08. November 2015 · Kommentare deaktiviert für „Wohnungsbau für Flüchtlinge Die Stunde der Architekten“ · Kategorien: Deutschland

Quelle: FAZ

Für Flüchtlinge müssen Hunderttausende von Häusern gebaut werden. Der Wohnungsbau entscheidet mit über die Zukunft des Landes. Wo bleiben die großen Entwürfe?

von Niklas Maak

Dies ist die Stunde der Architekten. Oder besser gesagt: Sie könnte es sein. Denn selten hing die Zukunft einer ganzen Gesellschaft so sehr an dem, was wo und wie gebaut wird. In den kommenden Jahren werden Millionen von Menschen nach Deutschland kommen, und selbst wenn man das Land morgen mit einem gigantischen Wall einmauerte, gäbe es schon heute mehr als eine Million Flüchtlinge, von denen viele bleiben werden. Das bedeutet: Es muss gebaut, umgebaut, Wohnraum für Millionen geschaffen werden. Aber wie? An der Frage, wie die Flüchtlinge und ihre Wohnungen integriert werden in die Räume und die sozialen Strukturen von Städten und Dörfern, hängt auch die Frage, ob ihre Ankunft als Chance oder Belastung wahrgenommen wird: die Frage des sozialen Friedens.

Wohin der Bau von schnell hochgezogenen Hochhausgettos für Neuankommende führen kann, sieht man in den französischen Vorstädten. Schon deswegen wäre dies der Moment, über das Zusammenleben in den Städten und in einem Land nachzudenken, das um Millionen von Menschen wachsen wird. Aber das Gegenteil ist der Fall: Je höher die Flüchtlingszahlen werden, desto mehr schrumpft der Anspruch an das, was gebaut werden soll. Im Februar war noch die Rede von 300 000 Flüchtlingen, jetzt ist man inoffiziell bei etwa anderthalb Millionen. Ein Problem ist die Erstunterbringung; ein viel grundlegenderes aber die Frage, wo diejenigen, die bleiben, wohnen sollen und wie sich ihre Ankunft auf den ohnehin überlasteten Bestand an bezahlbaren Wohnungen auswirken wird.

Spricht man mit Vertretern der Behörden, so herrscht dort blanke Panik. Niemand war darauf vorbereitet, Zigtausende von Wohnungen in nur einem Jahr nicht nur planen und genehmigen, sondern auch fertigstellen zu müssen. Die Lösung heißt jetzt „Modulbau“; aber kaum jemand kann sagen, wie diese Module aussehen werden. Ein Mitarbeiter der Berliner Baubehörde, der nicht namentlich genannt werden möchte, erklärt gegenüber dieser Zeitung, man steuere auf „ein schwarzes Loch zu“: Nie habe es eine Situation gegeben, in der Tausende von Fertigelementen bestellt wurden, ohne dass man wusste, zu was genau man sie hinterher zusammenschraubt. Ende 2016 werden die ersten neuen Modulbauten fertig sein. Kann man Entwürfe sehen? Nein. Warum nicht? Es gibt keine genauen Entwürfe. Es gibt nur quantitative Zahlen, Notfalltechnokratendeutsch, Quadratmeterangaben, Toilettenzahlen, Statikberechnungen, Aufstellungsorte.

Vinylteppiche von schwedischen Designern

Der Wohnungsbau litt schon immer darunter, dass man ihn vor allem als quantitatives Problem auffasste, und so wie eine gebaute Quadratmeterangabe mit ein bisschen archidekorativem Wohlfühllametta (kleiner Stahlbalkon, zweifarbig gestrichene Dämmputzfassade) sahen die Ergebnisse dann auch aus. Weiter reichende Fragen, wie und in welchen Konstellationen man wohnen will, was vor dem Haus passiert, was heute ein Platz ist, auf dem man sich trifft, oder wie man Arbeit und Wohnen zusammenbringen könnte, gerieten unter die Räder des Rechnungswesens. Was entstehen da für Städte? In der Hektik wird auf Architekten verzichtet. Jetzt, im Zustand akuter Baupanik, heißt die einzige Frage: Wer kann Modulsysteme liefern?

Es ist auch die Stunde der Geschäftemacher, der Containerproduzenten und Billigkartonbauer, und es rächt sich, dass eine Stadt wie Berlin ihre Internationale Bauausstellung abgesagt hat, bei der erforscht werden sollte, wie man mit kostengünstig vorfabrizierten Bauteilen lebenswerte neue Stadtviertel baut. Wo sind jetzt, wo man sie so dringend braucht wie seit Jahrzehnten nicht mehr, die Architekten, die wissen, wie man nicht nur Quadratmeterbedarf umbaut, sondern auch Räume, Plätze, Städte schafft, wie man den Bestand intelligent umbaut, aufstockt, verdichtet für einen Bruchteil des Geldes, das billiger Massenneubau kostet – und die wissen, wie man durch Standardisierung und Vorfabrikation Kosten senken kann, ohne dass dabei Container- und Billigmodul-Slums entstehen, die die sozialen Brennpunkte der Zukunft sein werden?

Das Einzige, was man in diesen Tagen zum Thema „Flüchtlinge und Architektur“ auf den Tisch bekommt, sind Meldungen, bei denen man nicht weiß, ob sie sich die lieben Kollegen von der Satirezeitschrift „Titantic“ ausgedacht haben. So teilt eine Münchner PR-Agentur mit, dass die Architekten des brandneuen „Schubhaftzentrums“ im österreichischen Vordernberg, in dem als illegal eingestufte Migranten auf ihre Abschiebung warten, sich „für Vinylteppiche des schwedischen Designunternehmens Bolon“ entschieden hätten, weil diese „ein wertiges Raum- und Wohngefühl“ schafften.

Der Bedarf ist nicht neu

Der für bleibensunwert erklärte Mensch darf sich in diesem Neubau vor seiner Abschiebung also noch einmal kurz am „wertigen Wohngefühl“ der ersten Welt erfreuen: Dies wäre ihr Preis gewesen! Die Architektur soll die Abschiebung weniger unangenehm machen, darauf sind die Architekten stolz: Es „konnte beim Bau durch eine innovative Fensterlösung auf Gitterstäbe verzichtet werden“, und wenn ein verzweifelter Familienvater ausflippt, verzeihen die verbauten Holzmaterialien das auch: „Seekiefer hat eine warme Wirkung und erhält durch ihre starke Maserung auch punktuell beschädigt ihre attraktive Erscheinung.“ Wo aber sind im Jahr der Flüchtlingsfrage die großen Entwürfe, die mehr können, als Abschiebungen ästhetisch zu veredeln?

Das Schweigen der Architekten ist umso erstaunlicher, als schon vor der Ankunft der Flüchtlinge über die Frage eines neuen massenhaften Wohnungsbaus nachgedacht wurde. Bereits vor der Flüchtlingskrise hatte der Staat, nach langen Jahren der Privatisierung der Innenstädte, erkannt, dass die Frage bezahlbarer Wohnungen gelöst werden müsste. Es gab einmal sechs Millionen Sozialwohnungen, heute sind es noch gerade 1,4 Millionen, und immer mehr fallen jedes Jahr aus der Sozialbindung. Gleichzeitig wachsen die Städte. Berlin wollte deshalb die Anzahl der Wohnungen der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften bis 2020 um 70 000 erhöhen. Jetzt müssen es deutlich mehr und die Wohnungen deutlich günstiger werden. Aber schon wegen der Anforderung des energieeffizienten Bauens wird das Bauen immer teurer, und Bundesumwelt- und -bauministerin Hendricks wehrt sich mit Händen und Füßen gegen eine Aufweichung der Energiestandards, die einige angesichts der Lage fordern.

Dabei dient das energetische Emissionsmodell, mit dem sich die Architekten zur Zeit herumschlagen müssen, vor allem der Dämmstoffindustrie. Viel intelligenter wäre es, einen erlaubten Pro-Kopf-Verbrauch, einen energetischen footprint, festzulegen: Jeder darf gleich viel Energie beim Wohnen verbrauchen, und er entscheidet, ob er das in einer etwas simpler gedämmten, kostengünstigen Vierzig-Quadratmeter-Behausung oder auf mit Schaumstoffdämmung, Gips und anderen ökologischen Sauereien vollverpackten hundert Quadratmetern tut. All diese Fragen werden aber nicht gestellt. Einige Institutionen versuchen zwar, die Architekten aus ihrem Dämmerschlaf zu holen: Das Deutsche Architekturmuseum in Frankfurt etwa sucht für ein Ausstellungsprojekt zur Flüchtlingslage Vorschläge, die bis zum 18. November eingereicht werden können. Doch bisher schweigen die deutschen Architekten fast ausnahmslos – anders als in Japan, wo 2011 nach dem Tsunami Architekten wie Shigeru Ban und Toyo Ito in Eigeninitiative wegweisende Notsiedlungen für die obdachlose Bevölkerung entwarfen.

Die Wiederbelebung verlassener Landstriche

Einer der wenigen deutschen Architekten, die sich des Themas annehmen, ist Jörg Friedrich. „Wir scheinen ohnmächtig zu sein, mit dem Flüchtlingsthema architektonisch und städtebaulich würdig umzugehen“, erklärte er und zeigt in einem Projekt, das er mit seinen Studenten entwickelte und das in dem Buch „Refugees Welcome“ vorstellt, wie mögliche Lösungen aussehen könnten. Eine neue Wohnarchitektur, wie sie Flüchtlinge, aber auch die wachsende Zahl der Menschen brauchen, die sich die uns bekannten Wohnformen in Zukunft nicht mehr leisten können werden, müsse, so Friedrich, in den Bestand integriert und nicht in Großblöcken auf die freie Wiese gedonnert werden: „Fünfzig bis sechzig Menschen sind deutlich konfliktfreier gemeinsam in einem Gebäude unterzubringen als Hunderte Traumatisierte in einer Turnhalle“, sagt er. Sie am Stadtrand wegzusperren in einer „Blechkistenarchitektur fördert Aggression, Gewalt, Abgrenzung statt Integration“.

Friedrich und seine Studenten schlagen vor, die Zigtausende von innerstädtischen Flachdächern von Verwaltungs- und Bürobauten der Nachkriegszeit aufzustocken mit Wohnungen. Statisch ist das kein Problem, sozial trüge es zur Belebung toter Gegenden bei, und durch einfache Eingriffe ins Bauverordnungswesen wäre es leicht zu genehmigen. Gleiches gilt für die Idee, Schrebergartensiedlungen zu verdichten. Auch der Berliner Architekt und Stadtdenker Arno Brandlhuber warnt davor, in der Krise nur wieder neue Schlafburgen zu bauen: Es habe keinen Sinn, Fragen nach Standards nur in Bezug auf das Wohnen zu stellen, wenn ein Viertel der Bevölkerung auch von zu Hause aus arbeiten könne. „Wohnen und arbeiten – muss man das doppelt bezahlen, oder kann man das auch zusammenlegen?“ Dagegen steht oft das herrschende europäische Baurecht, das in seinem Kern immer noch von der modernen Funktionstrennung der Stadt in Schlafburgen einerseits und reine Arbeitswelten andererseits geprägt ist. Jetzt wäre der Moment, damit Schluss zu machen.

Eine weitere zentrale Frage ist die nach der Wiederbelebung der zahllosen verlassenen Landstriche, denn man wird die Flüchtlinge nicht allein in Städten und städtischen Ballungsräumen unterbringen können. Viel wurde über den verlassenen Ort Kerpen-Manheim berichtet, der eigentlich bis 2022 dem Braunkohle-Abbau weichen sollte: Jetzt leben dort siebzig Flüchtlinge. Optimisten sehen in der Verteilung der Flüchtlinge auf die leeren Dörfer und Kleinstädte eine Chance: In von Architekten intelligent umgebauten Ortschaften gerade des Ostens könnten sie eine neue Heimat finden und, bei entsprechenden arbeitspolitischen Regelungen, die dort dringend benötigten Läden und Arztpraxen wiedereröffnen; und diese staatlich geförderte Blüte werde dann schon auch die von der ökonomischen Ausblutung des Ostens frustrierte pegidierende Lokalbevölkerung überzeugen.

An diese beste aller denkbaren Welten mag man angesichts der angesengten Container nicht recht glauben. Aber was wäre die Alternative? Der Kern des Architektenberufs ist ja ein Gefühl für das Machbare, verbunden mit einer großen Dosis Optimismus, dem Glauben, dass mit intelligenten Formen etwas zum Besseren gewendet und scheinbar Unmögliches gelöst werden kann. Allein schon deswegen könnte die Politik in diesen Tagen viel lernen von den Architekten – wenn sie denn einmal ein paar Lebenszeichen von sich geben würden.

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