischen Aktivisten von „Drop in the Ocean“ oder Guyestto von der niederländischen NGO „Bootvluchteling“.

Die Strecke, die hinauf zu Guyesttos staubigen Transporter führt, könnte auch gut einen Parcours für Off-Road-Motorräder hergeben, lägen nicht auch hier überall die orangefarbenen Schwimmwesten am Straßenrand. Acht Kilometer ist die Türkei von dem Hügel entfernt, von dem der 29-jährige Niederländer das Meer überwacht, sagt Google Maps. „Da kann man doch hinüberschwimmen“, sagt fast jeder, der zum ersten Mal an der Küste steht.

„1.500 Dollar“, sagt der türkische Schlepper und meint einen Platz im völlig überfüllten Gummiboot. „30 Euro“, sagt der lokale Fähranbieter, meint aber keine Flüchtlinge. „Ich weiß nicht, wie viele Leute wir an diesem Tag wiederbelebt haben. Sieben, acht, neun…“, sagt Guyestto „Und am nächsten Tag läufst du den Strand entlang und siehst die blassen Körper der Kinder, denen wir nicht helfen konnten.“

Behörden weigerten sich, den Aufbau von ein paar Zelten zu genehmigen

So allgegenwärtig der Wille zu helfen unter den Freiwilligen ist, so spürbar ist auch der Frust über die Versagen griechischer und europäischer Behörden. Wochenlang bemühten sich UNHCR und das Internationale Rotes Kreuz um die Genehmigung, die man braucht, um an der Küste ein paar Zelte aufzustellen. Schließlich taten es Aktivisten einfach so.

Eine Gruppe freiwilliger griechischer Rettungsschwimmer darf nur auf dem Land retten, weil ihnen die Küstenwache nicht erlaubt, aufs Meer hinaus zu fahren. Ein dringend benötigter Krankenwagen aus Schottland darf nicht benutzt werden, weil die Behörden den nötigen Antrag noch nicht bearbeitet haben. Bewohner der Insel, die Flüchtlinge in ihren Autos mitnehmen, mussten bis vor kurzem hohe Geldstrafen zahlen. Die 50 Kilometer bis zum Registrierungszentrum in Moria liefen viele Flüchtlinge deshalb zu Fuß.

Es wird wahrscheinlich noch Tage dauern bis auch der 17-jährige Ahmad dort ankommt. Als er sich mit den anderen Flüchtlingen auf den Weg zum von Helfern errichteten Zeltlager macht, fährt schon wieder der nächste Kleinbus durch die Nacht. Die Scheinwerfer des Mietwagens der norwegischen Hilfsorganisation „Drop in the Ocean“ münden in den müden Gesichtern afghanischer Flüchtlinge am Straßenrand. „Noch 15 Minuten in die Richtung, dort bekommt ihr Essen und Kleidung“, ruft ihnen einer der Helfer zu.

Ein paar Minuten später schreit wieder eine junge Frau nach ihrem Sohn. Zwei Iraker küssen betend den Kies. Ein grauer Syrer bricht heulend in der Böschung zusammen. Das schwache Licht von Handy-Bildschirmen schimmert vom Wasser. Und Freiwillige in Neoprenanzügen nehmen die nächsten Flüchtlinge in Empfang.

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