22. Oktober 2015 · Kommentare deaktiviert für „Balkanroute: Wenn Menschen sich wie Vieh behandelt fühlen“ · Kategorien: Balkanroute, Kroatien, Slowenien

Quelle: Zeit Online [mit Video]

Brennende Zelte, frierende Kinder, die unter freiem Himmel schlafen – und immer mehr Menschen kommen. An der slowenisch-kroatischen Grenze bricht die Kontrolle zusammen.

Von Thomas Roser

Der Geruch von verbranntem Stoff hängt über der abgeriegelten Zeltstadt. Hoch über dem Aufnahmelager von Brežice knattert unablässig ein Polizei-Hubschrauber. Leise summend schwebt eine Kamera-Drohne über dem Gestänge der verbrannten Zelte. Nein, den Brand habe er nicht gesehen, brummt ein einsilbiger Handwerker vor dem nahen Fahrradladen: „Was für ein Chaos. Sollen die doch alle nach Österreich gehen, wenn sie ein besseres Leben wollen.“

Vor dem nahen Wirtshaus Lukez lässt eine gesprächige Rentnerin ihrer Entrüstung freien Lauf. Brežice sei immer eine „friedliche Stadt“ gewesen, doch nun hätten die Flüchtlinge ihr „eigenes Lager angezündet“, schimpft die weißhaarige Slowenin. Verärgert zieht sie an der Leine ihres an einer Plastikflasche schnüffelnden Hundes: „Sehen Sie doch all den Müll – was für eine Schweinerei. Erst sagten sie, es würden hier 300 Leute kommen, und dann waren es mehr als 2.000. Von mir aus können die alle verschwinden – und das möglichst schnell.“

In der Krise unter Druck

Sloweniens scheinbar so geordnete Welt ist aus den Fugen geraten. Seit Ungarn mit der Abriegelung seiner grünen Grenze zu Kroatien am Wochenende den schwarzen Peter des Flüchtlingstransits an den Nachbarn weitergab, herrscht Chaos auf der Balkanroute. Das Feuer in Brežice ist nur ein Symptom.

Kein Land hatte ausreichend Zeit, sich auf die absehbare Rolle als Transitland vorzubereiten. Doch trotz wochenlang ausgetüftelter Notfallpläne wirkt Slowenien mit der unfreiwilligen Gastgeberrolle überfordert: Das Land ist damit gescheitert, die Zahl der täglich nach Österreich geschleusten Flüchtlinge auf 2.500 pro Tag zu begrenzen. Am heutigen Donnerstag hat es einen neuen Rekord gemeldet: Binnen 24 Stunden seien mehr als 12.600 Flüchtlinge über die Grenze gekommen, teilte die slowenische Polizei mit.

„Open – macht auf!“, skandierten die Flüchtlinge, als in Brežice am Mittwoch 27 der 50 Zelte in Flammen aufgingen. „Wir sind schon drei Tage hier, haben weder ausreichend Nahrung, Wasser, Decken noch irgendwelche Informationen erhalten“, sagte ein irakischer Flüchtling namens Said im kroatischen Fernsehen. Slowenische Behördenvertreter dementierten hernach die Vorwürfe resolut. Eine Sprecherin von Amnesty International machte jedoch nicht nur die völlige Überfüllung, sondern auch die mangelhafte Kommunikation und Versorgung für die wachsenden Spannungen in Sloweniens Lagern verantwortlich.

Sloweniens Armee soll in der Krise eingreifen. Panzerfahrzeuge versperren den Eingang zum Flüchtlingslager in Dobova. „Nein, sie müssen hier Abstand halten, gehen Sie auf die andere Straßenseite“, warnt ein Soldat zwei Journalisten, die versuchen, mit den Flüchtlingen hinter dem Zaun ins Gespräch zu kommen. Angespannte Ratlosigkeit herrscht auch bei den Beamten beim nahen Grenzübergang von Rignice. Nein, er wisse nicht, wo Flüchtlinge über die Grenze gelangen, sagt ein mürrischer Grenzer: „Hier nicht – wir sind jedenfalls geschlossen.“

Im Notfall sind immer die anderen schuld. Die Zusammenarbeit mit Österreich sei gut, aber Kroatien halte sich nicht an „operative Absprachen“ und karre die Flüchtlinge in unbegrenzter Zahl an die Grenze, sagt Sloweniens Premier Miro Cerar verärgert: „Von einem EU-Mitglied hätte ich ein anderes Verhalten erwartet.“ Kroatien wirft den Nachbarn angesichts des anhaltend starken Andrangs hingegen völlig illusorische Erwartungen vor. Die Slowenen wollten ständig über etwas beraten, aber dafür bleibe keine Zeit, ätzt Kroatiens Innenminister Ranko Ostojić: „Wir können vielleicht die Hälfte der Leute, die zu uns kommen, eine Zeitlang bei uns halten, aber den Rest müssen wir weiter transportieren.“

Ähnlich rüde reagieren auch Kroatiens Grenzhüter. Die Scheinwerfer der Hubschrauber leuchten in der Dunkelheit nur die Köpfe der an die Grenze gebrachten Flüchtlinge aus. Ansonsten zeigte ihnen niemand den Weg zur Brücke ins nahe Slowenien. Teilweise bis zum Hals im eiskalten Wasser waten die Grenzgänger durch den wegen der heftigen Regenfälle angeschwollen Grenzfluss Sutla. „Sie verhalten sich uns gegenüber als wären wir Vieh“, klagt in Kroatiens Staatsfernsehen HRT ein völlig durchnässter Familienvater aus dem Irak.

Mehr Stop als Go

Kleine Feuer kokeln in der Morgensonne 400 Kilometer weiter östlich im serbischen Beraskovo auf dem hart gefrorenen Morast. Vor zwei Wochen habe er sich mit seinem Familienklan mit zehn Personen aus seiner Heimatstadt Aleppo „nach Europa“ aufgemacht, erzählt nach kaltem Händedruck ein grauhaariger Syrer. Wohin wisse er noch nicht: „Doch wir mussten weg. In Aleppo ist nur noch Krieg – und keine Zukunft.“ Er sei am Vorabend mit seiner Familie auf das Matschfeld bis zu dem abgeriegelten Grenzgatter nach Kroatien gelangt, berichtet der Elektriker: „Ich halte es aus, auf dem kalten Boden zu schlafen. Aber für die Kinder war die Nacht sehr hart. Wissen Sie, wann wir endlich weiter können? Heute, morgen? Was ist los?“

Flüchtlingslast auf die Nachbarn abwälzen

Jeder Transitstaat auf der Balkanroute versucht mit beschleunigtem Abtransport oder mit Grenzsperren und der verzögerten Abfertigung der ungewollten Grenzgänger die Flüchtlingslast auf die Nachbarn abzuwälzen. Die Probleme an der slowenisch-kroatischen Grenze bekommen auch die Flüchtlinge an der serbisch-kroatischen Grenze zu spüren. Schon seit Tagen heißt es auch in Beraskovo mehr Stop als Go. Mal geht das kroatische Grenzgatter auf, dann ist es wieder stundenlang zu: Nur in unregelmäßigen Abständen können die Flüchtlinge den behelmten Polizeikordon passieren. Mehr als 2.000 Flüchtlinge, darunter viele Kinder, hätten die Nacht zumeist unter freiem Himmel verbracht, berichtet Mirjana Milenkovski, Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR): „Das Leiden der Flüchtlinge wird durch die Spannungen zwischen den Staaten an der Balkanroute vergrößert.“

Während Slowenien zur Absicherung der Grenze die Armee eingesetzt hat, wird in Kroatien immer intensiver über die mögliche Einrichtung eines Grenzzauns zu Serbien spekuliert. Wenn Deutschland und Österreich ihre Grenzen schließen sollten, könne auch Kroatien in möglicher Nachfolge von Slowenien kaum um diesen Schritt herum kommen, so Außenministerin Vesna Pusić. Vor dem Winter und einem Domino-Effekt warnt deshalb die UNHCR-Sprecherin Milenkovski: „Was wir hier erlebt haben, lässt uns vor noch schlechterem Wetter fürchten. Es wird regnen und schneien. Und ein Schließen der Grenzen dürfte die Probleme der Menschen nur vermehren.“

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