Quelle: FAZ
Kein Flüchtling müsste noch in der Ägäis ertrinken, gäbe es so eine direkte Route von der Türkei nach Deutschland. Ein ernstzunehmender Vorschlag also. Dass niemand ihn sich zu eigen machen wollte, zeigt die ganze Widersprüchlichkeit der Debatte.
von Frank Lübberding
Vielleicht sollte sich die Große Koalition am kommenden Donnerstag nicht mit den umstrittenen Transitzonen für Flüchtlinge beschäftigen. Michael Räber, ein freiwilliger Helfer aus der Schweiz auf der griechischen Insel Lesbos, machte bei Sandra Maischberger einen interessanten Vorschlag, den man im Kanzleramt diskutieren sollte. Die Runde diskutierte über das mögliche Versagen der Großen Koalition angesichts des Flüchtlingsdramas. Auf Lesbos waren gestern nach Räbers Schätzung zwischen 7.000 und 8.000 Flüchtlinge angekommen. Er berichtete aber auch von ertrunkenen Menschen, die jeden Tag an den Stränden der Insel angespült werden. Um das zu verhindern, so sein Vorschlag, müsste man Fähren einsetzen. Sie sollten die Flüchtlinge aus der türkischen Hafenstadt Izmir abholen, um sie nach Athen oder nach Hamburg zu bringen.
Was spricht eigentlich dagegen? Nichts. Es wäre ein Gebot der Humanität gegenüber den Flüchtlingen, die vor den Kriegen in Afghanistan, Syrien und dem Irak fliehen. Sie müssten sich nicht den Schleppern ausliefern, die bisher an der türkischen Ägäisküste die Überfahrt nach Lesbos organisieren. Sie ersparten sich zugleich die dramatische Wanderung über die Balkanroute nach Deutschland, die mittlerweile zu Spannungen ziwschen den Anrainerstaaten führt. Die Kanzlerin sprach in diesem Zusammenhang sogar von einer drohenden Kriegsgefahr. Beim Asylrecht könne es keine Obergrenze geben, so der frühere Bundesminister Norbert Blüm (CDU). Ralf Stegner, der stellvertretende Vorsitzende der SPD, betonte zudem die guten Gründe der Menschen, ihre Heimat zu verlassen. Sie kämen nicht wegen der deutschen Sozialleistungen oder weil die Kanzlerin falsche Signale in die Welt ausgesendet habe. Sie seien auf der Flucht vor den Fassbomben des Damaszener Tyrannen in Syrien. Diese wurden allerdings noch nie an der türkischen Ägäisküste abgeworfen. Bettina Gaus, hochgeschätzte Kollegin der taz, hielt dagegen die Dimension dieser Flüchtlingskrise für übertrieben. Es ginge schließlich um Bürgerkriegsflüchtlinge und nicht darum, den Rest der Welt nach Europa einzuladen.
Keiner will die Fähre haben
Das waren bedenkenswerte Argumente. Doch keiner der drei Gäste unterstützte die Idee des Schweizer Flüchtlingshelfer auf Lesbos. Sie sagten nichts zu diesem Vorschlag, obwohl er das Ertrinken der Flüchtlinge in der Ägäis verhindern würde. Stegner hielt deren Tod zwar für einen humanitären Skandal. Aber das Versprechen, die SPD werde sich im Kanzleramt für Fähren zwischen Izmir und Hamburg einsetzen, kam nicht über seine Lippen. Er will stattdessen die Schlepper bekämpfen und sich in der Flüchtlingskrise für die „Verantwortung der Weltgemeinschaft“ einsetzen. Die Türkei könnte diese Überfahrten unterbinden, sogar ohne die Weltgemeinschaft. Dazu äußerten sich weder Stegner noch Gaus oder Blüm. Sie hatten für solche pragmatischen Lösungen auf Grundlage ihrer eigenen Argumentation keine Zeit. Denn alle drei waren über Richard Sulik empört, Abgeordneter des Europäischen Parlaments aus der Slowakei.
Er hatte es gewagt, einen logischen Zusammenhang zwischen der deutschen Politik der offenen Grenzen und den Toten in der Ägäis herzustellen. Die Flüchtlinge gingen jedes Risiko ein, um das offene Tor nach Europa – es ist Deutschland – zu nutzen. Blüm empfand diese Aussage als „Unverschämtheit“. Frau Gaus sprach von „Demagogie“, sie „verachte das“. Sulik hätte sogar die „Grenzen der Meinungsfreiheit“ überschritten. Letzteres muss man nicht sonderlich ernst nehmen. Es ist lediglich die Meinung von Frau Gaus in den „Grenzen der Meinungsfreiheit“, die das Grundgesetz erlaubt. Sie darf anderen Diskussionsteilnehmern den Mund verbieten. Sulik muss sich schließlich nicht daran halten. Stegner sprach dafür von der Wahrheit, die den Deutschen zuzumuten sei. Diese müssten die Flüchtlinge aufnehmen, weil im Grundgesetz nicht stünde, nur die Menschenwürde der hier Lebenden sei unantastbar. Zudem könnte Deutschland das Problem nicht alleine lösen.
Einreise ja, aber bitte ohne Sogwirkung
Nur von einem sprach er so wenig wie Gaus und Blüm: die Flüchtlinge in Izmir abzuholen und nach Hamburg zu bringen. Es wäre der einzige Weg, um den Tod in der Ägäis zu verhindern, wenigstens solange der Türkei die Kontrolle ihrer Außengrenzen gleichgültig ist. Deren Präsident Recep Tayyip Erdogan wäre sicherlich kooperativ bei der pragmatischen Umsetzung dieser Politik. Er wird es ebenfalls für einen humanitären Skandal halten, wenn Menschen in Sichtweite des türkischen Festlandes ertrinken. Der seit Jahrzehnten ungeklärte Konflikt über den Verlauf der Seegrenzen zwischen den griechischen Inseln und dem türkischen Festland spielt allerdings in Ankara keine Rolle, wenn es um ertrinkende Flüchtlinge geht.
Sind Gaus, Blüm und Stegner für die Toten in der Ägäis verantwortlich, weil sie sich weigern, sie mit einer schlichten Fährverbindung zu retten? Nicht mehr als jeder andere Mensch in diesem Land, der den Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes kennt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“. Allerdings unterscheidet sich ihre Sichtweise in einem Punkt von der des CSU-Innenpolitikers Stephan Mayer. Dieser lehnte gestern Abend diese Idee ausdrücklich ab, weil er die Sogwirkung eines solchen Angebots fürchtete. Dabei wird diese Idee in Berlin durchaus diskutiert, allerdings unter einer Voraussetzung. Es müsste vorher entschieden werden, wer nach Deutschland einreisen darf und wer nicht. Dann ginge es allerdings wieder um die mittlerweile magischen Begriffe der deutschen Flüchtlingspolitik. Dann müsste Deutschland nämlich wie jeder andere Staat auf dieser Welt, Ober- und Belastungsgrenzen zu definieren. Wenn es die aber nicht gibt, wäre eine Fährverbindung von Izmir nach Hamburg kein Problem. Darüber nicht zu reden, ist nichts anderes als das faktische Eingeständnis ihrer Existenz. Ist somit Stegners Argumentation „humanitäres Gefasel“, wie Sulik das charakterisierte? Keineswegs. Dessen Engagement für eine Welt, wo niemand in der Ägäis ertrinken sollte, ist glaubwürdig. Stegner weigert sich bloß, die Konsequenzen zu akzeptieren. Damit stand er aber nicht alleine. Ob es niemand geben würde, der „den wild gewordenen Horden des Islamischen Staates die Waffen wegnimmt“, so der frühere Arbeitsminister der Regierung Kohl. Angesichts solcher Fragen Norbert Blüms streckt selbst ein Fernsehkritiker die Waffen, was aber dem Nahen Osten leider auch nicht helfen wird.
„Ich fürchte, das ist so.“
Immerhin hatte aber Frau Gaus wichtige Anmerkungen zu machen, wenn sie sich nicht gerade mit den „Grenzen der Meinungsfreiheit“ beschäftigte. Sie hielt zwar die Konflikte in der Großen Koalition für „Schaukämpfe“, weigerte sich aber, diese Debatten als bloßen Parteienstreit zu diffamieren. Wo, wenn nicht im Parlament, sollen solche existentiellen Fragen diskutiert werden, so ihr berechtigtes Argument. Außerdem diagnostizierte sie bei allen Parteien die zunehmende Dominanz einer Abwehrpolitik gegenüber den Flüchtlingen. Deshalb werden am Donnerstag im Bundeskanzleramt Horst Seehofer und Sigmar Gabriel nicht über eine Fährverbindung von Izmir nach Hamburg diskutieren. Selbst die Bundeskanzlerin betrachtete das mittlerweile als das falsche Signal an Menschen, die in Deutschland immer noch Zuflucht suchen wollen.
Worüber man aber diskutieren muss, betrifft eine Anmerkung von Stegner. Ob Deutschland in der EU isoliert sei, so die Frage von Moderatorin Maischberger. „Ich fürchte, das ist so“, so seine Antwort. Die deutsche Politik fordert seit Monaten eine „europäische Lösung“, um die eigene Überforderung zu verhindern. Diese soll aber außer von der CSU von niemanden thematisiert werden, weil ansonsten magisch gewordene Begriffe verwendet werden müssten. Die deutsche Politik kann noch nicht einmal einen logischen Zusammenhang zwischen den Toten in der Ägäis und der Weigerung, die Flüchtlinge in Izmir abzuholen, thematisieren, ohne sich moralisch und intellektuell zu überfordern. Sie will die Flüchtlingszahlen begrenzen, aber gleichzeitig an der Idee festhalten, grenzenlos großzügig zu sein.
Insofern war diese Sendung lehrreich. Es wurde deutlich, warum sich der Rest Europas über Deutschlands Weg in die Isolierung wundert. Diese Verwunderung teilen allerdings auch immer mehr Deutsche. Man wäre aber erstaunt, wenn sich die Runde im Kanzleramt darüber noch wundern sollte. Ansonsten könnten sich die teilnehmenden Herren diese Sendung in der Mediathek der ARD ansehen. Man wird sie bestimmt nicht löschen wollen, weil die Erkenntnisse zu schmerzhaft für alle Beteiligten sind.