22. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für Flüchtlinge auf der Balkanroute: Zehntausende wollen nach Deutschland · Kategorien: Balkanroute, Deutschland, Kroatien, Mazedonien, Serbien, Slowenien, Ungarn

Quelle: Spiegel Online

Von Jörg Diehl und Anna Reimann

Auf der Balkanroute herrscht Chaos, in der Ägäis kommen mehr Flüchtlinge an als je zuvor – trotz des nahenden Winters. Fast alle ziehen weiter nach Deutschland.

Die offizielle Prognose steht immer noch bei 800.000. Doch daran glaubt wohl auch in der Bundesregierung niemand mehr. Längst kursieren Zahlen weit jenseits der Millionengrenze, um das Ausmaß der Flüchtlingswanderungen nach Deutschland in diesem Jahr zu beziffern.

Im Bundesinnenministerium wagt man sich derzeit nicht an eine neue amtliche Vorhersage. Es gebe keine verlässlichen Zahlen, heißt es. Das stimmt allerdings nur bedingt. Die Entwicklungen in Griechenland und auf der Westbalkanroute machen deutlich: Auch wenn viele Länder und Kommunen bereits jetzt unter den Belastungen ächzen – kurzfristig wird sich an dieser Situation nichts ändern. Deutschland muss sich auf anhaltend hohe Zuwandererzahlen einstellen.

Denn trotz des nahenden Winters in Europa und der zunehmend unfreundlichen Witterung kommen derzeit mehr Flüchtlinge denn je auf den griechischen Inseln an. 8000 waren es nach Uno-Angaben an diesem Montag. Mitte September – auf dem bisherigen Höhepunkt der Flüchtlingskrise – erreichten nur 2000 bis 3000 Menschen die Ägäis-Inseln.

Von Griechenland ziehen die Menschen – die meisten aus Syrien, dem Irak und Afghanistan – weiter über den Balkan, auf der Route herrscht Chaos. Grenzen werden geschlossen und wieder geöffnet. Nadelöhr ist nun Slowenien geworden, nachdem Ungarn seine Grenzen zu Kroatien geschlossen hat und dort kaum mehr Flüchtlinge ankommen.

  • In Slowenien sind nach Angaben der Regierung binnen 24 Stunden mindestens 12.600 Flüchtlinge über die Grenzen gekommen. Das sind mehr als im September täglich nach Ungarn gelangten, das damals noch Haupttransitland der Flüchtlinge war. Und die allermeisten der Migranten werden wohl über Österreich weiter nach Deutschland ziehen.Für den Mittwoch erwarteten die Behörden in Österreich 11.000 Flüchtlinge aus Slowenien – sie sollten größtenteils weiter an die Grenze zu Deutschland gebracht werden, wie SPIEGEL ONLINE aus Sicherheitskreisen in Wien erfuhr. Zugleich wird davor gewarnt, dass eine „kontrollierte Weiterbeförderung“ der Flüchtlinge von den Grenzübergängen bald unmöglich werden könnte.
  • Die Lage an der Grenze zwischen Österreich und Slowenien ist extrem angespannt – es komme dort immer öfter zu kleineren Aufständen, verlautet aus österreichischen Behörden. Von dort kommt auch die Warnung, dass die Stimmung auch an der Grenze zu Deutschland kippen könnte. Es sei nicht auszuschließen, „dass sich dieses Stimmungsbild wellenartig auch an die österreichisch-deutsche Grenze verlagern wird“, heißt es in einem Lagebild des Wiener Innenressorts.
  • Österreich hat in den ersten zwei Quartalen 2015 im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Asylanträge verzeichnet als Deutschland. In den letzten Wochen aber ist Österreich für Flüchtlinge vor allem ein Transitland. In Bussen werden die Migranten bis kurz vor die deutsche Grenze gebracht.

Laut einem vertraulichen Lagebericht der deutschen Bundespolizei, der SPIEGEL ONLINE vorliegt, wurden in Österreich zwischen dem 5. September und dem 1. Oktober mehr als 195.000 Flüchtlinge registriert. Aber nur knapp 7400 von ihnen haben in Österreich einen Asylantrag gestellt. In Deutschland wurden demnach im selben Zeitraum knapp 274.000 Flüchtlinge erfasst. Doppelregistrierungen sind dabei wegen des großen Andrangs nicht auszuschließen. Rund 40.000 Menschen stellten im September einen Asylerstantrag in Deutschland, knapp 164.000 Menschen meldeten sich als asylsuchend. Zahlen aus den vergangenen Wochen zeigen, dass damit zu rechnen ist, dass die allermeisten Flüchtlinge, die in Deutschland ankommen, auch hier bleiben. In relevanter Größenordnung ziehen Flüchtlinge nur nach Skandinavien weiter.

In den letzten drei Septemberwochen reisten nach Erkenntnissen der Bundespolizei rund 24.000 Flüchtlinge mit dem Zug nach Dänemark oder mit der Fähre über die Ostsee nach Schweden. Dänemark selbst ist dabei für die meisten auch nur Durchgangsstation. In den fünf Wochen zwischen Anfang September und Mitte Oktober kamen etwa 28.800 Flüchtlinge hier an. Aber nur 3500 von ihnen haben um Asyl ersucht. Viele wollen weiter nach Schweden, wo es eine liberale Flüchtlingspolitik gibt – oder nach Finnland und Norwegen.

In Schweden sind Anfang Oktober bis zu 2000 Flüchtlinge pro Tag angekommen, mehr als in den anderen skandinavischen Ländern. Bis zum Jahresende erwartet die Regierung in Stockholm bis zu 190.000 Asylbewerber – eine große Zahl für ein Land mit nur 9,5 Millionen Einwohnern.

Wie geht es weiter? Die EU hat für Sonntag einen Krisengipfel mit den Staats- und Regierungschefs der betroffenen Länder einberufen, um die Lage auf der Balkanroute zu entschärfen. Deutschland plant derweil, Zehntausende abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben. Aber die Gesetze dazu sind noch nicht in Kraft. Genauso wenig funktioniert bislang die Verteilung von ausgewählten Flüchtlingen nach einem Quotensystem innerhalb der EU.

Derweil kommen aus Syrien Nachrichten über eine neue Flüchtlingsbewegung. Die Türkei erwartet vor allem aus dem Raum Aleppo Zehntausende Menschen, nachdem das syrische Regime dort mit russischer Luftunterstützung eine Offensive gestartet hat. Auch sie könnten sich bald weiter auf den Weg nach Europa machen.

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