01. Dezember 2015 · Kommentare deaktiviert für „Totale Grenzsicherung und Menschenrechte passen nicht zusammen“ · Kategorien: Deutschland · Tags: , ,

Quelle: Zeit Online

Plötzlich reden alle von staatlichen Kontrollen statt von der Situation der Flüchtenden. Migrationsforscher warnen davor. Die moderne Gesellschaft könnte Schaden nehmen.

Ein Gastbeitrag von Albert Scherr

Im politischen Diskurs gewinnen Stimmen an Einfluss, die nicht mehr die Situation der Flüchtenden – die Flüchtlingskrise – als zentrale Herausforderung begreifen, sondern die Grenzen der Aufnahmefähigkeit und Aufnahmebereitschaft ins Zentrum stellen. Der nunmehr zwischen der EU und der Türkei vereinbarte Aktionsplan ist ein weiteres Element einer Entwicklung, in der die Kontrolle der Flüchtlingsmigration stärker gewichtet wird als die Achtung menschenrechtlicher und rechtsstaatlicher Prinzipien.

Flüchtlinge werden als Bedrohung von Wohlstand und Sicherheit inszeniert. Die Flüchtlingskrise wird von einer humanitären Katastrophe in eine Krise der staatlichen Kontrolle der Außengrenzen umdefiniert. Das mündet logisch konsequent in die Forderung, ein Regime der Grenzkontrollen zu errichten, das für unerwünschte Flüchtlinge undurchlässig ist. Denn nur so ließen sich eine konsequente Steuerung von Zuwanderung und eine numerische Obergrenze auch wirksam durchsetzen.

Unter deutschsprachigen Migrations- und Flüchtlingsforschern unterschiedlicher Disziplinen ist es jedoch bislang Konsens, dass eine totale Kontrolle von Zuwanderung, unter Achtung menschenrechtlicher Prinzipien und völkerrechtlicher Grundsätze, nicht möglich ist. Denn eine solche Kontrolle würde erfordern, dass Migranten der Zugang zum Staatsgebiet verwehrt wird, ohne dass sie Anspruch auf eine rechtsstaatliche Überprüfung ihres Anspruchs haben, als Asylberechtigte, Flüchtlinge oder nachrangig Schutzberechtigte anerkannt zu werden. Das heißt: Ohne Zäune oder Mauern, die bewacht und bei Bedarf auch bewaffnet verteidigt werden, lassen sich eine umfassende Regulierung sowie eine absolute Begrenzung der Zahl aufzunehmender Flüchtlinge nicht durchsetzen.

Internierung von Kindern und Jugendlichen

Eine andere Position nimmt der US-amerikanische Flüchtlingsforscher Demetrios Papademetriou, Mitbegründer der in Washington angesiedelten Denkfabrik Migration Policy Institute ein. In einem Interview mit der ZEIT behauptet er dezidiert, dass eine effektive Grenzkontrolle praktisch machbar und rechtlich legitim sei. Als Erfolgsmodell wird dargestellt, wie unerwünschte minderjährige Flüchtlinge an der Südgrenze der USA an der Einreise gehindert werden. Dafür wurden Kinder und Jugendliche interniert und sowohl die Prüfverfahren als auch die Abschiebung der Abgelehnten beschleunigt.

Undokumentierte, schutzlose Einwanderer sind eine Folge der Grenzsicherung

Doch dabei handelt es sich um Kontrollfantasien. Folgende Einwände sprechen gegen ihre Machbarkeit:

Undokumentierte Einwanderer: Selbst drastische Maßnahmen der Grenzsicherung und Deportation, wie sie die USA realisieren, verhindern Einwanderung nicht. Sie führen aber unter anderem dazu, dass Flüchtlinge sich staatlicher Kontrollen entziehen, also zu undokumentierten und damit zu weitgehend rechtlosen Einwanderern werden. Deren Zahl wird für die USA auf 12 Millionen geschätzt.

Schutzlose Einwanderer: Die Anwesenheit undokumentierter Migranten erzeugt erhebliche Folgeprobleme, nicht zuletzt beim Schutz vor Gewalt und anderen Straftaten, zum Beispiel vor ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Denn wer den Kontakt mit staatlichen Instituten fürchten muss, den schützt das Recht nicht und der steht auch nicht als Zeuge zur Verfügung,

Menschenrechte: Nicht alles, was rechtlich zulässig ist, lässt sich auch moralisch rechtfertigen. Das zeigt sich schon darin, dass die Todesstrafe in den USA rechtlich vorgesehen ist, obwohl sie gleichwohl dem elementaren Prinzip der unantastbaren Menschenwürde widerspricht. Eine bloß rechtspositivistische Argumentation kann die Frage also nicht beantworten, welche moralischen Maßstäbe im Umgang mit Flüchtlingen anzulegen sind, wenn die Menschenrechte als grundlegende Werte gelten sollen.

Genfer Konvention und UN-Kinderrechtskonvention: Flüchtlinge an den Außergrenzen zurückzuweisen, ohne ihr Anliegen rechtlich zu überprüfen und sie der Gefahr auszusetzen, ausgewiesen oder abgeschoben zu werden, lässt schon das geltende Recht auf Grundlage der Genfer Konvention nicht zu. Und eine auf Abschreckung zielende Internierung von Minderjährigen ist in den USA – anders als in Europa – nur deshalb möglich, weil die USA die UN-Kinderrechtskonvention nicht unterzeichnet haben, und damit ein zentrales Instrument des modernen Menschenrechtsschutzes.

Aus diesen knapp skizzierten Beobachtungen lässt sich ableiten, dass die Achtung der Menschenrechte einerseits und Versuche, die Zuwanderung unerwünschter Flüchtlinge im Sinne nationaler Interessenkalküle zu verhindern andererseits, in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis stehen. Dieses betrifft auch demokratische Grundsätze, denn nur eine totale Überwachung nicht nur an den Außengrenzen, sondern auch im Landesinnern, könnte diejenigen darin hindern, illegal einzureisen, denen die Chance auf Anerkennung als Flüchtlinge verwehrt wird.

Der vorläufig rechtliche Höhepunkt des flüchtlingspolitischen Abschreckungsdiskurses ist das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz – das zu der Befürchtung Anlass gibt, dass die Verpflichtung auf menschenrechtliche Prinzipien schrittweise aufgekündigt wird. Diesem Gesetz liegen vor allem Machterhaltungsinteressen zugrunde, die Auswirkungen haben werden: Es gibt deutliche Anzeichen dafür, dass der politische Umgang mit der Flüchtlingskrise zu einem fortschreitenden Bedeutungsverlust der Menschenrechte, zu einer Erosion menschenrechtlicher Standards führen kann – also zu einer gravierenden Selbstbeschädigung der modernen Gesellschaft.

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